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Welt retten! Aber subito! XXVIII

Tagesmail vom 21.11.2022

Welt retten! Aber subito! XXVIII,

wie ist der Stand der Debatte?

Wer – um nichts Geringeres als die Welt vor dem Untergang zu retten – zivilen Ungehorsam übt, der fällt der deutschen Obrigkeit in die Hände:

„In einem demokratischen Rechtsstaat geht man nicht los und setzt die eigenen Anliegen gegen Recht und Gesetz durch“, stellt der Justizminister gleich fest. „In der Demokratie versucht man auch nicht, Regierungen oder Parlamente zu erpressen, indem man sagt: Wir werden jetzt fortgesetzt Straftaten begehen, wenn ihr nicht tut, was wir euch sagen!“ Buschmanns unmissverständliche Warnung: „Fremdes Eigentum zu beschädigen, Menschen zu nötigen, Notfallpersonal zu blockieren, Notrufe zu missbrauchen, das geht nicht, das ist strafbar und das können wir nicht akzeptieren!“ Herrmann haut in die gleiche Kerbe: Es gehe nicht, „zu sagen, das hat die Mehrheit nicht eingesehen, wir sind aber klüger als die Menschen, klüger als das Parlament!“ Wenn das jeder so machen würde!“, murrt er. „Wer von etwas überzeugt ist, sagt, die anderen haben keine Ahnung, und ich setze das jetzt mit Gewalt durch. Dann würde unsere Demokratie infrage gestellt werden!“ (BILD.de)

Darf ein Demokrat, der zivilen Ungehorsam übt, sich für klüger halten als seine kuschenden Mitmenschen – sogar klüger als die Regierenden und Experten?

Darf er gegen untergeordnete Gesetze verstoßen – die keinen Menschen in Gefahr bringen – um seinen Widerstand gegen die Obrigkeit zu demonstrieren?

Er darf nicht nur, er muss. Denn er glaubt, etwas zu sehen, was die anderen nicht sehen wollen: einen unverzeihbaren Fehler der Obrigkeit und der Mehrheit, die mit offenen Augen ins Verderben rennen.

Demokraten haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich in bestimmten Fällen für klüger zu halten als die Majorität des Staates, die – aus untertänigem Gehorsam oder feiger Anpassung – sich niemals gegen selbstgefährdende Entscheidungen der Regierung wehren.

Sie erweisen sich damit als wirksamere Beschützer der Polis und ihres Rechtssystems, als jene, die lieber Kleinigkeiten bewahren, das Große und Ganze aber gefährden.

Deutsche Lutherverehrer scheinen nicht zu wissen, was ihr Idol zur Verteidigung seiner Rebellion gegen den Papst äußerte: „Auch Päpste und Konzilen können irren.“

Luther wollte das Evangelium retten, auch wenn er gegen Gesetze der Kirche verstoßen müsste.

Wer es biblisch formulieren will: die Ungehorsamen werfen den Oberen vor:

„Ihr blinden Führer, die ihr die Mücke seiht, das Kamel aber verschluckt.“

Wer Wesentliches in Gefahr bringt, indem er an Unwesentlichem festhält, der ist weder ein kluger Staatsmann, noch ein besonnener Demokrat, sondern ein törichter Befolger von Regeln und Gesetzen.

Reale Gesetze des Staates sind keine idealen Gesetze einer Polis, die jeder innerlich vor Augen hat. Sie sind Kompromissbildungen, die im Kampf der Geister in vielen Volksabstimmungen erzielt wurden – und in mühsamer Politik einer immer besseren Gesellschaft angenähert werden müssen.

Jeder Mensch, ob er es weiß oder nicht, birgt Weisheiten in sich, die er für vollkommen hält. Das Ziel einer lernfähigen Demokratie ist, die realen Regeln stets in Richtung dieser Weisheiten anzunähern.

Niemand kann seine Thesen in den Ring werfen, der nicht glauben könnte, den Meinungen aller anderen überlegen zu sein. Er muss das Selbstbewusstsein entwickeln, der Klügste aller Volksvertreter zu sein – und dies durch bessere Argumente zu beweisen.

