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Wrack

Hello, Freunde des Wracks,

oder eines willenlos herumdümpelnden Gegenstands. So die Definition des Wracks.

Das Wrack ist das Ich-Ideal oder die nationale Utopie der Deutschen. Manche sprechen von Dystopie, einer selbstzerstörerischen Zielvorstellung, im Gegensatz zur Utopie, die paradiesisch, aber jenseits aller menschlichen Möglichkeiten sein soll.

Das Scheiternde und Misslingende, Kaputte und Morbide, Verwesende und Dahinsiechende, das sich selbst Zertrümmern und Vernichten: das ist deutsche Freiheit. Hier atmet die von Moral geknechtete germanische Seele auf.

Moral ist Zwang und wider die Natur. Natur ist wild, ungebändigt und amoralisch. Als die Stürmer und Dränger sich von der Moral ihrer Kanzelprediger und(!) Aufklärer – die sie in eine einzige autoritäre Schublade steckten – losrissen und sich entschlossen, zur ungebändigten Natur zurückzukehren, entschieden sie sich für – die amoralische Moral der christlichen Religion, für die Antinomie.

(Anti-nomie = wider das Gesetz; der Soziologe Durkheim übersetzte den theologischen Begriff ins Gesellschaftliche und sprach von Anomie: ohne Gesetz.)

Wenn du dich von Gott losreißt, endest du in den Fängen – Gottes. Du kannst tun und machen, was du willst: du bist Gottes. Nihil contra deum, nisi deus ipse, niemand kann gegen Gott antreten, außer er selbst. Fugendicht sind wir von Gottes starken Armen eingeschnürt, Flucht und Entkommen ausgeschlossen. Stell dir eine unsichtbare gigantische Krake vor, deren kolossale Arme die Weltkugel umschließen und nach Belieben zerquetschen könnten, dann ahnst du die Allgewalt eines

Gottes, dem zu entrinnen nur Narren hoffen können.

„Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen. Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?  Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken! so muß die Nacht auch Licht um mich sein. Denn auch Finsternis ist nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht“.

Die Flucht der Deutschen vor Gott endete regelmäßig bei Gott. Die erste Fluchtbewegung begann, als die schrecklichen Schäden des 30-jährigen Krieges leidlich behoben, bei den westlichen Nachbarn der Deutschen die Epoche des Lichts begonnen hatte und die ersten Lichtstrahlen ins erwachende Germanien gedrungen waren. Spinozas Pantheismus löste – bei den Intellektuellen – den rachsüchtigen und übernatürlichen Jahwe ab.

Der Pantheismus wurde zum Deismus. Gott, seiner Transzendenz enthoben, wurde immer unpersönlicher, berechenbarer, natürlicher und rationaler, kurz: unbiblischer. Feuerbach schließlich verwandelte den Schöpfer der Menschen in das Geschöpf der Menschen.

Und dennoch können wir nicht von religionsloser Verweltlichung sprechen. Die Weltprägung durch das Credo hatte sich längst von gestammelten und heruntergeleierten Bekenntnissen gelöst und in weltliche Strukturen verwandelt.

Bereits seit dem hohen Mittelalter hatte die neue, aus dem Süden ins neblige und düstere Europa importierte Religion begonnen, sich in technische, wissenschaftliche und politische Strukturen zu konkretisieren. Das Wort ward Fleisch, der Geist Materie. (Roger Bacon erfand phantastische Waffen, um die heidnischen Mongolen zu besiegen und die Weltherrschaft anzutreten.)

Nicht länger musste geglaubt werden, dass Gläubige die Berge versetzen können: die Berge wurden versetzt. Nicht länger blieb es eine folgenlose Forderung, sich die Welt untertan zu machen: die Welt wurde untertan gemacht. Kolumbus wollte nicht schnödes Gold finden bei seiner Fahrt nach Indien, er wollte das verlorene Paradies der Völker entdecken, in dem Milch und Honig fließt.

Warum nennen die Amerikaner ihren neucalvinistischen Kontinent Gottes eigenes Land? Weil sie – als die rechtmäßigen Kinder Gottes – das wahre Kanaan glaubten entdeckt zu haben. Warum fühlen sie sich bis heute als unbestrittene Führer der Welt? Weil sie das erwählte Volk sind, dem sich alle anderen beugen müssen.

