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Tagesmail vom 18.05.2022

… zum Logos LXX,

warum hat Deutschland keine demokratischen Vorbilder? Diese wichtige Frage stellt Dirk Kurbjuweit im SPIEGEL:

Noch gravierender wäre die Frage: warum müssen die wenigen Vorbilder, die sie haben, perfekt sein, damit ihre Nachkommen sie feiern dürfen? Ausgerechnet die Deutschen, die jahrhundertelang von der Kirche zu Sündern erzogen wurden, wollen in einer Disziplin perfekt sein, um sie diplomatisch anzuerkennen?

„Gehört Schurz ins Bellevue? Gegen ihn spricht, dass es ohne Frage fürchterlich falsch war, den Indigenen eine ihnen fremde Lebensweise aufzwingen zu wollen. Für ihn spricht, dass er aus seiner Sicht zu seiner Zeit nicht unbedingt erkennen konnte, wie falsch das war. Für Schurz spricht auch, dass die gesamte Demokratiegeschichte von Ambivalenz durchzogen ist. Ihre Schönheit liegt selten in der Betrachtung des Moments, sondern im Prozess. Aus Irrtümern und Fehlern wird gelernt, vieles wurde besser und besser, auch für Frauen und Nichtweiße. Und der Prozess ist noch nicht am Ende.“

Seit wann gibt es perfekte Menschen? Seit wann genügt „ein Moment“, um sie perfekt zu machen? Sind wir nicht lernende Wesen, die das Beste, das wir in uns haben, ein Leben lang entfalten müssen, um unsere universale Vernunft zu beweisen – wenn wir überhaupt an dieselbe glauben und unser Leben danach ausrichten?

Richtig erklärt Kurbjuweit:

„Die Demokratie kennt und braucht keine Heldenlieder vom ewigen Gelingen, sie erzählt Geschichten von fehlerhaften Menschen, die hin und wieder den Moment ergreifen und das Richtige tun.“

Doch das entscheidende Element des Lernens übersieht der Autor. Auch Fehler sind keine irreversiblen Schicksalsdefekte. Sie können überwunden werden.

„Zunächst war die Demokratie eine Erfindung ausschließlich für freie Männer. Als die Bürger von Athen im 5. Jahrhundert vor Christus den ersten Anlauf machten, durften weder Frauen noch Sklaven teilhaben.“

Athen war nicht die komplette Geschichte der frühen demokratischen Werte. Der Hellenismus unter Alexander, ja, selbst das Römische Reich gehörten – trotz aller Defekte und Verfallserscheinungen – zum Wirkungskreis des athenischen Aufbruchs.

Im Hellenismus wurden die Jugendsünden Athens getilgt. Nicht nur die Menschen einer Polis sind gleich, sondern die Menschen des ganzen Erdkreises:

„Gerade in der Fremde haben die hellenischen Griechen die Zusammengehörigkeit aller Vernunftwesen empfunden, und so haben sie zum ersten Mal die Menschheitsidee verkündet, die in das Allgemeinbewusstsein des Abendlandes eingehen sollte. Aus dieser hat sich die Lehre vom Naturrecht entwickelt, die von der neuzeitlichen Staatstheorie aus der Antike übernommen und weitergebildet wurde. „Von Natur aus hat jeder Mensch als Bürger der Kosmopolis gewisse Rechte, die ihm unabhängig von den Gesetzen der Einzelstaaten überall auf Erden zustehen.“ Damit war, im Gegensatz zur alten Zeit, die nur Bürgerrechte kannte, der Begriff der Menschenrechte entdeckt, der einen ganz neuen Zug in die hellenistische Ethik hineintrug. Als erstes haben die Stoiker auch das Problem der Willensfreiheit erkannt, die sie als Voraussetzung sittlichen Handelns um jeden Preis zu retten versuchten.“ (Pohlenz, Der hellenische Mensch)

In diesem Sinn haben die athenischen und hellenischen Griechen der Moderne ein unübertreffliches Geschenk gemacht, das nach dem Zweiten Weltkrieg in der UN-Charta zur Realität vieler Völker wurde.

Im Völkerparlament kamen die Nationen zusammen, um ihre Probleme zu besprechen und friedlich zu lösen. Das ging gut bis etwa zur Regierungszeit Reagans. Spätestens bei Dabbelju Bush wendete sich das Blättchen radikal: der Sohn des noch liberal auftretenden Vaters hatte seine Alkoholprobleme mit einer jesuanischen Wiedergeburt beendet. Seine Politik war eine radikale Rückkehr in den Bible Belt, die Region jener Fundamentalisten, die ihre Bibel Wort für Wort als unfehlbar nahmen – und das subjektive Geflunkere der europäischen Theologie verabscheuten.