Es ist keine Eitelkeit, sich für den Klügsten zu halten, es ist die Voraussetzung, um den Streit der Meinungen auf dem Marktplatz zum geistigen Kern des demokratischen Prozesses zu machen. Kompromisse sind keine Wahrheitsbeweise, aber unerlässliche Verständigungsprozesse, um sich dem Ziel der Humanisierung zu nähern.

Eine Polis ist das Revier der umkämpften Bewährung unserer Ansichten – auf dem langen Weg des Wettbewerbs zur Wahrheit.

Für moderne Ohren gibt es keine Wahrheit, sondern nur politischen Pragmatismus. Aber auch der wäre nicht möglich, ohne sich allmählich der Wahrheit zu nähern.

Das ideale Ziel wäre erreicht, wenn jeder das Gefühl hätte: wir befinden uns im Stadium einer allgemeinen Sinn-Erfüllung oder des persönlichen Glücks, das zugleich das Stadium des kollektiven Glücks ist.

Menschen sind keine Wesen, die allesamt unterschiedlichste und fremdartigste Glücksvorstellungen hätten. Sie sind auch keine bösen und arglistigen Wesen, die nur egoistisch das eigene Glück anstrebten unter heimtückischer Verhinderung des Glückes aller anderen.

Menschen haben die Demokratie erfunden, um die Despotien hinter sich zu lassen und jedem Einzelnen die Gelegenheit zu geben, seine Ich-Vorstellungen in eine allmähliche Wir-Realität zu verwandeln.

Leider gibt es Religionen, die den natürlichen Menschen für eine Ausgeburt des Bösen halten. Ohne göttliche Allmacht würde die Geschichte in einer finalen Katastrophe enden. Was sie seltsamerweise auch unter Gottes Führung tut – für die Verworfenen. Die Erwählten kommen in Abrahams Schoß.

Menschliche Geschichte ist eine elementare Auseinandersetzung zwischen beiden Menschenbildern. Die Vernunft hat die Menschheit in die Lage versetzt, sich das Ziel eines globalen Friedens vorzustellen – das dennoch unter großen Bemühungen erarbeitet werden muss.

Die Vorstellung eines lernunfähigen bösen Menschen hat jede Chance zum Bessern vermasselt. Das Böse hat derart viele Krisen aufgehäuft, dass die Ratio verzweifeln möchte, ob es noch eine Rettung geben kann – wenn man sich nicht einem despotischen Gott unterwirft.

Despotische Regimes bilden sich ein, den Willen eines Gottes auf Erden zu verwirklichen. Sie zwingen die Menschen, von morgens bis abends nach ihrem Willen zu leben.

Demokratien wissen nichts von allmächtigen Göttern und ihren von Oben ernannten Stellvertretern. Sie glauben an den Menschen, der seine Fähigkeiten einsetzen soll, um die Erde in eine solidarische Gemeinde zu verwandeln, in der jeder sein individuelles Glück im Zusammenhang mit dem allgemeinen Glück realisieren kann.

Die Aversion gegen Menschen, die es besser wissen wollen, ist eine untergründige Ablehnung gegen die selbst zu findende Wahrheit und eine Verwerfung jener religiösen Geister, die durch Erleuchtung unfehlbar geworden seien. Durch keinen dialogischen Streit können diese Argumente bestätigt oder widerlegt werden.

So ergeben sich widersprüchliche Mischungen aus religiösem Bekennen und antireligiösem Aufbegehren.

Seltsam, dass nur von regierungskritischen Widerständlern verlangt wird, dass sie sich keines Besserwissens rühmen sollten. Die Mächtigen und Erfolgreichen hingegen sind felsenfest davon überzeugt, ihre Weise des Regierens und Wirtschaftens sei die unwiderlegbarste und beste der Welt.

Mit diesen Methoden des „Teile und Herrsche“ wird das Volk endlos gespalten, sodass es keine Mehrheiten bilden kann, um die Herrschenden legitim vom Thron zu stoßen.

