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Welt retten! Aber subito! XXXVII

Tagesmail vom 23.12.2022

Welt retten! Aber subito! XXXVII,

„Die Welt ist jetzt wie eine Kelter: es wird ausgepresst. Bist du Ölschaum, so fließt du in die Kloake; bist Du Öl, so bleibst Du im Ölgefäß. Dass gepresst wird, ist unumgänglich. Nur beachte den Schaum, beachte das Öl. Pressung geht in der Welt vor sich: durch Hungersnot, Krieg, Armut, Teuerung, Not, Sterben, Rauch, Geiz; das sind die Drangsale der Armen und die Mühsale der Staaten; wir erleben es … Da finden sich Leute, die in solchen Drangsalen murren und sagen: „Wie schlecht sind die christlichen Zeiten …“ Das ist der Schaum, der aus der Presse fließt und durch die Kloaken rinnt; sein Ausfluss ist schwarz, weil sie lästern; er glänzt nicht. Das Öl hat Glanz. Da findet sich nämlich ein anderer Mensch in derselben Presse und in der Reibung, die ihn zerreibt – war es denn keine Reibung, die ihn so blank rieb?“ (Augustin)

Die einen werden von Gott blank gerieben und in seinen himmlischen Trophäenschrank gesammelt.

Die anderen fließen in die Kloaken der Hölle und verbrennen jämmerlich.

Mensch, der du dies liesest – zu welcher Gruppe gehörst du?

„Der neuzeitliche Geist ist unentschieden, ob er christlich oder heidnisch denken soll. Er sieht auf die Welt mit zwei verschiedenen Augen: mit dem des Glaubens und mit dem der Vernunft. Daher ist seine Sicht notwendigerweise trübe, verglichen mit dem entweder griechischen oder biblischen Denken.“ (Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen)

Ihren Glauben nennen die Biblischen inzwischen Fortschritt und Wissen. Was sie heute noch nicht wissen, glauben sie mit Sicherheit morgen zu wissen.

Das griechische Denken als Demokratie, Vernunft und Humanität hält sich erstaunlich wacker, kommt aber täglich mehr ins Wanken. Es scheint, als lebten wir in einer Zeit der Entscheidung, in der sich zeigt, welcher Geist sich durchsetzen wird.

Freilich, die Schwierigkeiten sind immens. Ein Teil der Demokraten hält sich für Christen, ihre Humanität entnehmen sie Gottes Wort – das sie durch Deutungen so lange gedrückt und gepresst haben, bis ihre eigene Weisheit als Gottes Offenbarung aus der Schrift floss.

Amerika ist nicht nur die führende Macht der Welt, sondern auch die vorbildlichste Einheit aus den beiden Elementen – die sich heftig widersprechen. Wer sehen will, sieht die verborgenen Wunden des faszinierenden und verstörenden Riesenreichs in den Schwankungen zwischen theokratischer Zwangsbeglückung und demokratischer Völkerloyalität.

Wie der amerikanische Präsident seinen ukrainischen Kollegen empfängt und dem überfallenen Land die Hilfe seines Volkes zusichert: wem geht da nicht das Herz auf?

War es bei den Nachkriegsdeutschen nicht ähnlich, die von ihren Besiegern wie verirrte Kinder aufgenommen wurden?

Deutschland hat Probleme, die Rolle des verlorenen und in Gnaden wiederaufgenommenen Sohnes an ein anderes Land abzugeben und versteckt seine Eifersucht hinter lächerlichen Schwierigkeiten. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn gilt bei Theologen als das wichtigste für Deutsche.

Amerika versucht, Griechentum und Christentum so in der Praxis zu versöhnen, wie der deutsche Denker Hegel es in seiner Philosophie versucht hatte. Durch dialektische Versöhnung sollten die unvereinbaren Elemente aus Vernunft und Glauben zusammenkommen.

Dialektik heißt hier: Versöhnung, bist du nicht willig, so brauch ich logische Gewalt.

Was Deutsche dachten, haben andere Völker nicht selten in die Tat umgesetzt.

