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Welt retten! Aber subito! XXIX

Tagesmail vom 25.11.2022

Welt retten! Aber subito! XXIX,

„In des Herzens heilig stille Räume
Mußt du fliehen aus des Lebens Drang,
Freiheit ist nur in dem Reich der Träume
Und das Schöne blüht nur im Gesang.“   (Schiller)

Ersetze die Worte „des Herzens heilig stille Räume“ mit privater Isolation,
„Reich der Träume“ mit Rausch der Geschwindigkeit und des Reichtums,
„das Schöne blüht nur im Gesang“ mit lebloser Natur und amerikanischer Popmusik
und du hast Schiller-Deutsch in Gegenwarts-Deutsch übersetzt.

Was bleibt vom Original? Die Flucht aus des Lebens Drang.

Schiller, einstiger Freund der Französischen Revolution, war vor der Guillotine Robespierres mit Abscheu geflohen – um ins Deutsche Reich apolitischer Innerlichkeit zurückzukehren.

Wenn Existieren bedeutet: die vitale Symbiose von äußerem und inneren Dasein, von Tun und Beten, von Agieren und Denken, so war die Flucht ein Abschied vom prallen Leben.

Ein Historiker des 19. Jahrhunderts nennt die Flucht: „die Verständnislosigkeit der Deutschen für die Tat.“ (W. Lütgert)

Wohin waren die Angsthasen geflüchtet?

In die berühmte deutsche Innerlichkeit, die sich gegen alle Einflüsse des politischen Lebens verbarrikadiert.

Für sie war nicht das Hin und Her des irdischen Lebens wichtig, sondern die kontemplative Vorbereitung für das Jenseits. Es war die erste kollektive Abwendung der Deutschen von ihrer Religion und Hinwendung zur Erde gewesen.

Und nun die abrupte Abkehr von der Welt und die Rückkehr zur Sehnsucht nach der überirdischen Heimat – die nicht mehr vom Glanz des himmlischen Reichs umstrahlt wird, sondern vom Weltruhm deutscher Tüchtigkeit, technischer Fertigkeit und globalen Wirtschaftserfolgs.

Pardon, waren das nicht doch irdische Faktoren – und keineswegs Symbole der Ewigkeit?

Es war ein Zwischenreich aus Erde und Himmel, aus Diesseits und Jenseits. Religion in ihrer einstigen Erdenflucht hatte sich vermischt mit der Hinwendung zur Welt. Das zeitlose Paradies über den Wolken hatte materielle und zeitliche Formen angenommen.

Wenn Gottes Reich sich nicht von selbst einstellt, muss der Mensch es durch Fortschritt und grenzenlose Macht über Mensch und Natur zu ersetzen versuchen.

Deutschlands gelehrte Pfarrerssöhne hatten dafür gesorgt, dass Aufklärung – oder das angstfreie Leben auf Erden – und Religion – die Sehnsucht nach dem Drüben – nicht zu feindlichen Gegensätzen wurden, wie etwa in Frankreich. Es sollte zum Kompromiss aus Oben und Unten kommen. Seit jener Zeit ist Kompromiss in Deutschland zum einzigen Kriterium der Wahrheit geworden.

Eine Regierung ohne kompromissfähige Koalition steht unter dem Dauerverdacht einer hochmütig-besserwissenden platonischen Zwangsbeglückung.

Zwar kann Wahrheitsfindung, durch demokratische Kompromisse erleichtert, praktisch gefördert werden. Am Ende aber will Wahrheit frei sein von allen Irritationen, Denkfehlern, Lügen und aussichtslosen Widersprüchlichkeiten. Dieses Produkt der Reinheit und Klarheit nannte man früher Ideal.

Den Deutschen sagte man lange nach, dass sie ein Volk des Idealismus waren. Sie ersannen Denkgebilde aus idealen Elementen, gereinigt von aller irdischen Unvollkommenheit. Der Idealismus war einst eine Erfindung griechischer Heiden und hatte mit jenseitiger Flucht nichts zu tun. Platons ideales Reich war kein religiöses Jenseits. Gleichwohl war es verlockend, den Heiden zum idealen Vorläufer des Christentums zu erklären.

Erst als Religion und irdisches Ideal zusammenflossen, wurde aus dem Ideal eine durch Fortschritt zu erstrebende Realität.

Die westlichen Staaten dachten und handelten real, Deutschland hingegen blieb dem Idealen treu – dem Idealen in Kunst und Philosophie. Doch mit einem großen Unterschied zum religiösen Jenseits, das passiv erhofft und in Demut erbeten werden musste: die neue Idealität musste selbst erdacht und zur Leitlinie des irdischen Lebens erklärt werden.

Diese Leistung vollbrachten die deutschen Literaten und Philosophen, weshalb Mme de Staël – die energischste Gegnerin Napoleons – die Deutschen zum Volk der Dichter und Denker ernannte.