Dabbeljus politische Grunddogmen entnahm er der Schrift:

„Gott ist nicht neutral.“

„Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns.“

„Ich wäre nicht Gouverneur geworden, glaubte ich nicht an einen göttlichen Plan, der über allen menschlichen Absichten steht.“

„Bush war von der Gewissheit beseelt, mit einer göttlichen Mission betraut zu sein. Bush steht dem messianischen und apokalyptischen Gedankengut der militanten evangelischen Christenheit nahe. Er teilt die Weltanschauung, dass zwischen dem Guten und dem Bösen ein gigantischer Kampf im Gange ist, der seinen Höhepunkt in einer letzten Schlacht erreichen wird. Menschen, die diesem Glauben anhängen, gehen häufig Risiken ein, denn sie meinen, dass alles dem göttlichen Willen unterliegt.“

„Man sollte die Welt auch weiterhin in Schwarz-Weiß betrachten“.

Der Terrorangriff 9/11 war das endgültige Signal für Dabbelju, dass die Endzeit begonnen habe, was bedeutet, dass die „bösen Länder“ vom Antichrist beherrscht werden, der ab jetzt mit aller Macht bekämpft werden muss.

In der Dabbelju-Ära herrschte die politische Vorstellung, dass die „amerikanische Verfassung ihre Legitimität im Grunde aus der Bibel herleite“, wie sie von den Superfrommen des Bible Belt interpretiert wurde.

Die griechischen Urväter der Polis und Kosmopolis waren vergessen. Die Neokonservativen, die Führungsfiguren der Trendwende, taten dasselbe, was die Kirchen in Europa schon lange vorgemacht hatten: sie betätigten sich als Raubritter des griechischen Erbes und verkauften ihre Beute als eigene Erfindung.

Da kennen sie nichts, die Theologen. Was sie – in Anlehnung an den wechselnden Zeitgeist – für richtig halten, deuteten sie hemmungslos in die Schrift hinein. Gottgleich, wie sie sich fühlen, gehen sie davon aus, dass der Schöpfer nicht anders denkt als seine treuesten Geschöpfe. Er hatte nur eine kleine Schwäche: er hatte kein deutsches Gymnasium besucht, um die alten Sprachen so zu beherrschen, dass er seine Allwissenheit perfekt in ihnen hätte formulieren können. Also müssen seine Gläubigen Ihm zu Hilfe kommen und die Schrift von Augenblick zu Augenblick neu interpretieren.

Nebenbei sei erwähnt, dass Jesus in keinem einzigen Gründungsdokument der amerikanischen Verfassung vorkommt. Die Griechen? Kennt niemand in Amerika. Inzwischen auch in Deutschland nicht mehr. Wie sie die Griechen verleugnen, so ihre eigenen Wurzeln, sie verleugnen das Verdienst anderer Völker.

In früheren Zeiten waren sie Fans des klassischen Schönen und Wahren, heute verhöhnen sie alle Wahrheit und Schönheit, besonders aber das Gute.

Sind Demokraten Idealisten? Visionäre oder Utopisten? Insofern sie ein perfektes Ziel anstreben, sind sie Idealisten. Keineswegs aber sind sie Idealisten, weil sie annehmen würden: entweder sind wir ideale Demokraten – oder gar keine.

Das Ziel erreichen ist keine Bedingung demokratischen Strebens, sondern zeigt nur die Richtung ihrer freiwilligen Entwicklung. Der kleinste Schritt auf dem Weg zum Ziel ist besser, als – aus falscher Perfektion – einen Schritt unterlassen, der sie dem Ziel näher bringen könnte.

Merkwürdig, dass ausgerechnet die Deutschen entweder ideal sein sollen – oder nichts. Denn heute befürworten sie die Strategie: immer weiter, immer grenzenloser, immer grandioser. In allen Dingen bevorzugen sie das Mehr und Mehr, nur in demokratischen Dingen hingegen sollten sie das Entweder-Oder vertreten?

Hinter dem Trotz steht die Enttäuschung, nicht geworden zu sein, was sie am liebsten geworden wären: die Besten, Stärksten und Gottgleichsten. Lieber wollen sie gar nichts sein als in der Meute eine graue und unscheinbare Rolle zu spielen.