Zivile Ungehorsame verüben keine Gewalt gegen Menschen, wenn sie gegen belanglose Alltagsgesetze verstoßen. Im Gegenteil: mit Recht werfen sie ihrerseits den Regierenden vor, mit Gesetzen einen gesetzesfreien Schub ins Abgründige zu unterstützen.

Der berechtigte Vorwurf der Widerständler ist, den absehbaren Untergang der Welt nicht energisch zu stoppen – sodass er mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten wird.

Was heißt Untergang der Welt? Nicht das Ende des Planeten – der nach physikalischen Erkenntnissen erst in Millionen Jahren verglühen wird.

Auch nicht das ultimative Ende der gesamten Menschheit. Nicht ausgeschlossen, dass reiche und privilegierte Minderheiten Inseln des Überlebens für sich erobern können.

Es heißt das, was man schon seit Jahrtausenden beobachten kann: die scheinbar irreversible Beschädigung der Natur zugunsten eines ominösen Fortschritts der Menschheit, der nichts anderes ist als ein Fortschritt in den Untergang.

Wie viele Menschen, Tiere, Pflanzen und Bestandteile der Natur mussten schon dran glauben? Und noch immer gibt es Hirnverbrannte, die den Tod der Natur nicht wahrnehmen wollen. Sei es, weil sie selbst vom Unheil der Welt profitieren, sei es, dass sie so viel Angst vor dem Verhängnis haben, dass sie dieses nicht wahrnehmen können. Wenn sie krampfhaft ihre Augen schließen, um keine Gefahren zu sehen, sind sie überzeugt: es gibt auch keine.

Auch hier gibt es in Europa – im Gegensatz zum biblizistischen Amerika – eine verdeckte antireligiöse Stimmung, die gegen jede Form apokalyptischer Phantasien allergisch ist.

Der Westen ist so stolz auf seine Überlegenheit durch Fortschritt, dass er sich nicht vorstellen kann, wie dieser zum grauenhaften Rückschritt werden kann.

Der gewaltlose Verstoß gegen ein untergeordnetes Gesetz geschieht – im Namen des wahren und ungeschriebenen Gesetzes, der das ideale Ziel einer Polis ist: des allgemeinen Friedens von Mensch und Natur.

Wenn das geschriebene Gesetz missbraucht wird, um das Ziel einer humanen Weltgesellschaft zu vereiteln, muss es zu reformerischen Zwecken durchbrochen werden, um an das wahre Ziel der Vernunft hinzuweisen: an die Symbiose des Menschen mit der Natur.

Es sind nicht die gewaltfreien Aktivisten, die gegen den Geist humaner Gesetze verstoßen, es sind die Regierungen, die die Gesetze benützen, um das Ziel einer rationalen Menschheit zu verhindern: das Ziel des Überlebens und eines guten Lebens.

Es ist die Regierung, die gegen die Entscheidung des obersten Gerichts verstößt und fast nichts unternimmt, um das Überleben der Menschen zu garantieren. Die Regierung müsste angeklagt werden wegen Missachtung unseres obersten Gerichts.

In Deutschland wird die Welt immer mehr auf den Kopf gestellt. Diejenigen, die wegen Unterlassung verklagt werden müssten, maßen sich an, die wahren Gesetzeshüter zu sein und die Kämpfer für Humanität an den Pranger zu stellen.

Entscheidende Prozesse laufen schief in dieser Gesellschaft. Wer sich, nach Kant, seines eigenen Kopfes bedient, um seine autonome Meinung der geistesverwirrten Obrigkeit entgegenzusetzen, wird von den Mächtigen als selbsternannter Aktivist geschmäht.

Offenbar sind wir dabei, in preußische Verhältnisse zu regredieren, in denen niemand ohne Zustimmung von Oben seinen Mund auftun und seine Meinung in der Öffentlichkeit sagen kann.