Einerseits war die Bezeichnung kritisch gemeint: die Deutschen waren zur politischen Veränderung der Realität unfähig. Andererseits aber war es ein hohes Lob: schaut her, wie dieses zerrissene und machtlose Volk in der Mitte Europas das pralle Leben ersetzen kann durch Gedanken und Kunst: kurz, durch Innerlichkeit.

Mit ihrer Aversion gegen reale Politik fielen die Deutschen zurück in die Passivität lutherischer Untertanen, die jeder Obrigkeit zu gehorchen hatten. Jede Obrigkeit war von Gott und forderte absoluten Gehorsam.

Während Franzosen und Engländer die Welt eroberten, ihre revolutionären Untertanen Freiheit und Gleichheit erkämpften, verkrochen sich die Deutschen in „innerliche Freiheit“ und bauten ihre Welt in luftigen Gedanken auf.

Ihre philosophischen Systeme glichen Schöpfungserzählungen. Wie Gott aus Nichts die Erde erschaffen hatte, so erschufen die Denker mit der bloßen Kraft ihrer Gedanken die Erde und bestimmten die Geschichte der Menschheit bis zum Ende.

Für Deutsche bedeutete das Finale der Geschichte den endgültigen Triumpf ihrer Gedanken über die Welt. Die Macht ihres Denkens kürte sie zum auserwählten Volk unter allen Völkern. Hier kam es zur Konkurrenz mit dem jüdischen Volke, das sich als auserwähltes Volk Gottes bezeichnete. Die schrecklichen Folgen dieser Konkurrenz haben wir erlebt.

In ihren Gedanken waren die Deutschen Götter und Könige, in Wirklichkeit jedoch geduckte Untertanen. Solche Phänomene kann man noch heute erkennen, beispielsweise an der deutschen Fußballnationalmannschaft.

Mit dem Mund – also mit ihren Gedanken – sind sie die besten Kicker: keck und aufmüpfig. Wenn‘s aber ernst wird, halten sie ihre Klappe – und fühlen sich dennoch als die Mutigsten der Welt.

Die Abneigung der Deutschen gegen politische Taten führte zur Abnabelung von ihren verehrten Griechen. Denn diese dachten und handelten durch und durch irdisch. Ihre Aufklärung fegte alle mythischen Götter vom Tisch und ersetzte sie durch menschliche Vernunft.

Während der Glaube an weltferne Götter Unterwerfung bedeutet, ist Vernunftglaube das aufrechte Bekenntnis zur Autonomie: der Mensch bestimmt selbst, was er zu tun und zu glauben hat. Die Frommen hingegen sind so heteronom wie die ganze Moderne ihrem Fortschrittsglauben gegenüber. Wer heute am Fortschritt zweifelt, wird als Ketzer verdammt.

Dass der Begriff selbsternannt heute als Schimpfwort gilt, lässt erkennen, in welchem Maße Autonomie noch immer als heidnische Sünde gilt. Das Ziel der Moderne ist nichts anderes, als alle Völker durch ökonomische Anreize zu manipulieren.

Am Ende der Geschichte wird es zwei Klassen geben: die Klasse der reichen Manipulierer und die Klasse der Schwachen und Armen, die durch allpräsente Überwachung an die Kandare gelegt werden.

Die Klasse der Dominanten hat sich schon derart an die rasant wachsende Macht über ihren Pöbel gewöhnt, dass sie die geringsten Proteste gegen ihr Regime mit immer härteren Strafen ahnden muss. Den kleinsten Zweifel an ihrer Allmacht empfinden sie als Blasphemie: weshalb sie selbst harmlose Klimaproteste immer weniger ertragen.

Die Trennung vom griechischen Einfluss auf ihre Bildung führte zu heftigen Streitigkeiten um die Frage: Was ist echte Bildung? Das altsprachliche Gymnasium verlor seine Dominanz und musste dem Realgymnasium den Vorrang einräumen.

Mit dem Aufkommen des Kapitalismus und der Naturwissenschaften verlor die humanistische Bildung ihre führende Bedeutung zum Mündigwerden und degenerierte zur Ausbildung in beruflichen Fertigkeiten.

Nicht mehr das Humane war oberstes Ziel der Bildung, wie die antike Philosophie lehrte, sondern das technisch und militärisch Überlegene im Wettkampf um die besten Plätze.

Es kam zu heftigen Streitigkeiten zwischen denen, die die Antike als religionskompatibel empfanden und denen, die Vernunft und Glauben als unversöhnliche Gegner betrachteten. Christliche Gymnasien hielten erbittert daran fest, dass sie eine „rein auf sich selbst gestellte Humanitätsbildung für wertlos und ohnmächtig hielten“.