Da das russische Reich eine mehr als 1000-jährige Christianisierung kennt, hat sich auch dort das Sendungsbewusstsein entwickelt, der kommende Welterlöser werde aus den Tiefen der sibirischen Tundra kommen. Putins philosophische Ratgeber sind erfüllt von Erlösungsphantasien durch das heilige Moskau. Ihre Hauptstadt ernannten die Russen, nach der Zwischenstation Byzanz, zum dritten und eigentlichen Rom.

Der neu beginnende Kalte Krieg zwischen Ost und West ist die Wiederholung der europäischen Kreuzzüge, des Kampfes um das Goldene Jerusalem. Wer die Stadt Gottes erobert hat, dem wird die ganze Welt zu Füßen liegen. Nachdem zuerst das vatikanische Rom, hierauf Madrid, London, Paris und zuletzt Berlin ihre eschatologische Hybris, das neue Jerusalem zu sein, aufgeben mussten, sind nur Washington – genauer New York – und Moskau als Rivalen um die Goldene Stadt auf dem Berge übrig geblieben.

Typisch für die ringsum erblindeten Deutschen, dass sie ihr Land für ein christlich-jüdisches halten, doch Religion soll mit Politik und weltlichen Interessen nichts zu tun haben. Noch immer trennen sie – nach Kirchenvater Augustin – die unsichtbare Kirche, in der sie selbst leben, von der sichtbaren Welt, die bis zur Wiederkunft des Herrn vom Teufel besessen bleibt. Politik ist für Deutsche nicht nur schmutzig, sondern unrettbar böse. Die Deutschen fühlen sich aufgeklärt und kirchenkritisch, wenn sie politische Interessen als weltlich-böse definieren.

Kirchenkritisch aber ist nicht christentumskritisch. Im Gegenteil. Wer die Kirchen kritisiert, hält sich zumeist für den besseren Gläubigen, der äußere Rituale wie Kirchgang und Bibellektüre nicht mehr benötigt, um seine „urchristlichen Qualitäten“ zu beweisen.

Politik und Religion sind für Deutsche inkompatibel, weshalb ihre C-Politiker sorgfältig nur von christlicher Gesinnung, nie von christlicher Politik reden. Gesinnung ist unsichtbar und unwiderlegbar. Gesinnung heiligt jede Politik, selbst brutalste Gewaltmaßnahmen gegen Ketzer und Heiden werden im Glauben zu Liebestaten. Was im Glauben geschieht, ist Werk Gottes, was nicht, ist Sünde.

Wenn der Papst das Schlagen von Kindern erlaubt – solange die „Würde der Kinder geachtet wird“ – sagt er nichts anderes als: wer seine Kinder liebt, züchtigt sie. Der Glaube der Schläger und Züchtiger verwandelt ihr gesamtes weltliches Tun in Agape. Liebe – und tu, was du willst. Vom Züchtigen der Kinder zum Züchtigen der Ungläubigen mit Feuer und Schwert ist nur ein Quantensprung – wenn nur die Würde der Gepfählten und Gehäuteten erhalten bleibt. (Birger Menke in SPIEGEL Online)

Schleiermacher nannte Religion einen Kampf gegen die Moral. Ein Mensch, vom heiligen Geist erfüllt, ist keinem Gesetz untertan. Er steht über allen moralischen Geboten, auch wenn sie von Gott stammen. Gottes Gebote gelten nur für Ungläubige, um deren autonomen Stolz zu brechen und die Verstockten in den Staub zu zwingen. Wer von Geist Gottes erfüllt ist, kann nicht mehr sündigen (posse non peccare). Wer nicht erfüllt ist, der kann nicht mehr – nicht sündigen: er muss sündigen und sei er noch so moralisch (non posse non peccare).

Sokrates und die hochmoralischen Griechen hatten goldene Laster. Streng genommen waren sie sündiger als ordinäre Sünder, weil sie sich in irdischer Verblendung für moralisch tauglich hielten und auf Erlösung verzichten konnten.

Schleiermacher war nicht der erste Theologe, der die Amoral der christlichen Lehre betonte. Luthers Rechtfertigungslehre war nichts als eine Absage an die Moral. Der Christ ist ein freier Herr über alle Moral und keiner schnöden Ethik untertan. In paulinischer Sprache ist Moral die Summe aller menschlichen Taten und Werke. „So halten wir nun dafür, dass der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt werde ohne Werke des Gesetzes.“ (Röm. 3, 28)

Dieser antinomische Satz war der Kern der Reformation. Mit diesem Satz hatte Paulus sich von Griechen und Juden abgesetzt und deren moralische Pflichten zum Teufelswerk erklärt. Griechen hielten sich in ihrer Hybris für moralisch autonom, Juden glaubten, sie könnten die vielen Gesetze Jahwes (über 600 täglich) sehr wohl erfüllen, um sich die Belohnungen Gottes zu verdienen.

