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Welt retten! Aber subito! XXXVIII

Tagesmail vom 30.12.2022

Welt retten! Aber subito! XXXVIII,

vor 12 Jahren gab es die letzte kritische Äußerung der EU zur Unrechtspolitik Israels:

„Sechsundzwanzig führende EU-Politiker, darunter Richard von Weizsäcker und Helmut Schmidt, riefen Ende 2010 in einem offenen Brief dazu auf, Israel durch Sanktionen unter Druck zu setzen.“ (in Carlo Strenger, Israel)

Inzwischen sind die Verhältnisse noch schlimmer geworden. Die neue Netanjahu-Regierung ist dabei, mit Ultraorthodoxen in ein totalitäres Unrechtsregime abzustürzen. In dieser Woche wurde die neue Regierung von der Knesseth abgesegnet.

Bis jetzt keinerlei Reaktion aus Berlin – während die amerikanische Regierung schon klar vor dem verhängnisvollen Schritt gewarnt hat. Den unbestechlichen Geist der Demokratie scheint Deutschland immer mehr an der Garderobe abzugeben. Solange dieser nicht nachweisen kann, dass er Wohlstand vermehrt, ist er für Neoliberale aller Parteien unzumutbar.

Bereits im Jahre 2011 hatte Carlos Strenger sein Buch „Israel, Einführung in ein schwieriges Land“ als schrille Warnung geschrieben:

„Die Möglichkeit, dass ein vollends zur Macht gelangter Messianismus den Nahen Osten in eine apokalyptische Katastrophe stürzen wird, ist eine durchaus reale Gefahr.“

Selbstkritische Stimmen aus dem Heiligen Land werden in Deutschland nicht zur Kenntnis genommen. Hierzulande will man einmal im Jahr in der Kirche einkehren – ohne vom Inhalt der Predigten auch nur befleckt zu werden.

Wir könnten von einer garantiert folgenlosen Religion sprechen, wenn, ja, wenn die Folgen der Religion sich nicht dennoch einstellen würden – als Folgen einer säkularisierten Fortschritts-Heilsgeschichte.

Was ist die politische Katastrophe, die die neue Regierung in Aussicht gestellt hat?

„Es ist nicht zu bestreiten, dass Jerusalem heute das einzige demokratische Land ist, das seit Jahrzehnten ein andres Volk unterdrückt.“ (Ebenda)

Diese Singularität unter den Demokratien wird gern von jenen übersehen, die den Kritikern Israels zugestehen: ihr könnt den jüdischen Staat ja unter die Lupe nehmen – doch warum muss die Kritik immer so unverhältnismäßig sein, verglichen mit den harmlosen Äußerungen über andere Länder, die brutaler zur Sache gehen?

Antwort: weil Israel die einzige Demokratie ist, die den Verstoß gegen Menschenrechte für ihr gutes Recht hält, zudem die „einzige Demokratie“ in Nahost, die besondere Schutzrechte im Westen genießt.

Nicht nur israelische Ultraorthodoxe halten nichts von Menschenrechten der Aufklärung, die für Demokratien schlechthin verpflichtend sind. Schon die jüdischen Aufklärer aus Deutschland genießen keinerlei Anerkennung:

„Mendelssohns Eintritt in die Welt der universalistischen Aufklärung wird bereits im 18. Jahrhundert von verschiedenen jüdischen Strömungen als Bedrohung des Jüdischen betrachtet. Das jüdische Volk und die jüdische Religion könnten die Verschmelzung mit der Aufklärung offensichtlich nicht überleben. Das Ideal des Universalismus ist den meisten Israelis suspekt. Ethik ohne Panzer und Luftwaffe, so dachten und denken viele, hat die Juden nur nach Auschwitz gebracht. Der neue Jude, selbstbewusst, militaristisch und mutig, wollte nichts von den „alten“ Juden wissen, die sich nicht gegen die Deportation gewehrt hatten. Idealistische Konzeptionen seien gut für Seminare, wenn es aber um Sicherheit und Überleben ginge, zähle nur militärische und wirtschaftliche Stärke.“ (ebenda)

Dies ist die anti-universalistische Stimmung, die sich in Amerika und Deutschland zunehmend ausbreitet. Wer Gewalt ausschließt und nur auf Moral, Reden und Argumentieren setzt, gilt als trostloser Idealist.