Wie konnte die politische Einheit griechischer und christlicher Elemente in Gottes eigenem Land zustande kommen? Durch einen seltsamen Zufall: nicht die Frommen bestimmten die Grundlagen des neuen Kontinents, sondern eine Handvoll englischer Griechenfreunde:

„Die meisten der wirklich einflussreichen geistigen, gesellschaftlichen und politischen Führer waren Rationalisten. Diese Männer gaben der Situation eine konkrete theoretische Form und eine rechtliche Struktur, Damit fanden sich die Kirchen, die nur ihre eigene Freiheit im Kopf hatten, in der politischen Praxis ab – ohne sich aber damit geistig zu versöhnen. Bis heute fanden sie keine theoretischen Rechtfertigungen der Glaubensfreiheit, die sich auf theologische Gründe berufen kann.“ (S Mead, Das Christentum in Nordamerika)

Die Folgen dieser scheinbaren Versöhnung zeigen sich bis zum heutigen Tag. Friedliche Zeiten praktischer Verständigung wechselten sich ab mit Zeiten heftigen Streits. Gegenwärtig herrscht heftiger Streit – der umso gefährlicher wird, weil die Bible-Belt-Amerikaner nicht mehr wissen, was Aufklärung bedeutet.

Trump ist kein griechischer Narzisst, sondern ein Christ, der sich berechtigt fühlt, wie ein unberechenbarer zorniger und wütender Gott zu schalten und zu walten, wie er will.

Sein Nachfolger ist gläubiger Katholik, der seinen Glauben für das Fundament einer tragbaren Demokratie hält. Die nächste Wahl wird einen noch gefährlicheren Schlagabtausch zwischen „Athen und Jerusalem“ bringen – wie schon ein Kirchenvater den Konflikt zwischen Gott und Teufel genannt hat.

Diesem Urkampf zwischen Gut und Böse, den Hegel auf dem Papier ausgefochten hatte, könnte Amerika nur entgehen, wenn das Land die wahren Ursachen der Fehde erkennen würde.

Ein Pfarrer aus Wyoming formulierte die Doktrin der neugeborenen Amerikaner, von Trump in Siegerhaltung verkörpert, in folgenden Worten:

„Wir Amerikaner sind die Edelsten, denn wir sind die Erben aller Zeitalter in der vordersten Front der Zeit. Gott erziehe sie in seiner unendlichen Weisheit und Geschicklichkeit für eine Stunde, die sicherlich kommen würde: die Stunde des abschließenden Wettbewerbs der Rassen. Kann irgendjemand daran zweifeln, dass das Ergebnis des Wettbewerbs der Rassen das Überleben der Tüchtigsten sein wird? Bereitet dem Herrn den Weg!“ (ebenda)

Was damals noch weiße Rasse war, ist längst zur Klasse der Reichen geworden. Der Kapitalismus wurde zur ökonomischen Religion der Auserwählten, die den Wettkampf der Tüchtigsten gewinnen werden.

Die Armen durften nicht unterstützt werden, denn Armut sei das Ergebnis von Laster und Sünde. Carnegie war überzeugt, dass beim „Almosengeben mehr Unrecht dadurch geschehe, dass man das Laster belohne, als dadurch, dass man die Tugend unterstütze.“

Diese christlichen Gedanken haben sich im Neoliberalismus durchgesetzt. Der Staat – Augustin hätte ihn civitas terrena genannt – solle sich mit Polizei und Müllabfuhr begnügen: in den wichtigsten Dingen dieser Welt habe er nichts zu sagen. Der Markt sei das große Wunder (oder die civitas dei), das alle Probleme dieser Welt lösen kann.

Indem der Neocalvinismus die – einst heidnische – Domäne der Wirtschaft eingesaugt hatte, stiegen die Chancen der Christen, ihre demokratischen Widersacher zur Bedeutungslosigkeit zu erniedrigen.