Demokratien sind Lerngemeinschaften, die eine humane Friedenspolitik peu à peu realisieren wollen. Was wir brauchen, ist die Fähigkeit, zu lernen. Lernen aber ist in Deutschland zum Fremdwort geworden. Unter Lernen verstehen sie unwürdiges Imitieren, was ihren genialen Fähigkeiten nicht entspricht. Da sie Imitieren verabscheuen, müssen sie dazu in den Drillanstalten gezwungen werden.

Verstehen wir allmählich, warum in unseren Schulen nicht gelernt werden kann, sondern nur eine Maschinerie eingeschaltet wird?

Wahres Lernen ist selbstbestimmt und folgt der Intuition jedes Einzelnen. Hier gibt es keine quantitativen Ergebnisse, die man objektiv bewerten könnte. Ein Lern-test ist ein Widerspruch im Beiwort. Von anderen können wir uns anregen lassen, können versuchsweise den verschiedensten Spuren folgen, doch wir müssen uns abschminken, dass es dogmatisch vorgeschriebene Wege geben muss.

Dürfen wir nicht stolz sein auf unseren europäischen Humanismus und Menschenwürde, die wir politisch verwirklichen wollen? Haben andere nicht-demokratische Völker nicht recht, wenn sie uns uralte „weiße“ Arroganz vorwerfen, die wir unser „System“ für das Beste der Welt halten?

Wie in Athen der Kampf um Demokratie als Wettkampf um Wahrheit, Gerechtigkeit und Tugend begann, nicht anders kann es in der Völkergemeinschaft zugehen. Jene Völker, die unter der Heuchelei der rücksichtslosen westlichen Nationen leiden mussten, sind heute zu Recht empört über die noch immer anhaltende Arroganz der westlichen Mächte, die – unter dem Vorwand missionarischer Bekämpfung menschlichen Leids – nichtchristliche Länder mit Gewalt besetzen und wirtschaftlich ausbeuten.

Es gibt keinen edleren Wettkampf als den um Frieden und Wahrheit. Just dies ist dem Westen fremd geworden. Unter dem falschen Vorzeichen moralischer Überlegenheit beutet er schwächere Länder hemmungslos aus. Eben das ist das Kennzeichen der momentanen Globalisierung, die alle Völker zu ihrem jeweiligen Vorteil vernetzen soll, in Wirklichkeit aber nur der Ausbeutung der schwächeren dient.

Wer Vorbild sein will, muss tun, was er sagt. Sein stilles beispielhaftes Handeln wird bei jedem ankommen, der nach Orientierung sucht. Es ist keine Überlegenheit einer Rasse oder einer Kultur, es ist nur der längere Lernweg, der sich als Muster für andere darbieten kann.

Doch heute ist der Westen in der Sackgasse einer multiplen Bigotterie stecken geblieben. Will er sich der Welt als beste menschliche Gemeinschaftsform anbieten, muss er auch die ehrlichste und selbstkritischste werden.

Gerade bei Völkern mit wachem Bewusstsein, die am meisten unter Ungerechtigkeit und Repression leiden , würde das am besten ankommen.

Der Westen muss sich ehrlich machen vor der Welt, das wird seine globale Wirkung nicht verfehlen.

Doch was tut er, wenn Putin einen schrecklichen Krieg anzettelt? Er überschlägt sich in Selbstgerechtigkeit und erklärt den Kreml-Herrscher zum Inbegriff des alleinigen Bösen, neben dem es keine anderen geben kann. Wer hingegen versucht, auch die Schuld des Westens zu rekonstruieren, wird zum Verharmloser der Putinschuld erklärt. Niemand kann Putin seine ungeheure Schuld abnehmen, wenn er vor der eigenen Haustür kehrt.

Man kann Putin keine Völkerrechtsverletzungen vorwerfen, wenn man die eigenen leugnet. Wie viele Länder hat Amerika schon angegriffen, unter dem Vorwand, dessen unmenschlichen inneren Verhältnisse zu beseitigen, in Wirklichkeit aber, um ihre Rohstoffe auszubeuten.

Die linke Regierung in Chile wurde von den USA unter aktiver Beteiligung der Chicagoboys abgesägt, um dem Land die wüstesten neoliberalen Bedingungen aufzuzwingen. Mit dreisten Lügen wurde der Irak überfallen, um an billiges Erdöl zu kommen.