Machiavellis Naturrecht der Starken hat sich durchgesetzt. Der gesamte Westen ist in Gefahr, hinter die Aufklärung zurückzufallen und die Stimme der Vernunft über Bord zu werfen. Die Regression der Demokratien ist ein Rückfall in jene Religion, deren unfehlbare Menschenfeindschaft einst mühsam an den Rand gedrängt werden musste.

Noch immer gibt es Historiker, die mit großer Geste verkünden, dass es keine Wiederholungen in der Geschichte geben könne, denn alles bestünde nur aus einmaligen Augenblicken. Dann bräuchten die Deutschen auch keine Angst mehr vor einem Rückfall in den Ungeist des Nationalsozialismus zu haben.

Historiker glauben, dass die Geschichte mit der menschlichen Psyche nichts zu tun haben könne. Weshalb sie Freuds Erkenntnis: alles steht unter Wiederholungszwang, was der Mensch nicht durchgearbeitet hat, für sinnlos halten.

Doch wer die Abläufe der Zeit als Tummelplatz der Seele betrachtet – der bewussten und unbewussten, der aufgeklärten und unaufgeklärten -, der versteht intuitiv, was zur Zeit geschieht.

Die gigantischen Krisen der Gegenwart sind Explosionen jener kollektiven Emotionen der Völker, die von ihnen in langen Zeiten aufgetürmt, aber nie mit der Kraft der Selbstbesinnung abgetragen wurden. Das absurde Gewurstel der Vergangenheit fliegt uns heute um die Ohren.

Im Gegensatz zur religionsfreien Religion der Deutschen wissen amerikanische Fundamentalisten und ultraorthodoxe Juden, dass die Zeit der Gegenwart kein Neutrum ist, sondern dem Finale einer Heilszeit entgegenrast. Diesen Abschluss nennen sie Apokalypse.

Apokalypse ist die von Gläubigen lang ersehnte und von Abtrünnigen schon lang befürchtete Endzeit der biblischen Heilsgeschichte.

An diesem Punkt der göttlichen Heilszeit stimmen jüdischer und christlicher Glaube überein.

Die alten Hebräer hatten keine Vorstellung von einer göttlichen Heilszeit mit einem zwiefachen Ende: Seligkeit für die Frommen, endlose Höllenzeit für die Verworfenen.

Erst ihre Bekanntschaft mit Zarathustra bescherte ihnen die Vorstellung einer selektiven Heilszeit. Heilsgeschichte ist nichts als eine göttliche Teststrecke für alle Menschen und Völker. Die Gehorsamen werden belohnt, die Aufsässigen ewig bestraft:

„Diese vor Zarathustra unerhörte Erwartung beeinflusste bestimmte jüdische Gruppen tief, wie einige der Apokalypsen und einige der in Qumran gefundenen Schriften bezeugen. Vor allen Dingen beeinflusste sie die Jesussekte – mit unabsehbaren Konsequenzen. Und was für eine Geschichte ist daraus geworden! Endlose theologische Spekulationen, unzählige chiliastische Bewegungen, darunter auch diejenigen, die heute in den Vereinigten Staaten so üppig ins Kraut schießen, sogar die Anziehungskraft, die die marxistisch-leninistische Ideologie früher einmal besaß – dies gehört alles mit hinein. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wird der höchste Gott mit seinen Verbündeten die Kräfte des Chaos besiegen und ein für allemal vernichten. Von da an wird die gottgegebene Ordnung absolut gelten: leibliche Pein und Not werden unbekannt sein, kein Feind wird mehr drohen, in der Gemeinschaft der Geretteten wird alles einmütig sein: die Welt wird auf ewig unbeeinträchtigt und sicher sein.“ (Norman Cohn, Die Erwartung der Endzeit – Vom Ursprung der Apokalypse)

Gespenstisch, wenn man sieht, welche Politik amerikanische und jüdische Apokalyptiker betreiben – und die Deutschen noch immer daran festhalten, mit dieser dogmatischen Esoterik nichts am Hut zu haben.