Bei Paulus kann der sündige Mensch nicht moralisch sein, erst wenn er sich vor dem Erlöser demütigt, wird er zum gesinnungsmäßig-fehlerlosen Moralisten. Im Glauben ist alles Liebe, im Nichtglauben Sünde. Mit dieser gläubigen Übermoral hatte sich Paulus über die Moral der Heiden wie der Juden erhoben.

Wenn es nach dem SPD-Justizminister Maas – nomen est non omen – gehen wird, befindet sich Deutschland auf dem Weg in die moralische Perfektion. Der asketische Politiker will nicht länger auf vollendete Untaten warten, er will Gesinnungen unter Strafe stellen: wer eine Straftat plant oder etwas Böses im Sinn hat, wird von der Gesinnungspolizei aus dem Verkehr gezogen. Wer ein Weib anschaut, ihrer zu begehren, ein Flugzeug besteigt, um sich zum Terroristen ausbilden zu lassen – der ist fällig für den Verfassungsschutz.

Kleiner Tipp für Maas: da Google und NSA immer besser werden im Enträtseln des verborgenen Inneren und der geheimen Gesinnungen des Menschen, würde sich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit des Ministers mit den „amerikanischen Augen Gottes“ sehr empfehlen. Danichfür, Heiko!

Juden müssen strenge Moralbefolger sein, um sich das Wohlwollen ihres Gottes zu verdienen. Bei Paulus beginnt die gesinnungsperfekte Amoralität der christlichen Welteroberer. Die Antinomie wird zum geheimen Zentrum des Erlösungsglaubens. Geheim, weil die gläubigen Einfaltspinsel sich hübsch gehorsam verhalten sollen. Wüssten sie, dass sie keine Werke des Glaubens nötig hätten, um selig zu werden, könnten sie übermütig werden und den Obrigkeiten lästig fallen.

Die weltlichen Machthaber würden den Klerus in die Wüste schicken, wenn er den Pöbel nicht länger zügeln könnte. Die Popen wissen, dass sie ihre räudigen Schafe unter Kontrolle halten müssen, um ihre Unersetzlichkeit allen Regimes – von Stalin über Putin, Orban bis zur Berliner Magd Gottes – ans Herz zu legen. Kirchen und Religion sind die nützlichsten Büttel der Obrigkeiten und lassen sich ihr Collie-Amt teuer bezahlen.

Adel & Klerus, heute Milliardäre & Klerus, sind die idealen Wächter und Überwacher der unberechenbaren Meuten. Der Umsturz des Kapitalismus ohne Sturz der gesinnungs-schnüffelnden Wächter des Herrn wäre aussichtslos. Der Sturz bestünde in einer radikal laizistischen Entmachtung und einer vollständigen Privatisierung der Seelenführer. Da apolitische Privatiers in Athen Idioten genannt wurden, müsste man von einer konsequenten Idiotisierung der Erlöser sprechen.

Man muss kein bewusster Christ sein, um dennoch, wenn auch widerwillig, in den Spuren Jesu zu wandeln. Bewusstsein ist reine Theorie. Wenn aber die Wirklichkeit selbst christlich geworden ist, haben Gottlose keine Chancen mehr, der Falle des Religiösen im täglichen Leben zu entkommen. Wenn die Naturfeindschaft der Moderne die christliche Vorwegnahme der Apokalypse ist – das ist sie –, kann der entschiedenste Religionskritiker nicht ohne „Sünde“ leben: der weltlichen Versündigung an der Natur.

In dieser Hinsicht gilt tatsächlich: ökologisch sind wir allemal Sünder und ermangeln des Ruhmes, in Einklang mit der Natur zu leben. Erst mit dem Ende der Religion wäre das Ende der ökologischen Verwüstungen denkbar.

