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Welt retten! Aber subito! XXXI

Tagesmail vom 02.12.2022

Welt retten! Aber subito! XXXI,

es wird Zeit für eine völlig neue Epoche – eine von aller Moral gereinigten Interessenpolitik. Die moralischen Überspanntheiten der hinter uns liegenden Epoche bringen uns ins Grab.

Moralische Außenpolitik liefert die Welt bedenkenlosen Brutalinskis aus. Edelgesinnte hingegen werden aus dem Weg geräumt und müssen das Feld den Rücksichtslosen überlassen. Wer die Welt erobern will, muss zur Peitsche greifen:

„Ein Mensch nämlich, der es sich in allen Lagen zum Beruf machen wollte, gut zu sein, muss zugrunde gehen unter so vielen, die nicht gut sind. Darum ist es notwendig für einen Fürsten, der sich behaupten will, zu lernen, auch nicht gut zu sein und davon je nach der necessita Gebrauch zu machen oder nicht Gebrauch zu machen.“ ( Machiavelli in Meinecke)

Trennte sich Machiavelli hiermit von der christlichen Moral, die die Frommen für eindeutig und liebesbetont halten? Offiziell bezog er sich zwar auf das Naturrecht der Starken bei Thukydides. Dennoch war seine amoralische Staatsräson eine Fortsetzung der biblischen Antinomie.

Die Ethik der Bibel ist mehrdeutig und umfasst das Gute und Böse. Gott ist kein einseitiger Prediger des Vorbildlichen und Menschlichen: er befiehlt Liebe und Hass, Uneigennütziges und Böses. Er ist eine Einheit aus Gott und Teufel, Gutem und Bösen.

Das sündige Geschöpf hat es nicht verdient, nur mit Liebe behandelt zu werden.

„Wenn du vor eine Stadt ziehst, um gegen sie zu kämpfen, so sollst du ihr zuerst den Frieden anbieten. Antwortet sie dir friedlich und tut dir ihre Tore auf, so soll das ganze Volk, das darin gefunden wird, dir fronpflichtig sein und dir dienen. Will sie aber nicht Frieden machen mit dir, sondern mit dir Krieg führen, so belagere sie. Und wenn sie der HERR, dein Gott, dir in die Hand gibt, so sollst du alles, was männlich darin ist, mit der Schärfe des Schwerts schlagen. Nur die Frauen, die Kinder und das Vieh und alles, was in der Stadt ist, die ganze Beute, sollst du unter dir austeilen und sollst essen von der Beute deiner Feinde, die dir der HERR, dein Gott, gegeben hat.“

Auch im Neuen Testament gibt es keineswegs nur Liebesgebote. Erst vor kurzem mahnte ein deutsches Magazin an das neutestamentliche Tötungsgebot bei Arbeitsverweigerung, um die Demütigungen der Hartz4-Gesetze zu rechtfertigen:

„Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“

Deutsche Hartz4-Gesetze atmen noch immer den Geist der Todesstrafe für Nichtstuer und Müßiggänger – während die abendländische Wirtschaft den Segen des Himmels für ihre maßlose Gier für sich monopolisiert.

Im faustischen Prinzip bewundern die Deutschen die Einheit von Faust und Mephisto, jenem Geist, der stets das Böse will und stets das Gute schafft. Das Böse ist die wahre Energie des Guten. Wer Böses ablehnt, ist zum Guten unfähig.

Goethe, in seiner Jugend ein Verächter des Christentums, preist im Alter in höchsten Tönen die Einheit von Gott und Teufel:

„Es ist ein Letztes, wozu die Menschheit gelangen konnte und musste. Aber was gehört dazu, die Erde nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen höheren Geburtsort zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen zu verehren und liebzugewinnen.“ (Goethe)

„Das Christentum erscheint hier als die höchste und letzte Religion, als das Ziel der Religionsgeschichte. Als anschauliches Sinnbild dieser Religion versucht er sich jetzt auch das Kreuz Christi verständlich zu machen. Damit hat Goethe die rein moralische Religion der Aufklärung überwunden. Das Motiv felix culpa, selige Schuld, klingt an“, kommentiert der Historiker Lütgert.