Hören wir das unbestechliche Urteil von Noam Chomsky über die standardisierte Heuchelpolitik der USA seit Jahrzehnten:

„Chomsky erklärt in einer Schrift, die USA hätten die Bedrohung durch einen russischen Angriff jahrelang zum Vorwand genommen, Maßnahmen durchzupeitschen, mit denen sie die Freiheit der eigenen Bevölkerung empfindlich beschnitten, gegen internationales Recht verstießen und insgesamt nur Macht und Wohlstand ihrer Wirtschafts-Klientel mehrten. Wäre dies alles tatsächlich aus Sorge über die sowjetische Bedrohung geschehen, hätten diese Aktivitäten 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer enden müssen. Doch das Gegenteil geschah. Sie legten noch einen drauf und setzten ihren Anspruch, besonders im Nahen Osten, noch militanter durch. Chomsky weist darauf hin, dass die ganze Aggression, die wir derzeit auf der Krim und in der Ukraine erleben, auf diesen stillschweigenden westlichen Expansionismus zurückzuführen ist, der kaum ins öffentliche Bewusstsein dringt. Die USA stufen jedes Land, das mit amerikanischen Interessen kollidiert, als feindlich ein und stürzen, wenn immer möglich, sein Regime.“

Solche makabren Lügen dringen nur deshalb nicht ins öffentliche Bewusstsein, weil auch die Medien nichts davon halten, den machiavellistischen Status quo des Westens ins Wanken zu bringen. Man bleibt lieber unter sich und nährt sich redlich.

Die Empfindungslosigkeit des ach so hochdemokratischen Westens gegen seine Doppelmoral kann nur die Folge einer moralischen Blindheit sein. Auf der einen Seite die hohen Phrasen, auf der anderen die eisenharte Doppelgleisigkeit.

In Deutschland beginnt die „Gegenbewegung gegen die einseitige Moralisierung des Humanitätsideals“ (Korff) bereits bei den Klassikern. An die Stelle einer allesbestimmenden Moral wurde die Schönheit platziert. „An die Stelle eines penetranten sittlichen Idealismus wurde das Schönheitsideal des ästhetischen Idealismus gesetzt.“ (Korff, Geist der Goethezeit)

Während Germanist Korff den Konflikt zwischen „Natur“ und Ethik herunterspielt, spricht Historiker Meinecke unverblümt von der Unvereinbarkeit von machtpolitischem Interesse und Moral – indem er Goethe zitiert:

„Der Handelnde ist immer gewissenlos.“

Im Gegensatz zu den meisten deutschen Amoral-Verharmlosern spricht Meinecke sein strenges Urteil:

„Mit der falschen Idealisierung der Machtpolitik muss auch die falsche Vergötterung des Staates, die seit Hegel, trotz Treitschkes Widerspruch, im deutschen Denken nachwirkt, aufhören.“ (Die Idee der Staatsraison)

Korffs Verharmlosungsmethode hat sich jedoch durchgesetzt. Nach außen brillieren die Deutschen mit weißer Moralweste, unter sich lassen sie die Sau raus. Ihre Politiker bewerten sie nach der Fähigkeit, Interessen durchzusetzen, ohne den kategorischen Imperativ plakativ zu verletzen. Man muss das Gesicht bewahren, wenn man dem anderen den Hals umdreht. Wer am besten mauschelt mit der unschuldigsten Mine, der soll der Allerbeste sein.

Kleines Beispiel. Kevin Kühnert begann seine Laufbahn als unbestechlicher Kritiker. Je steiler seine Karriere verlief, je partei-raisonabler und bräver wurde er. Ja, warum denn nur? War diese deutsche Entwicklung nicht voraussehbar? Nicht für die deutsche Presse, die sich dumm stellt: „Was ist nur los mit Kevin Kühnert?“ (SPIEGEL.de)

Doch jetzt hat das globale Schicksal sein Donnerwort gesprochen und die babylonische Auftürmung aller menschlichen Bosheiten, Hass- und Neidregungen über Mensch und Natur in eine suizidale Kollektivkloake verwandelt.

Am Schluss wird alles offenbar. Nicht die Sonne bringt es an den Tag, sondern das Ende aller Dinge. Das Es der Menschheit glüht auf zum gleißend hellen Ich, identisch mit dem Über-Ich, das alles seziert und erbarmungslos verurteilt.

Deutschland hat gebleichte Christen, verblasste Marxisten, unverfrorene Aufschneider und schamfreie Demuts-SchauspielerInnen. Vor allem hat es zynische Moralhasser und stumme Mitläufer.

Was fehlt? Aufrechte Demokraten, die ihre Meinung jedem ins Gesicht sagen, um das Ruder des Verhängnisses herumreißen.

Fortsetzung folgt.