Hinzu kam eine ganz andere Front: die mächtig gewordenen Naturwissenschaften hielten nichts von bloßen Textinterpretationen und Schwätzerwissenschaften. Helmholtz, der bedeutende Physiker, konnte trefflich zuschlagen:

„Er sah voraus, dass die künftigen Generationen sich genötigt sehen werden, „strengere Schulen des Denkens durchzumachen, als die Grammatik zu gewähren imstande ist.“ Er fand, dass die sprachlichen Studien nicht an strenges Denken gewöhnten und ihre Schüler „meist zu sehr geneigt waren, sich auf Autoritäten zu stützen, auch da, wo sie sich ein eigenes Urteil bilden könnten.“ (in Lütgert, Die Religion des deutschen Idealismus)

Hier war der positivistische Streit um die zuverlässigste Erkenntnis voll entbrannt. Quantifizierende Wissenschaften können überprüft, ihre Experimente jederzeit wiederholt werden, sodass jede Hypothese nach Belieben falsifiziert oder verifiziert werden kann. Der Streit um Worte hingegen verendet stets in ergebnislosem Palaver.

Auch Nietzsches Kritik an den preußisch-dirigistischen Schulen lässt keine Unklarheit aufkommen.

„Durch den autoritären Schulbetrieb wird der klassische Unterricht zur blutleeren Erinnerung an Vergangenes. Der Charakter der Fabrikarbeit, den die wissenschaftliche Forschung immer mehr bekommt, überträgt sich auch auf die Schule. Statt dass der Mensch gebildet wird, wird er zum Handwerker und Werkzeug gemacht. In Wirklichkeit erzieht die Schule aber nicht Gelehrte oder Gebildete, sondern das Gegenteil von beiden – Journalisten. Die geistige Kraft wird durch einen unverdaulichen geschichtlichen Stoff belastet. Damit wird die selbständige Persönlichkeit erdrückt. Die Jugend erscheint als Spätling und Epigone: die Folge ist, dass sie sich selbst nicht mehr ernst nimmt.“

Schuljahre wurden immer mehr zur Strafe für die Kinder. Der bewährte Grundsatz non multa sed multum (nicht vielerlei, sondern das Richtige intensiv) wurde in sein Gegenteil verkehrt.

Am schlimmsten aber wurde die Pest der Notengebung, die alle Schülergenerationen in Angst und Schrecken versetzte. Typisch die folgende Aussage über die Schule:

„Ist es denn nicht fast grausam zu nennen, das Schülerleben vom 6. bis 20. Jahre in die Länge zu ziehen? 14 Jahre auf der Schulbank!“

Dazu kam der allpräsente Prüfungs-, Versetzungs- und Zeugnisunfug. Der Durchschnitt der Schüler stand unter dem Druck beständiger Angstgefühle, durch welche die Jugend entweder überlastet oder abgestumpft wurde.

Durch den immer schärfer werdenden Konflikt zwischen antiker und christlicher Bildung wurden die Schüler immer unfähiger, herauszufinden, ob sie gen Athen oder gen Golgatha neigten.

Auch der christliche Unterricht wurde immer inhaltsloser: „Der Junge bleibt innerlich leer, arm, unberaten, ungeliebt und ungeleitet, ungewarnt und ungeschützt. Eine trübe öde Stimmung liegt über dieser Schule, die das Herz leer lässt und das Gewissen vernachlässigt.“

Was war das Ergebnis dieser trüben Mischung aus totem Idealismus, absterbendem Christentum und barbarischem Germanentum?

„Die enge Verschmelzung von Deutschtum, Christentum und Antike begann sich zu lösen, eine schwere, tiefgehende Krisis, die schmerzhafte Erschütterungen zur Folge haben musste.“

Es begann die Zeit einer riesigen Unsicherheit in Geistes- und Bildungsdingen, die besonders junge Menschen immer mehr Ausschau halten ließ nach Vorbildern und Führern. Sie sollten ihnen zeigen, wohin die Reise geht. Allgemeiner Pessimismus wurde zur Signatur jener Zeit – die andererseits von ökonomischen und naturwissenschaftlichen Erfolgen geradezu explodierte.

Der Ruf nach dem Großen Führer war keine flüchtige Mode, sondern das Ergebnis einer Bildung, die nicht mehr wusste, was sie denken und glauben sollte. Als der lang ersehnte Führer endlich die Massen zu begeistern begann, erzählte er ihnen haarscharf, was sie zu tun und zu lassen hatten. Das deutsche Elend war keine Augenblicksoffenbarung, es wurde in langen Zeiträumen eisenhart geschmiedet und gestählt.