Nicht das Böse meiden, sondern es im Namen Gottes tun: das gehört zum Besten, was einem Menschen zuteilwerden kann. Nicht Menschenliebe ist das Höchste, was ein Mensch vollbringen kann, sondern das Böse in Seinem Namen, welches zur Gewinnung der Seligkeit befähigt.

Nicht an dieser oder jener Verhaltensweise ist göttliche Moral zu erkennen, sondern allein am Gehorsam gegen Gott, der kein Verhalten ausschließt, auch nicht die teuflischste Dämonie.

„Es ist für des alten Goethe Autoritätsbedürfnis bezeichnend, wenn dieser Gott sich offenbart »in Eltern, Lehrern und Vorgesetzten«. Er wehrt sich gegen den Freiheitsdrang der neuen Jugend.“ (ebenda)

Das ist das Ende und zugleich der unerwartete Gipfel des vielgerühmten deutschen Humanismus. Seit Beginn der Gegenaufklärung blieb Moral bis heute ein Aufstand gegen das Heilige. Für die frommen Rückkehrer ist Moral eine autonome Überheblichkeit, gegen die Politiker und Zeitungsschreiber nicht genug wettern können.

Wer wundert sich über die gottähnliche Bedeutung der Benotung aller Untertanen bis ins hohe Alter, wenn Gott sich selbst in „Eltern, Lehrern und Vorgesetzten“ offenbart?

Weshalb waren die Deutschen zum Bösesten und Gehässigsten fähig, das Menschen je auf Erden vollbrachten?

Weil sie das Böse als höchste Tugend anbeteten. Wer fühlt sich nicht an Himmlers Posener Rede erinnert?

„Das Kernelement der „Posener Rede“ stellen zweifellos Himmlers Äußerungen über den Judenmord als „niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt“ der SS-Geschichte dar. Der Massenmord erschien in den Worten Himmlers als rational begründbare, notwendige Maßnahme bei der Erneuerung Europas unter deutscher Herrschaft. Für den SS-Chef war er benenn- und aussprechbar, wiewohl er nie offen zur Mehrung des Ruhmes der SS werde dienen können. Ferner erhielten die SS-Kommandeure Lob für gezeigte Härte im Angesicht des Mordens und die Versicherung, sie seien dabei „anständig geblieben“. Sie hätten „diese schwerste Aufgabe in Liebe zu ihrem Volk erfüllt“, ohne dabei seelischen oder charakterlichen Schaden genommen zu haben.“

Wie wir sehen, ist Deutschland vorbildlich in der Aufarbeitung seiner humanen Großtaten – im Namen großer Dichter und Denker. Der heutige Hass gegen Moral hat eine lange und ehrwürdige Tradition.

Die heute zu beobachtende, schon lange untergründig gärende Abwendung der Deutschen von Frankreich hat eine lange Tradition. „Die von Frankreich stammende Aufklärung hat die Grundsätze der Moral, den Glauben an Gott und Unsterblichkeit tief erschüttert und die Herzen der Menschen ausgetrocknet. Der Baum des Unglaubens, den Friedrich der Große und die Berliner Gelehrten pflanzten und pflegten, trägt jetzt seine verderblichen Früchte auf dem kalten und sandigen Boden. Er hat den Staat entseelt zu einer Maschine, die er alleine zu regieren verstand und in der „alle Kräfte den bewegenden Stoß von oben erwarteten.“ „Weder hatte er selbständige Mitarbeiter herangebildet, noch das Volk zur Mitarbeit herangezogen.“

In seinem SPIEGEL-Porträt schreibt A. Osang über Merkel:

„Sie verhielt sich wie eine Königin. Den Rest macht sie oft mit sich aus. Bestimmte Entscheidungen werden von Politikern erwartet, ohne dass sie damit ihr Volk behelligen. Alle wollen eine Entschuldigung. Sie aber, so scheint es, will sich nicht entschuldigen, weil sie nicht weiß, ob sie wirklich falsch lag. Ob ihr die Geschichte am Ende nicht doch recht gibt?“ (SPIEGEL.de)

Für die Pastorentochter ist Geschichte nichts anderes als Heilsgeschichte – die ihr in allen Dingen Recht geben wird. Denn sie ist Christin, die sich ihres Glaubens sicher ist. Nicht ihrer Taten rühmt sie sich, ihre Rechtfertigung beruht nicht auf Werken, sondern auf Glauben.