Heute tritt die Wirtschaft auf, als sei ihre himmlische Überlegenheit über den Staat schon längst gesichert:

„Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger (58) wirft Bund und Ländern vor, immer neue und größere Behörden zu schaffen – und damit den Firmen in der Wirtschaft Mitarbeiter zu klauen! Der Staat schafft sich immer neue Aufgaben, macht Dinge kompliziert, verschläft die Digitalisierung und weitet dafür seinen Personalbestand fortlaufend aus.“ Zugleich verunsichere er die Menschen mit seiner Anti-Industriepolitik, wolle die Wirtschaft steuern und mache die Regeln für Beschäftigung in Unternehmen immer unattraktiver, so Dulger weiter. „Damit saugt er Talente aus den produktiven Bereichen in die Bürokratie – das verschärft das Arbeitskräfteproblem für die Wirtschaft und verringert das Wachstum.“ (BILD.de)

Die Wirtschaftler scheinen längst vergessen zu haben, dass es in einer Demokratie keinen selbstherrlichen Staat geben kann, der nach Belieben bestimmt. Demokratie ist eine Herrschaft des Volkes. Was der „Staat“ zu tun hat, ist der Wille seiner Mehrheiten. Und wenn nicht, ist die Demokratie verfault und müsste an Hand und Fuß saniert werden.

Sabine Rennefanz ist empört über das inflationäre Krisengetöse, das man täglich lauter hört, aber das Gegenteil dessen bringe, was es vermutlich wolle:
„Die ständige Ausrufung der Krise provoziere lediglich kurzfristige Lösungen und verhindere, dass man darüber nachdenkt, die Hintergründe von bestimmten Entwicklungen und Prozessen zu hinterfragen. Im Kern sei der Daueralarm reaktionär, weil er bestehende Institutionen und Praktiken stütze. Man kennt das: Statt Reformen gibt es dann Krisensituationen und Sondergenehmigungen.“ (SPIEGEL.de)

Einwand: Das Gegenteil ist richtiger. Demokratien funktionieren umso besser, je mehr Demokraten sich am Politprozess sicht- und hörbar beteiligen. Noch immer will das behäbige Wirtschaftswunderland sich eher vom allwissenden Markt in die Zukunft tragen lassen, als dass es selber durchdächte, wohin die Reise gehen soll.

Was hat dieser verwunderliche Fehlalarm mit Amerika zu tun? Die Vorbildfunktion Amerikas für Deutschland lässt rapide nach. Doch Amerika könnte diese Rolle wiedergewinnen, wenn es den uralten Konflikt zwischen Vernunft und Glauben endlich auf die Tagesordnung brächte.

Dasselbe müsste Deutschland tun. Die Gesellschaft zerfällt. Soziale Mitgefühle gelten als Abhängigkeit. Familiärer Zusammenhalt ist die beschämende Unfähigkeit, unabhängig und selbständig zu werden. Nur an Weihnachten gilt alles umgekehrt: die heilige Familie wird zum Zentrum des Universums. Nur die Jugend und einige NGOs übertreffen sich im Anprangern verrotteter Verhältnisse, um die Gefahren der Klimakrise zu bändigen. Für diesen vorbildlichen Einsatz werden sie von medialen Zynikern verhöhnt und kriminalisiert.

Die letzten öffentlichen Debatten mit grundlegendem Gehalt fanden in den 68er-Jahren statt. Danach begann der Wettlauf um Wirtschaftszahlen. Natur wurde ramponiert, der soziale Zusammenhang der Gesellschaft bedenkenlos geschreddert.

Niemand durfte fragen: was ist der Sinn des Fortschritts, der einer unbegrenzten Zukunft, der einer rasenden Naturzerstörung? Denken wurde verboten, bis die Natur selbst ihre Langmut verlor und das gesellschaftliche Leben rapide verschlechterte.

Bis dahin blieb alles Ökologische theoretisch: ach ja, die Korallen vor Australien sterben ab? Interessant – weiterzappen.

Unter dem Schein des Erfolgs, der immer mehr verblasste, ging der umfassende Sinn des Lebens verloren. Die Selbstvernachlässigung war ein einziges Wursteln und Verschludern lassen. Nicht nur das eigene Land ging den Bach hinunter. Die Beziehungen zu befreundeten Ländern erfroren in Heucheltiraden.

