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… zum Logos LXIX

Tagesmail vom 16.05.2022

… zum Logos LXIX,

der european Solidaritäts contest brachte das erwartbare Ergebnis: germany zero points.

Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.

Was wurde aus dem Wesen, an dem die Welt genesen sollte? Keine Demokratie, die mit anderen Nationen um mitfühlende Verlässlichkeit wetteifert, sondern ein gepanzerter Geldtransporter, der über Stock und Stein brettert, um Beute und Profit nach Hause zu bringen.

No bail out, kein Beistand für Verbündete: das gilt nicht nur für Griechenland, das muss für alle gelten, die am Wegesrand lauern und flehentlich die Hände ausstrecken.

Im Grunde unseres Herzens sind wir Deutsche gutmütig. Wer aber diese Gutmütigkeit ausnützt, um uns auszunehmen und lächerlich zu machen, dem können wir auch ganz anders.

Einmal den Hilfsbedürftigen aus dem Straßengraben retten, ihn aber neunmal vor die Hunde gehen lassen: das ist deutsche Samaritertugend. Einmal vorbildlich, neunmal abscheulich, das gilt der Welt als beispielhaft – wenn es pastoral präsentiert wird.

Längst kennen wir den Unterschied zwischen Kirchensprengel und schnöder Welt. Wir haben es meisterhaft geschafft, unser Heiligstes in Weltterror zu verwandeln. Die unnützen Knechte stosset hinaus in die Finsternis, dort wird sein Heulen und Zähneknirschen.

Was unterscheidet einen hanseatischen Kanzler von seiner pastoralen Vorgängerin?

„Einer langfristigen Strategie wich Merkel bewusst aus. Für sie war das Wesen der Politik, die Herausforderungen des Moments zu bewältigen. Das funktionierte so lange recht gut, wie keine neuen strukturellen Belastungen auftraten. Aber die Welt ist heute voll davon.“ (Collier, Kay, Das Ende der Gier)

Mit anderen Worten: Merkel setzte nur fort, was in früheren Zeiten längst entschieden war. Eine eigene durchdachte, zielstrebige Politik hatte sie nicht; dazu hätte sie „ideologisch“ werden müssen, was sie verabscheute.

Ideologien waren für sie die grundlegenden Gedanken europäischer Denker, die man allesamt überprüfen muss, um die wahren herauszufiltern und die trügerischen zu verwerfen.

Bevor der Mensch handeln kann, muss er denken, um herauszukriegen, was er für richtig hält – das war die Überzeugung der Philosophen. Heutige Politiker hingegen handeln, um ihre Gefolgschaft zu vergrößern.

Grübeln und Streiten war nicht Merkels Sache. Sie bevorzugte die Weisheit ihres Herrn, um die Torheit der Welt von sich abzuschütteln. Bei göttlicher Offenbarung konnte sie nie irre gehen.

Der Welt jenseitige Weisheit zu vermitteln, war kaum möglich, weswegen sie das Schweigen bevorzugte – das von ihrem profanen Nachfolger übernommen wurde. Da dieser aber nicht über das Charisma eines Geistbegabten verfügt, wird seine Stummheit immer mehr zum Schweigen des Toren.

Deutschland hat den europäischen Solidaritätstest nicht bestanden. Ein Sänger wurde zum Repräsentanten eines Volkes gekürt, der – wenn er selbst mit Engelszungen gesungen hätte – nie sein Volk hätte rehabilitieren können.

Tatsache ist gleichwohl, dass die Deutschen über keine künstlerische Potenz mehr verfügen. Ihre Vergangenheitsnegation löschte nicht nur ihre bösen Taten, sondern machte Remedur mit ihrer ganzen Vergangenheit. Worauf sie gestern stolz waren, bietet keinerlei Anreize mehr für heute. Sie bewundern ihre Vergangenheit, um sie unter Lorbeerkränzen zu begraben.

Dasselbe gilt für ihre Dichter und Denker – mit denen sie nichts mehr verbindet, aus denen sie keinen Honig mehr saugen. Ihre Musik, die sie heute verehren, ist fast vollständig aus England und Amerika importiert. Ihre Alltagssprache klingt immer amerikanischer. Ihre Filme und TV-Serien, die sie täglich inhalieren, kommen durchweg über den Teich. Ihr Genies und Messiasse entstammen dem heiligen Tal Silicon Valley. Ihr gesamtes Gehabe ist ohne New York und Hollywood, easy riders, Hippies, Sciencefiction und digitale Vernetzung unverständlich.

Deutschland ist kein Land mehr für seine frühere Kultur: keine Denker mehr, nur imitierende Medien, keine lebendige Kunst, keine wesentlichen Debatten. Da könnte man sagen: lass fahren dahin.

Doch wesentlicher ist der Verfall ihrer Demokratie, der Niedergang des folgerichtigen Denkens, der Untergang der sozialen Teilnahme und mitmenschlichen Fürsorglichkeit. Nachdem sie einst nichts anderes sein wollten als ein einig Volk von Brüdern, wurden sie heute zu einer hemmungslosen Gier- und Machtgesellschaft, in der die Schwachen einer ständigen Demütigung unterworfen sind.