Der aber ist prinzipienlos – wie alle deutsche Politik spätestens seit der Gegenaufklärung. Bismarck war der Meister einer moralisch-prinzipienlosen Machtpolitik. Mit der Bergpredigt könne er nicht regieren: so ehrlich immerhin waren die Interessenpolitiker des 19.Jahrhunderts.

„An die Stelle einer Politik aus theoretischen Prinzipien trat eine solche nach praktischen Zielen, und zwar nach solchen, die durch die politische Lage gegeben waren. Die politische Tat folgt nicht aus allgemeinen Prinzipien, sondern aus der geschichtlichen Lage. Deshalb ist sie keine logische und exakte Wissenschaft, sondern die Fähigkeit, in jedem wechselnden Moment das am wenigsten Schädliche oder Zweckmäßigste zu wählen.“

Dieser Realismus, in seinem Gegensatz zum theoretischen Doktrinarismus, stand mit seinem Gottesglauben in festem Zusammenhang. „Man kann Geschichte überhaupt nicht machen, man kann aber immer aus ihr lernen. Man muss die wechselnde Situation akzeptieren, wie Gott sie macht. Denn der Mensch kann den Strom der Zeit nicht schaffen und nicht lenken.“

Fast identische Beschreibungen ihrer Politik macht Merkel in Osangs Artikel:

„Man handelt ja immer in der Zeit, in der man ist.“ Weshalb es für sie keinen Grund gebe, auf die Knie zu fallen und sich zu entschuldigen. Denn damals war eine andere Zeit. Heute habe sich alles geändert.

Politik ist für sie die zeitlich genaue Erfassung des Mantels Gottes. Gott greift punktuell in die Geschichte ein, die für Merkel nicht aus zeitlosen Imperativen, sondern aus völlig disparaten Augenblicken besteht.

Weshalb in ihrem Büro eine Statue des Gottes Kairos steht, der stets den rechten Augenblick für das angemessene Tun aussucht:

„Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.“

Merkels Politik galt bei ihren medialen Bewunderern als Übertragung strenger physikalischer Gesetze auf das unsichere Terrain der Geschichte. Sie denke alles vom Ende her.

Doch das Gegenteil war richtig. Natur folgt determinierten Gesetzen, Geschichte aber – oder Heilsgeschichte – unterliegt der Unberechenbarkeit verschiedener Augenblicke.

Ist es Zufall, dass Hayeks katholische Rechtfertigung seines neoliberalen Glaubens auch im Buche „Prediger“ zu finden ist? Wirtschaft ist zwar die klügste Institution der Menschenpolitik, doch der Mensch ist unfähig, die Klugheit der Ökonomie zu verstehen oder nachzuvollziehen.

Hier sehen wir die verborgene Einheit des katholischen und lutherischen Glaubens – weshalb es keine christliche Kirche gibt, die den Kapitalismus grundlegend ablehnen würde.

Dennoch gibt es wesentliche Unterschiede zwischen Bismarck und Merkel. Zuvor müssen wir den Generalangriff gegen die Moral in der Außenpolitik von SZ-Cornelius betrachten:

„Moralische Überlegenheit ist also gefährlich in diesen Tagen. Für die deutsche Außenpolitik würde einstweilen die Empfehlung Richard von Weizsäckers ausreichen, „Moral und Pragmatismus nicht gegeneinander auszuspielen“. Moral und Werte sind wichtig für den eigenen Kompass – aber sie sind im Staatengeschäft nicht einklagbar. Wer seine eigenen Erwartungen nicht unter Kontrolle hält, verzweifelt an seiner Einflusslosigkeit oder wird, wie im Fall Katar, ein bisschen zum Gespött.“ (Sueddeutsche.de)