Wie es der Zufall will, veröffentlichten vor Tagen die Gazetten einen internationalen Bildungstest, in dem die deutschen Schüler miserabel abschnitten:

„»Die Ifo-Studie zeigt: Deutschland befindet sich in einer handfesten Bildungskrise. Die individuellen Chancen dieser jungen Menschen stehen auf dem Spiel, aber genauso der Wohlstand unseres Landes.« Matthias Seestern-Pauly (38): »Die Bundesländer haben zu viel experimentiert. Methoden wie ‚Schreiben nach Gehör‘ sind gescheitert, auch der Teil-Verzicht auf Schulnoten.«  »Wir brauchen eine Mission Zero – kein Kind darf mehr ohne Ausbildungsfähigkeit unsere Schulen verlassen. Dazu brauchen wir jetzt ein ambitioniertes, individuelles Förderprogramm.« Die Bundesministerin Stark-Watzinger (54, FDP), so Jarzombek, „beerdigt aber gerade dieses Programm – ein kapitaler Fehler, der korrigiert werden muss.«“ (BILD.de)

Wer ist auf Platz eins? China, einer der schärfsten Überwachungsstaaten der Welt. Als ob das 19. Jahrhundert es vorausgesehen hätte: Notenpest führt zur Bildungsdiktatur. Bildung ist zum Drill der Massen geworden, deren fachidiotische Fähigkeiten alle demokratischen Kompetenzen ersticken.

Kein Journalist erkannte die Schlitzohrigkeit dieses Bildungstests, der ausgerechnet aus einem Wirtschaftsinstitut stammt. „Selbsternannte“ Bildungsökonomen besitzen keine Hemmungen, Bildung mit wirtschaftlichem Erfolg gleichzusetzen.

Am gebildetsten sind offenbar jene Genies, die demnächst die kaputte Erde verlassen werden, um auf dem Mars kläglich zu scheitern: Note eins mit Stern für alle Musks und Zuckerbergs. Sie erfinden die Welt ganz neu.

Wer hingegen Bildung als humane und demokratische Fähigkeit versteht, wird wegen Langeweile in den Orkus verbannt. Was sich nicht quantitativ überprüfen lässt, das ist nicht wettbewerbsfähig.

Offenbar gibt es keine kritischen Schreiber mehr. Niemand wurde stutzig, dass diese Studie von einem „objektiven“ Wirtschaftsinstitut veröffentlicht wurde. Gerade die Ökonomie gehört zu den fragwürdigsten Wissenschaften, weil sie sich als objektive Naturwissenschaft aufbläht, während sie nichts kann als verborgene Werturteile in quantitative Scheingesetze zu verfälschen.

Wie oft haben Ökonomen schon falsch gelegen, diese Priester des Profits – und niemand untersucht ihre fraglichen Methoden. Eine Schwindler-Wissenschaft erlebte eine unglaubliche Karriere und ernannte sich zu einer fast irrtumslosen Naturwissenschaft. Doch dies hätte zur Voraussetzung, dass Menschen nichts als biologische Maschinen seien.

In Wirklichkeit sind Menschen Wesen aus Natur und Geist. Die Natur selbst ist ein Organismus aus Materie und Psyche. Die Natur des Menschen ist weder spiritualistisch noch materialistisch, sie ist nicht berechenbar.

Warum geht es abwärts mit den Demokratien? Weil sie nicht mehr ihren Geist einsetzen, um scharf zu argumentieren, einfühlsam zu verstehen und empathisch zu überzeugen. Denn nur, wer seine Gegner verstanden hat, kann sie wirksam widerlegen.

Was hingegen geschieht bei uns? Putinversteher werden als hintergründige Demokratiefeinde diffamiert.

Deutsche hassen die Tat, die sie moralisch und politisch durchdenken müssten. Noch immer sind sie bruchgelandete Idealisten, die weder in der Realität angekommen sind, noch die angestrebte Zukunft ihrer Politik rechtfertigen könnten. Vielen Völkern fühlen sie sich überlegen, weshalb sie an den Grundzügen ihrer Erfolge nichts ändern wollen. Obwohl sie angeblich auf Neues begierig sind, denken sie nicht daran, das Alte und Gewohnte zu verändern – um die Klimagefahren energisch zu bekämpfen. Klimaaktivisten sind für sie nichts als Terroristen ihres Wohlstands.

Die Politik der letzten Jahrzehnte hatte weder Hand noch Fuß. Keine autonom denkenden Köpfe waren am Werk, sondern wechselnde Zeitumstände bestimmten die Grundsätze der Politik.

Weshalb deutsche Politiker im Grunde irrtumsunfähig sind. Stets handeln sie, wie der Zeitgeist es ihnen vorschreibt.  Unter sonst gleichen Umständen würden sie erneut das Gleiche tun: In der civitas terrena gibt es nichts Grundsätzliches zu verändern oder zu verbessern.

Klimakatastrophen hin oder her: das Böse wird herrschen, solange Gott es will. Basta und Amen!

Fortsetzung folgt.