Der tiefe Graben diametraler Triebfedern ist die wahre Kluft zwischen Gottes eigenem Land und dem alten Europa.

Der Glaube an das messianische Ende verbindet amerikanische Christen und rechtgläubige Juden – und trennt sie zur gleichen Zeit. Denn Christen glauben, ihr Messias wird erst kommen, wenn auch die Juden ihn als Erlöser anerkannt haben. Doch wehe, wenn diese Konversion ausbleiben wird: dann werden sich biblische Fundamentalisten auf der Stelle in blutrünstige Judenhasser verwandeln.

Diese problematischen Zusammenhänge zwischen tiefgläubigen Amerikanern und Juden sind Deutschen und Europäern unbekannt.

Christen haben – wie in Moralfragen – auch in diesen Geschichtsfragen ein doppeltes Verhältnis zur Welt: einerseits tun sie, als könnten sie kein Wässerchen trüben und unterstellen sich dem weltlichen Kaiser: gebet dem Kaiser, was des Kaisers und Gott, was Gottes ist. Eine Leerformel, die von Epoche zu Epoche neu gedeutet werden kann, doch immer mit der Botschaft: Christen und Heiden vertragen sich. Es gibt keinen Grund zum Glaubensstreit.

Andererseits aber tritt der christliche Glaube als Widersacher aller weltlichen Mächte auf:

„In der Offenbarung des Johannes wird das Ende der Welt in düsteren Farben geschildert: die totale Zerstörung und ein Blutvergießen ungeahnten Ausmaßes stehen im Mittelpunkt, wobei die eschatologischen Endschlachten als reale Kriege Christi gegen die Vertreter des Bösen dargestellt sind, an deren Ende diese geschändet und total vernichtet werden. Die heilige Schar wird befehligt von Christus, der als Krieg führender König göttliche Macht besitzt und Züge eines blutrünstigen Gewaltherrschers annimmt. Aggressive Rachegelüste gegen die Reichen und Mächtigen treten in den Vordergrund, ihre Ermordung wird als heilige Tat angesehen. Diese um das Jahr 100 verfasste Offenbarung, auch Apokalypse genannt, will dazu ermutigen, auf das baldige Ende der Welt zu hoffen. Sie radikalisiert das Fremdsein in der Welt, indem sie die politische Macht dämonisiert und als Vertreter Satans darstellt. Rom erscheint als Prototyp des Bösen, als die große Hure Babylons.“ (M. Clauss, Ein neuer Gott für die alte Welt)

Christen sind Fremde in der Welt, die sich nach dem Jenseits sehnen. Die alte Welt ist für sie ein Kothaufen. Unsere Heimat ist im Himmel, schreibt Paulus. „Liebet nicht die Welt, noch das, was in der Welt ist“, heißt es im Johannesbrief.

Die Welt gehört Gott, schreibt Tertullian, die Dinge der Welt aber sind des Teufels. Trotz dieser Eindeutigkeiten behauptet ein deutscher Historiker:

„Die in England, Frankreich und Deutschland im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts ausgehandelten historischen Kompromisse zwischen den weltlichen Herrschern und dem Papst lassen sich als Versuche deuten, der Maxime von Jesus Rechnung zu tragen. Auch sonst ist die Geschichte der westlichen Werte und der sie sichernden Institutionen weithin eine Geschichte der Säkularisierung christlicher Prinzipien. Das gilt auch für die Ideen der Menschenrechte und der Menschenwürde und besonders für die Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“.“ (Sueddeutsche.de)

Heilsgeschichte kennt keine gleichen Geschwister, sondern nur den tödlichen Wettkampf um Alles oder Nichts zwischen Auserwählten und Verworfenen.

In Israel haben jene Kräfte die Oberhand gewonnen, die sich auf den apokalyptischen Endkampf vorbereiten. Hier gibt es weder Toleranz noch Demokratie. Israel, wie andere totalitäre Regimes, kennen keine Menschenrechte, keinen Frieden der Völker, der mühsam im Geist der Verständigung erarbeitet werden müsste. Eine klare Absage an die UN-Charta und an die unverletzliche Würde jedes Menschen.