Das ist eine unmissverständliche Stimme des Ekels vor der Moral. Solche Klarheiten sind bei Merkel nicht zu hören. Ihre Stimme bleibt vage und andeutend, weshalb ihr zu Recht Doppelmoral vorgeworfen wird. Auch Weizsäckers „Kompromiss“ ist ein hohles Wortspiel:

„Es gibt eine intellektuelle Elite, die sehr wertegetrieben ist. Aber die hat keine Chance, wenn sie nicht von der breiten Macht getragen wird. Das Erfolgsmodell des Westens ist, dass es den Menschen gut geht … ob es nun freiheitsliebend ist oder nicht.“

Zuerst Wirtschaft, dann Wirtschaft und wieder Wirtschaft. Was juckt uns Freiheit? Erfolg und Sieg im Wettbewerb der Ökonomie sind entscheidend, nicht verblasene demokratische Prinzipien.

Diese verräterischen Parolen an der Demokratie murmelt Merkel in Hinterzimmern, in denen sie ihre medialen Lieblinge empfängt. Eben das ist der Unterschied zu Bismarck, der keinerlei Hemmungen hatte, seine Meinung der Öffentlichkeit mitzuteilen:

„Der Staatsmann hat nicht das Weltgericht zu üben. Wir haben nicht eines Richteramtes zu walten, sondern deutsche Politik zu treiben.“ Er verschmähte deswegen die moralische Verschleierung außenpolitischer Aktionen. Dieser politische Realismus unterschied sich von den Grundsätzen der Erweckungsbewegung.

„Preußens Politik ist satanisch. Es ist eine Vorbereitung der antichristlichen Weltmonarchie.“

Hätten sie von einem Dritten Reich gesprochen statt von einer Weltmonarchie, hätten sie ins Schwarze getroffen.

Alle Begriffe, die für Klarheit sorgen könnten, sind für Merkel tabu. Durchweg spricht sie in subjektiven Gefühls- oder Empfindungssätzen – die nicht widerlegt werden können. Von Poppers Falsifikationsprinzipien hat sie offenbar noch nie gehört.

Deutschen Journalisten ist der Unterschied zwischen Physik und augenblicksbestimmter Politik unbekannt.

Ist Politik tatsächlich so prinzipienlos, dass man sie an keinem Kriterium messen kann? Dann wäre sie unkritisierbar. Jeder hätte seine subjektive Einschätzung, die mit keiner anderen zu vergleichen wäre. Das ist die Ideologie der Postmoderne, die keine objektive Wahrheit kennt. Bei ihr sülzt jeder privatistisch vor sich hin.

Warum ist Merkel zur Mutistin geworden? Weil sie unfähig ist, die gedanklichen Grundlagen ihrer Politik in Worte zu fassen. „Wenn ihr‘s nicht fühlt, ihr werdet‘s nicht erfassen.“ Um dennoch den Eindruck eines beliebigen Subjektivismus zu vermeiden, spielt die Physikerin die sachlich Nüchterne – in den Petitessen ihrer Unterlagen. Eine Physikerin, auf der „wertegeleiteten Basis“ des Glaubens, formuliert ihre Politik in demütigen Schweigeformeln.

Ausländische Beobachter bewundern die unaufgeregte Art ihres „Führens“ in der EU:

„Und was immer man sonst von ihr halten mag: Mit ihrem Ton und ihrem Auftreten hat Angela Merkel das bewiesen. Wenn es jemals jemanden gab, der führte, ohne zu dominieren, dann war sie es, immer ruhig und gelassen, die Hände zu einer Raute geformt – aber immer »in charge«.“ (SPIEGEL.de)

Der Eindruck trügt. Demut ist nur die Fassade ihres christlichen Führungswillens. Wer die Erste unter euch sein will, sei die Demütigste.

Angeblich kommt jetzt eine Zeit der Kritik an Merkel auf uns zu. Das ist wenig glaubhaft. Die Deutschen und ihre Medien könnten ihre Politheilige nur überprüfen, wenn sie sich gleichzeitig selbst überprüfen würden. Das wäre ein wahres Adventswunder.

Fortsetzung folgt.