Mündigkeit ist selbsternannte Autonomie, die keine obrigkeitliche Lizenz benötigt, um zu denken und zu tun, was sie für richtig hält.

Nicht die Aktivisten müssten auf die Anklagebank, sondern die Regierenden, die nicht mehr wissen, was sie tun.

Seine Meinung kund zu tun, die man für wahrer hält als die der Regierung, heißt noch lange nicht: Faschismus. Aufrechte Demokraten sind keine Zwangsbeglücker, Sokrates ist nicht Platon, der seine Herrschaft der Weisen in Gewaltherrschaft verkommen ließ.

„Gewalt“ überlegener Argumente ist keine Gewalt der Waffen. Argumente allerdings kennt man hierzulande nicht mehr. Ihre Gesprächsrunden sind keine rationalen Dialoge, sondern nur noch rabulistische Predigten. Jeder kennt jeden und weiß, mit welchen Floskeln er die erwartbaren Phrasen seiner Gegner niederbügeln kann.

Wenn das herrschende Gesetz es zulässt, dass es benutzt werden kann, um das Überleben der Menschheit in Gefahr zu bringen, ist das Recht schleichend zum Unrecht verkommen – und müsste dringend verändert werden.

Unsere Herrschenden sind nicht in der Lage, das Anliegen der jungen Protestler und ihre berechtigten Methoden zu verstehen, geschweige anzuerkennen. Herablassend blicken sie auf die Geistesverwirrten, denen sie scheinbar geduldig, aber unmissverständlich erklären, dass sie sich auf dem Irrweg befänden, jenem Weg in die Hölle, den, laut UN-Guterres, die ganze Welt eingeschlagen hat.

Was wir brauchen, sind Menschen, die sich dem Scheingetue der Regierungen entziehen, indem sie sich auf jenen Geist berufen, der den Kern des Rechtssystems bildet: den Geist des Rechts, der human sein will. Dieser Geist müsste die politische Voraussetzung aller Humanität garantieren: das Überleben der Gattung inmitten des Überlebens der Natur.

Gegen das Suizidhandeln der Verantwortlichen, die eins und eins nicht mehr zusammenrechnen können, hilft nur ein Aufstand der Aufrechten, die sich am Vorbild eines Sokrates oder Gandhi orientieren.

Sokrates riskierte lieber den Tod, als seiner autonomen Ethik zu entsagen. Keine Sekunde lang ließ er sich von der Mehrheit seiner Volksrichter irritieren und sagte ihnen frank und frei seine Meinung über eine gerechte Demokratie, in der jedes zoon politicon seiner selbstbestimmten Autonomie folgt und sich keiner außengeleiteten Macht unterwirft.

Er verdarb nicht die Jugend, sondern im Gegenteil: er versuchte, sie zur politischen Verantwortung zu bringen. Die Polis war in Gefahr, durch Eigennutz der Reichem und Mächtigen zu verkommen.

„Also wandte ich mich persönlich jedem einzelnen zu, um ihm die die meiner Meinung nach größte Wohltat zu erweisen; ich bemühte mich, nämlich, einem jeden von euch die Überzeugung beizubringen, dass er Unrecht täte, sich eher um sein Hab und Gut zu bekümmern als um sich selber und um die möglichste Förderung seiner sittlichen und geistigen Bildung.“

Nach Sokrates ist ein Leben ohne tägliche Prüfung und Erforschung nicht lebenswert.

Längst ist der sokratische Geist in Deutschland erloschen. Wenn wir ihn nicht wieder zum Leben erwecken, wird es keine Zukunft für Deutschland geben. Worin besteht der sokratische Geist?

Er will die Menschen zum Nachdenken bringen.

„Er ist ein steter Unruhstifter und vergleicht sich mit einer Bremse, die einem großen und edlen, aber etwas trägen Ross unaufhörlich aufsitzt. Seine Menschenprüfung hat den Zweck, die Leute zur Selbstbesinnung zu bringen, zum Nachdenken über das, was sie eigentlich wollen, über Sinn und Zweck ihres Lebens.“

Fortsetzung folgt.