Die Gesetze des Kapitalismus haben sie nie studiert, den Neoliberalismus aus Sucht nach planetarischer Größe blind importiert – und das durch eine sogenannte Arbeiterpartei, der nie etwas Besseres einfiel, als ihre Proletenwurzeln im Rhein zu versenken, großkotzige Sprüche zu klopfen, Wirtschaft als Nichtpolitik zu verkaufen und sich den Despoten der Welt zu verkaufen. Weder kennen sie ihre Vergangenheit, noch wissen sie, wohin sie in der Zukunft wollen.

Die Christenparteien haben sich den Lügenkünsten ihrer Kirchen unterworfen, die ihre NS-Leidenschaft ins Gegenteil verdreht haben, einen aufklärungsfeindlichen und judenhassenden Reformator als Urheber der europäischen Gedankenfreiheit feiern, die Epoche der Aufklärung ignorieren und einen Philosophen wie Nietzsche rühmen, der Gewalt als Elixier des Übermenschen rühmt.

Strenge Logik haben sie abgeschafft zugunsten einer göttlichen Dialektik, die alles als Weltgeist von Oben regelt. Eine Arbeiterbewegung, die die asozialen Gesetze einer Ausbeutergesellschaft aus eigener Kraft abschaffen könnte, wurde im Namen einer revolutionären Botschaft, die nichts weniger als revolutionär war, zur Mitläuferpartei dieses Kapitalismus degradiert.

Marx, Gegner der Heilslehre, erfand eine materielle Heilslehre, die den Kapitalismus bewunderte und ihm die vollständige Beherrschung der Natur prophezeite – bis er sich selbst zu Grabe tragen würde. Marx und Engels waren Verächter der wahrhaft Schwachen, die sie als Lumpenproletariat auf den Schutt der Geschichte warfen. Außereuropäische Völker ohne Fortschritt und Naturzerstörung wurden von ihnen als Untermenschen verachtet.

Heute wissen Parteien nicht, woher sie kommen und wohin sie wollen. Weshalb sie umanand torkeln, ohne Fähigkeiten, ihren Werdegang zu erforschen und sich eine neue Basis zu erarbeiten. Sie sind ja keine biografielosen Systeme oder mechanischen Maschinen: ohne anamnestische Selbstbesinnung kein vitales Selbstbewusstsein. Wer seine Wurzeln nicht kennt, weiß nicht, wohin er wachsen kann.

Noch am ehesten besitzen die Grünen einen harten Kern: um die Welt durch ökologische Krisenbewältigung zu befreien. Vermutlich der Grund, warum sie heute auf der Erfolgsspur sind. Leider haben sie noch immer keine einleuchtende Naturphilosophie, weil sie alle Naturreligionen der Welt und die Philosophien der Chinesen, Inder und Griechen ignorieren.

Stattdessen sind sie wieder den Popen auf den Leim gegangen mit der antibiblischen Formel: die Schöpfung bewahren. Dass das Endziel der Heilsgeschichte die göttliche Vernichtung der Natur ist, haben sie noch nie zur Kenntnis genommen.

Gott selbst denkt nicht daran, seine „Schöpfung“ zu bewahren. Sein Werk hält er für so schlecht, dass er es demnächst – niemand darf wissen, wann – in toto vernichten wird.

Christen verfügen über keine einleuchtende Politik, ihre Glaubenslehre ist politisch unverwertbar. Bleibt ihnen nur die Bewahrung der Macht, die sie als Gehorsam gegen Gott aufplustern. Aus Verlegenheit nennen sie ihre Politik konservativ – indem sie hemmungsloses Wirtschaftswachstum propagieren, das die Natur zur Strecke bringt. Heuchelnde Widersprüche kennt die CDU nicht. Ihre Bocksprünge sind den ständig wechselnden Augenblicksimperativen ihres Gottes zu verdanken. Jeder Tag ist ein neuer Tag, das Gestrige ist vergangen.

Marx kannte keine Natur, die der arbeitende Mensch zu bewahren hätte. Im Gegenteil. Natur ist etwas, was der Herrschaft des Menschen weichen muss. Am Ende der Geschichte wird homo laborans als Triumphator des Universums herrschen.

Von daher die Unklarheiten der SPD und der Linken gegenüber den Forderungen der Naturbewahrung. Gewerkschaften kannten lange Zeit nur Arbeitsplätze, die sie gegen die lästigen Forderungen der Grünen verteidigen mussten.

Die Liberalen haben die Solidarität des klassischen Liberalismus verleugnet und sind dem Neoliberalismus komplett auf den Leim gegangen. Hayek kennt weder eine zu bewahrende Natur noch die mindeste Verpflichtung jedes Demokraten zur Erhaltung der Gesellschaft.