„Das Land befindet sich in einem steilen Abstieg. Die Gesellschaft ist gespalten, der Hass riesig. Ich mache mir nicht nur Sorgen um die Palästinenser – sondern auch um Frauenrechte, um Schwule und Lesben, um die Demokratie. Für Menschen wie Ben-Gvir, die einen religiösen Staat errichten wollen, ist jeder, der andere Ansichten vertritt, ein Feind und in Gefahr. Niemand, dem Menschenrechte wichtig sind, kann einen solchen Minister und die Mitglieder seiner Partei akzeptieren. Ben-Gvir ist eine Gefahr für die Demokratie. Er ist eine Gefahr für andere Menschen. Ich spreche seit Jahren öffentlich über das, was ich als Kind in Kirjat Arba erlebt habe, und ich warne vor Ben-Gvir und seinen Anhängern. Natürlich gefällt ihnen das nicht. Deshalb ist es in Israel momentan zu gefährlich für mich. Und bald wird es nicht nur für mich dort gefährlich sein. Sondern für alle Andersdenkenden. Deshalb ist Europas Stunde der Wahrheit gekommen. Falls Europa Israel einen Schutzschirm gegenüber internationalen Rechtsinstitutionen verleiht, sich ihnen widersetzt oder sie sogar daran hindert, sich mit Israels Aktionen und Politik zu befassen, wird es nicht nur seine eigene Glaubwürdigkeit beschädigen.“ (Frankfurter-Rundschau.de)

„Es gibt in Israel viele Probleme, aber niemanden, der sie lösen kann. Die Kriminalität ist hoch, die Sicherheitslage angespannt. Ben-Gvir bietet auf diese Fragen vermeintlich einfache Antworten an: Er macht Minderheiten für die Schwierigkeiten verantwortlich. Im Süden von Israel gibt es zum Beispiel viele Verbrechen, also sagt Ben-Gvir: Das ist die Schuld der Beduinen. (Die Beduinen sind eine Minderheit in Israel, die unter teils ärmlichen Bedingungen vor allem in der Negev-Wüste lebt, Anm. d. Red.). Viele Israelis glauben ihm. Aber die Geschichte zeigt, dass rechtsextreme Bewegungen ein Land nie zum Besseren verändern. Sie zerstören es – und die Generationen nach ihnen zahlen den Preis.“ (SPIEGEL.de)

Europa versagt, Deutschland an erster Stelle.

Wie die philosemitische, in Wirklichkeit judenverachtende deutsche Presse auf diese Alarmmeldungen reagiert, zeigen die folgenden BILD-Zitate:

„Die baldigen Regierungsparteien haben versprochen, die innere Sicherheit des Landes inmitten der anhaltenden Terrorwelle zu verbessern, die steigenden Lebenshaltungskosten in den Griff zu bekommen und den iranischen Atom-Ambitionen entgegenzuwirken. Die neue Regierung will große politische Veränderungen durchsetzen. Die könnten Netanjahu auch bei seinem aktuell laufenden Korruptionsprozess helfen. Netanjahus ultra-rechter Koalitionspartner Bezalel Smotrich (42) kündigte schon vor der Wahl ein radikales Programm an, was auch eine Aufhebung des Verfahrens gegen Netanjahu bewirken könnte. Er will das Justizsystem deutlich umbauen. Smotrich gilt auch als Verfechter des Siedlungsausbaus im besetzten Westjordanland.“ (BILD.de)

Israel stürzt ab in theokratische Versteinerungen und wird dem Iran, seinem bittersten Feind, immer ähnlicher. Und Deutschland? Wiegelt ab mit dreisten Verharmlosungen; mag Israel zugrunde gehen, was geht’s uns an?

Zwischen bedingungsloser und verlässlich-kritischer Loyalität kann das Land nicht unterscheiden. Deutschland ist dabei, sich erneut schuldig zu machen.

Fortsetzung folgt.