Spätestens an diesem Punkt müssten im ganzen Westen die Alarmglocken läuten.

„Einspruch tut dringend not, nicht nur seitens Washingtons, das einige Warnsignale in Richtung Jerusalem bereits gesendet hat. Zu warten, ob der alte Nahostkonflikt wieder explodiert, ist keine Option. Eine Eskalation ist mit Israels neuer Koalition vorprogammiert. Und auch Deutschland tut Israel keinen Gefallen, sich in Nachsicht mit einer Regierung zu üben, die sich darin gefällt, internationales Recht zu missachten. Keine Frage, er und seine Kumpane setzen alles daran, auch die letzte Chance auf eine Zwei-Staaten-Lösung und damit eine friedliche israelisch-palästinensische Koexistenz zu verbauen.“ (Frankfurter-Rundschau.de)

In Deutschland sind schon lange alle Tugenden der Demokratie dabei, sich in trügerische Spukgestalten zu verwandeln.

Eine Friedensnobelpreisträgerin ist enttäuscht über das verfallende Wirtschaftswunderland:

„Wir schickten viele Berichte über Kriegsverbrechen an die UN, den Europarat, die EU. Niemand reagierte angemessen. Jetzt ist es für die ganze Welt sichtbar: Nicht nur die Ukraine liegt in Trümmern, sondern das internationale System von Frieden und Sicherheit: Ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats startet einen Angriffskrieg und acht Jahre später eine Invasion und niemand kann das stoppen. Jetzt brauchen wir Hilfe aus dem Ausland, besonders aus Deutschland, weil dieses Land eine besondere Verpflichtung hat. Die Bundesrepublik war zusammen mit Frankreich über Jahre der Vermittler zwischen Russland und der Ukraine im sogenannten Normandie-Format und hat diesen großen Krieg nicht verhindert. Die Deutschen sind nur Konsumenten demokratischer Werte.“ (WELT.de)

Der Preis konsumierter Waren richtet sich nach dem Gesetz des Marktes: Angebot und Nachfrage. Je weniger Demokratie in der Lieferkettenwelt nachgefragt wird, je billiger muss man sie verscherbeln.

Pünktlich zur Inthronisierung der demokratie-feindlichen Regierung in Jerusalem hat das Wiesenthal-Zentrum die neue Antisemitismus-Liste veröffentlicht.

„Auf der Liste erschienen zudem der UN-Menschenrechtsrat, dem Israel immer wieder unfaire Einseitigkeit vorwirft, Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und dessen Behörde, staatlich verordneter Israel-Hass im Iran sowie Antisemitismus an US-Universitäten.“ (TAZ.de)

Von welchem Antisemitismus ist die Rede? Nicht vom traditionellen, religiös begründeten Hass der Christen auf die wahren Kinder Gottes. Denn die Kirchen und das Judentum haben längst mit leeren Phrasen Frieden geschlossen.

Heute entzündet sich der Judenhass vornehmlich als Hass gegen die inhumane Palästinenserpolitik des Jerusalemer Regierung. Doch ausgerechnet jene, die diese Politik anklagen – nicht selten in Zorn und Hass – werden von den Wiesenthaler Antisemitismus -Jägern an den Pranger gestellt.

Wer hingegen zu Israels Unrecht schweigt, gilt als treuer Freund des Staates.

Doch das Gegenteil ist richtig: wer zu Menschenrechtsverletzungen schweigt, kann kein Freund der Menschen sein.

Zu den untergründigen Verächtern des Judenstaates, den sie als Staat wortlos zugrunde gehen lassen, gehören die meisten deutschen Politiker – und die Gazetten des Springerverlags, in denen man bis jetzt fast keine Zeile über die Vorgänge in Israel lesen konnte. Geschweige einen scharfen, aber solidarischen Kommentar.

Die neueste Variante des Antisemitismus wurde von Nachkommen der Täter erfunden: hochmoralisch präsentiert er sich im Gewande seines Gegenteils.

Oder wie wär‘s damit: das Wiesenthal-Zentrum setzte sich selbst auf seine – alle Regeln der Demokratie verletzende – Verleumdungsliste?

Fortsetzung folgt.