Die Geschichte des westlichen Christentums ist die Geschichte seiner zunehmend politischen und technischen Antinomie. Streng genommen können Christen keine Heuchler sein, denn ihre Antinomie verpflichtet sie zu nichts Eindeutigem. Doppelmoral oder voluntaristische Willkürmoral erlaubt ihnen alles, was ihnen gerade gefällt. Nichts wird ausgeschlossen, alles ist erlaubt.

Anything goes, die Fanfare Paul Feyerabends – eines abtrünnigen Popperschülers – entstammt dem Geiste der heiligen Amoral. Das postmoderne Verbot der moralischen Wahrheit ist eine Säkularisierung der christlichen Lizenz zu allem und nichts. Sie bezeichnen als Pluralität, was nichts als feiges Wegducken ist. Edelschreiber sagen selten, ob sie etwas für richtig oder falsch halten. Über solche Simplizitäten sind sie erhaben. Blasiert fragen sie: ist es neu – oder hat es die Unverschämtheit, uns mit uralter Moral zu langweilen?

Seit der Romantik haben die Deutschen sich zu praktizierenden Antinomern entwickelt. Was bedeutet: privat sind sie pedantische Spießer mit der Moralrute, außerhalb ihrer Türschwelle aber, in weiten Teilen der Politik (besonders in der Außenpolitik), des Denkens und Dichtens, der Kunst und Literatur, sind sie anarchische Freigeister. Nichts bewundern sie mehr als das Antinomische, wenn sie ins Theater gehen, einen Film betrachten oder ein Buch lesen.

Sie fühlen sich frei, wenn im Bereich der Imagination alles erlaubt und nichts verboten ist. Vergewaltigung, Mord und Totschlag, Foltern und Versklaven: das wäre noch das Mindeste, was der antinomische Feinschmecker erwarten kann.

Wen wundert es, dass das Böse der Imagination durch mentale Gewöhnung dem Alltag der Höllenträumer immer näher rückte und diesen über Nacht selbst zur Hölle machte. Irgendwann begnügt sich das Böse nicht mehr mit frei flottierender Projektion und will – blutige Realität werden.

Der Übergang vom Projektions- zum Realitätsprinzip des Verruchten geschah im Dritten Reich. In den Briefen der Völkerverbrecher an ihre Lieben kann man die allmähliche, zuerst unsichere, dann immer gnadenloser werdende Praxis des Bösen verfolgen. Welch eine Bestätigung ihrer extravaganten Herrenrasse, trotz aller exekutierten Gräuel – moralisch und anständig geblieben zu sein. Die Antinomie, der Reiz des Verbotenen, beschränkte sich auf das Gebiet des Feindlichen und Bedrohlichen, der gehassten Berührung mit den Untermenschen. Das Privatleben blieb geprägt von familiärer Liebe, von Verbundenheit mit Heimat und Scholle und von kameradschaftlicher Treue. Die Anständigsten der Welt verübten die schrecklichsten Verbrechen der Welt.

Die Nachkriegsdemokratie machte Moral zur politischen Pflicht. Das Private blieb zwar rigoristischer, doch die öffentliche Moral durfte nicht antinomisch entgrenzen. Je länger es sich inzwischen mit dieser moralischen Demokratie hinzieht, umso langweiliger und banaler wird sie mit ihrem moralischen Pflichtgefasel. Die deutsche Seele will zunehmend amüsiert werden mit Skandalen und Kriegen, Verruchtheiten der Berühmten, mit herrlich dreister Heuchelei und exquisiter Doppelmoral.

Das Revier der Kunst muss zur unbefleckten Bühne des Bösen werden. Die ARD zeigte gestern abend den Film „Begierde – Mord im Zeichen des Zen“ und die SZ-Kritikerin – und fast alle ihre KollegInnen – kommt nicht mehr aus dem Schwärmen heraus. Die Hauptkommissarin ist ein herrlich psychisches Wrack:

„Louise Boni, Hauptkommissarin bei der Kripo Aachen ist das, was die Kollegen ihr auf unerhört rüde Weise vorhalten: Alkoholikerin. Keine Zu-tief-ins-Rotweinglas-Schauerin in gutbürgerlicher Rahmung wie Hannelore Hoger als Bella Block. Sondern richtig. Sie säuft. Sie raucht. Sie stinkt (sagen die Kollegen). Unterwegs bedient sie sich aus einem Flachmann. Das war im deutschen Fernsehen bisher Männern vorbehalten. Die Frau ist fertig. Labil. Sie ist krank (sagen die Kollegen). Man erfährt nebenbei, dass ihr Mann sie hat sitzen lassen, dass ihr Bruder bei einem Unfall starb, dass sie bei einem Polizeieinsatz jemanden getötet hat. Lauter Katastrophen, die Spuren in ihrer Seele, aber auch in ihrem Gesicht hinterlassen haben. Louise ist ein psychisches Wrack. Und die grandiose Melika Foroutan spielt das mit jeder Faser ihres zerbrechlichen Körpers, erzählt es mit ihrem tiefen, schwarz umschatteten Blick aus kajalumrandeten Augen. „Ich stehe vor einem Abgrund“, sagt sie ihrem Vater, als der nach zehnjähriger Absenz plötzlich auftaucht.“ (Christine Dössel in Süddeutsche.de)

Die deutsche Bewunderung für den zerrütteten, apolitischen, unmoralischen, vernunft- und aufklärungsfeindlichen Schriftsteller Houellebecq gehorcht denselben Gesetzen der vorbildlichen Antinomie, die von den Romantikern als Hass gegen die amoralische Moral, als Sucht nach natürlich-genialer Kraftmeierei beschrieben wird.

Und noch einmal: Moral ist – unmoralisch. Sie ist das Unmoralischste, das sich Schwächlinge und Versager ausdenken konnten, um Übermenschen zu kastrieren. Was ist Demokratie anderes als die moralische Despotie von Nieten und Taugenichtsen über kraftstrotzende Herrenmenschen?

Die Attraktion des Bösen rückt allmählich näher. Sie beschränkt sich nicht mehr auf die Bewunderung des Grauenhaften in der Literatur, sondern schließt schon wieder reale Verbrechen ein, die „fern in der Türkei, wo die Völker aufeinander schlagen“, stattfinden. Die Rede ist vom Pop-Jihad, der Faszination des Schrecklichen, das im Internet aus den Schlachtfeldern des ISIS beschwingt in die ganze Welt überschwappt.

„Und weil solche Inszenierungen Jugendlichen auf der ganzen Welt das Gehirn waschen, muss es mit Pop und seinem empirisch nicht näher bestimmten Wesen zu tun haben, das die Attraktivität solcher Gewaltdarstellungen erklärt. «Syrien als letzter Kick, das härteste Pop-Ding», schreibt Moritz von Uslar im Unteroffizierston in einer Titelstory im Feuilleton der Zeit. Er bezeichnet «Krieg als cooles und romantisches Pop-Abenteuer.»“

Die TAZ gehört zu den Wenigen, die noch Widerstand gegen die Verherrlichung des Grausamen als unterhaltsame Popkultur leistet:

„Wo sind eigentlich die Poptheoretiker, wenn man sie braucht, um diesem Bindestrich-Bullshit zu widersprechen?“ (Julian Weber in der TAZ)

Ein Patient auf der Couch befindet sich in der Rolle eines Künstlers, der seine amoralischen Triebregungen tabulos wahrnehmen muss. Nur, was mir bewusst ist, kann ich dem rationalen Ich unterstellen, um meine unerwünschten und asozialen Bedürfnisse zu kanalisieren. Die freie Assoziation muss der Bewertung meiner frei gewählten Moral zugeführt werden.

Typisch deutsch, eine unzweideutige Moral als System der Unfreiheit zu betrachten. Dass moralisches Handeln meine Freiheit erst begründet, weil ich die Kraft aufbringe, dem Hass auf andere zu entkommen, ist Deutschen fast nicht zu vermitteln. Goethes bester Satz: Das Gesetz nur kann uns Freiheit geben, ist bei seinen Landsleuten verschollen.

Fichte, Philosoph der Romantiker, begründete die Moral der Amoral oder Amoral der Moral mit seinem gottebenbildlichen Ich, das – wie sein transzendentes Vorbild – Moral nach Belieben erfinden und verwerfen kann.

Die romantische Ironie, das genaue Gegenteil zur sokratischen, bedeutet den willkürlichen Wechsel von Moral und Amoral. Man kokettiert mit dem Bösen, indem man offen lässt, ob man es ernst meint. Am Ende schlug romantische Ironie, das Kokettieren mit dem Verbrechen, in wirkliches Verbrechen um.