Deutschland verleugnet seine Wurzeln, die es kritisch in gute und schlechte teilen müsste, um die guten fortzusetzen und die schlechten zu verwerfen. Indem es seine ganze Vergangenheit ad acta legt, bleibt nichts mehr übrig, woran es andocken könnte oder sinnvoll weiter entwickeln könnte.

Über die menschenfeindlichen Auswüchse des Gier-Kapitalismus wird überhaupt nicht gesprochen.

„Im Moment steuert die Menschheit praktisch ungebremst auf zwei globale Katastrophen gleichzeitig zu, genauer: Wir stecken schon mittendrin. Gemeint sind natürlich Klimakrise und Artensterben. Wir könnten beide, vor allem aber die Klimakrise, noch deutlich abmildern, wenn wir endlich konzertiert und entschlossen handeln würden. Unglücklicherweise gibt es auf diesem Planeten starke Kräfte selbstzerstörerischen Gier-Wahnsinns, notdürftig verkleidet als »Rationalität des Marktes«. Der »Guardian« lieferte dafür diese Woche ein besonders plastisches Beispiel: Eine aufwendige Investigativrecherche ergab, »dass [Öl- und Gaskonzerne] in den nächsten etwa sieben Jahren vermutlich weitere Projekte beginnen werden, die am Ende 192 Milliarden Barrel Öl abwerfen werden, das Äquivalent eines Jahrzehnts der heutigen Emissionen Chinas«. Wir müssen aber aufhören mit fossilen Brennstoffen, nicht noch mehr suchen. Konzerne aus den USA, Europa, Russland, den arabischen Autokratien und Turkmenistan tragen mit dazu bei, den Planeten zu ruinieren. Die Menschen, die solche Firmen leiten, gehören natürlich zu den Reichen dieser Welt, noch mehr die Menschen, die in großem Stil mit ihren Aktien handeln, und die Banker, die beiden Kredite geben. Ebenso wie Politiker wie Donald Trump oder der abtrünnige US-Demokrat Joe Manchin, die jede Gesetzgebung zu verhindern wissen, die uns auf einen anderen, nicht suizidalen Kurs bringen könnte. Und eben Leute wie Peter Thiel, die den Trumps dieser Welt die Tür aufhalten, weil sie verlässlich Politik für sie selbst und für die anderen Reichen machen. Es ist ein Kartell der Untergangsgewinnler. Die Vorstellung, dass man sich vor Hunderten Millionen Klimaflüchtlingen in einer Festung auf Neuseeland oder, noch abwegiger, in den österreichischen Alpen wird verstecken können, ist fast schon rührend absurd. Die Vorstellung, dass man eine globale Katastrophe nicht am besten verhindert, sondern eine Position anstrebt, in der sie einen nicht so hart trifft wie die anderen, ist so egozentrisch wie dämlich. Aber auch eine absolut folgerichtige, apokalyptische Fortschreibung neoliberaler Ideologie. Ich, ich, ich, bis das Licht ausgeht.“ (SPIEGEL.de)

Wie viele Politiker sind informiert über die suizidalen Ungeheuerlichkeiten der Superreichen? Sollte Stöcker Recht haben, wussten alle Parteien und Regierenden Bescheid über die global-kriminellen Taten der Masters of Universe.

Noch heute müsste ihnen das Handwerk gelegt werden.

Noch heute müssten sie vor Gericht gestellt werden.

Sollen wir etwa unseren Kindern erzählen, ihre Zukunft sei wegen unserer Verbrechen an der Natur gefährdet? Alle Verantwortlichen hätten davon gewusst? Alle hätten geschwiegen, als wäre es Gotteslästerung, die Schuldigen bei Namen zu nennen und vor den Kadi zu ziehen?

Sollten das etwa die Gründe sein, warum führende PolitikerInnen nicht mehr reden können und in die Stummheit flüchten? Hat es ihnen die Sprache verschlagen?

Sollte Russell Brand wirklich Recht haben, wenn er schreibt:

„Wir sind uns alle bewusst, dass wir nun vor den unheilvollsten Entscheidungen in der Geschichte der Menschheit stehen. Es gibt viele Probleme, die angegangen werden müssten, aber zwei haben überwältigende Bedeutung: Umweltzerstörung und Atomkrieg. Zum ersten Mal in der Geschichte stehen wir vor der Möglichkeit, sämtliche Aussichten auf eine menschenwürdige Existenz zu zerstören – und das in naher Zukunft. Weshalb wir uns aufrichtig die Frage stellen müssen, wie politische Entscheidungen getroffen werden und was wir tun können, um sie zu ändern, bevor es zu spät ist.“ („Revolution“, Anleitung für eine neue Weltordnung)

Der ultimative survival contest steht uns unmittelbar bevor. Ja, wir sind schon mitten drin. Jeden Tag, in jedem Augenblick, bei jedem Atemzug könnte es geschehen: das Unausdenkbare. Sollten wir den Test nicht bestehen, wird der homo sapiens seinen Abschied nehmen.

Macht‘s gut, Schwestern und Brüder, schön, euch kennengelernt zu haben.

Fortsetzung folgt.