Ironie, das war das flirrende Spiel mit dem „Inkommensurablen und Irrationellen“, der „stete Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“. Selbstschöpfung und Selbstvernichtung waren die deutschen Kopien der Schöpfung ex nihilo und der Vernichtung ins Nichts. Gott gibt, Gott nimmt: heute gibt sich der Antinomist leutselig und moralisch, morgen ist er ein Scheusal im KZ. Seine Kinder herzt er, seine zu Untermenschen degradierten Feinde vernichtet er.

Von Fichtes gottähnlicher Ironie bis zu Nietzsches unironischem Willen zur Macht, der als Wille zum bedenkenlosen Bösen daherkam, war‘s nur ein kleiner Schritt. „Jenseits von Gut und Böse“, „Ich aber predige euch den Übermenschen“ sind unverhüllte Formeln für – Antinomie. Der Griff zur Weltmacht gebührt allein den blonden Bestien, die nicht besser, sondern böser werden sollten:

„Der Mensch ist leider nicht mehr böse genug. Nicht die Verderbnis des Menschen, sondern seine Verzärtlichung und Vermoralisierung ist der Fluch. Die Moral ist gerade so unmoralisch wie jedwedes andere Ding auf Erden; die Moralität selbst ist eine Form der Unmoralität. Große Befreiung, welche diese Einsicht bringt. Der Gegensatz ist aus den Dingen entfernt, die Einartigkeit in allem Geschehen ist gerettet. Alles Furchtbare in Dienst nehmen, einzeln, schrittweise, versuchsweise: so will es die Aufgabe der Kultur; aber bis sie stark genug dazu ist, muss sie es bekämpfen, mäßigen, verschleiern, selbst verfluchen. These: Alles Gute ist ein dienstbar gemachtes Böse von ehedem. Alle großen Menschen waren Verbrecher, zur Größe gehört das Verbrechen. Dass wir ein Ziel haben, um dessentwillen man nicht zögert, Menschenopfer zu bringen, jede Gefahr zu laufen, jedes Schlimme und Schlimmste auf sich zu nehmen: die große Leidenschaft. Die Zustände, in denen wir eine Verklärung und Fülle in die Dinge legen, bis sie unsere eigene Fülle zurückspiegeln: der Geschlechtstrieb, der Rausch, der Sieg über den Feind, der Hohn, die Grausamkeit, die Ekstase des religiösen Gefühle. Drei Elemente vornehmlich: der Geschlechtstrieb, der Rausch, die Grausamkeit – alle zur ältesten Festfreude des Menschen gehörend. Die Freiheit von jeder Art Überzeugung gehört zur Stärke seines Willens. Daraus ergibt sich, ins Große gerechnet, dass die Vorliebe für fragwürdige und furchtbare Dinge ein Symptom für Stärke ist. Die Tiefe des tragischen Künstlers liegt darin, dass sein ästhetischer Instinkt die Ökonomie im Großen bejaht, welche das Furchtbare, Böse, Fragwürdige rechtfertigt. Dass der Mensch besser und böser werden muss, das ist meine Formel. Die Wohltat besteht im Anblick der großartigen Indifferenz der Natur gegen Gut und Böse. Keine Gerechtigkeit in der Geschichte, keine Güte in der Natur. Der nihilistische Künstler verrät sich im Wollen und Bevorzugen der zynischen Geschichte, der zynischen Natur. Die Aufrechterhaltung des Militärstaates ist das allerletzte Mittel, die große Tradition sei es aufzunehmen, sei es festzuhalten hinsichtlich des obersten Typus Mensch, des starken Typus. Und alle Begriffe, die die Feindschaft und Rangdistanz der Staaten verewigen, dürfen daraufhin sanktioniert erscheinen. Man muss die Wahl haben, entweder zugrunde zu gehen oder sich durchzusetzen. Eine herrschaftliche Rasse kann nur aus furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen. Problem: wo sind die Barbaren des 20. Jahrhunderts?“ (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse)

Es dauerte keine 50 Jahre und die deutschen Barbaren zeigten sich im Stechschritt. Im Dritten Reich war die Anbetung des Zerstörerischen und Selbstzerstörerischen noch auf Europa beschränkt. Heute ist die Menschheit dabei, ihren schönen Planeten in Gänze zu zerschlagen.

Wer nur halbherzig vor Gott flieht, endet immer bei Ihm. Von der theologischen Antinomie zur politischen ist nur ein Katzensprung. Mit moralfreier Selbstschöpfung und Selbstvernichtung will die Menschheit die schöne Natur in ein Wrack verwandeln – und nichts außerdem.