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Welt retten! Aber subito! XLVIII

Tagesmail vom 03.02.2023

Welt retten! Aber subito! XLVIII,

Wir brauchen ein Bertrand-Russell-Tribunal II.

Vor der ganzen Welt muss die Frage erörtert und beantwortet werden:
Welche Mächte sind schuld, dass sich die Welt durch wachsende Krisen aufzulösen beginnt?

Das erste Russell-Tribunal hatte die Ursachen des amerikanischen Vietnam-Kriegs erforscht.

Das zweite müsste die heutige Schicksalsfrage der Gattung stellen: Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage.

Es geht um den homo sapiens, den weisen und verständigen Menschen, der alles andere als weise sein will. Weisheit haben nur jene nötig, bei denen kein Geld im Kasten klingt.

Weisheit war früher die Losung aller Menschen, die gerne auf Erden lebten. Lieber bedürfnislos und mit sich im Reinen, als reich und getrieben.

Ein erfülltes Leben war unabhängig von Dingen und Gütern.

Die Gegenwart legt keinen Wert auf Frieden mit sich selbst, diese Schwäche mangelnden Ehrgeizes und müßigen Dahintreibenlassens.

Sie ist getrieben von Zwecken, die sie nicht präziser definieren kann als Machterringung durch fortschreitende technische Perfektion – die sich in Herrschaft über Mensch und Natur erweist.

Weisheit? Wäre ehrgeizlos und ohne Willen zum Sieg über endlose Konkurrenten.

Wie müssen wir Demokratie einschätzen? Als politische Weisheit oder als machtgetriebenen Siegeswillen?

Wäre sie weise, hätte sie keinen Ehrgeiz, Natur zu beherrschen und rivalisierende Völker in den Schatten zu stellen.

Also müsste sie weise sein, um ihre Demokratie nicht zu gefährden.

Ist sie aber nicht. Alle führenden Nationen platzen vor Ehrgeiz, die anderen zu überflügeln und ihnen ihren Willen aufzudrücken. Zumeist nicht durch offene Gewalt, sondern per wirtschaftlicher und technischer Überlegenheit, die sich nach außen friedlich und verständig zeigt, tatsächlich aber keinem Rivalen die Chance der Selbstbestimmung gibt.

Demokratien werden von zwei Urelementen bestimmt, die auf Dauer nicht zueinander passen: dem humanen Willen zum freien und gleichen Dasein aller Menschen – und dem ungezügelten Trieb, die Siegespalme der Reichsten und Mächtigsten auf Erden zu erringen.

Selbst wenn wir den schrecklichen Putinkrieg beendigen könnten, lauerten die nächsten, viel gefährlicheren Kriegsgefahren bereits um die Ecke. Der Krieg zwischen Amerika und China, zwischen Israel und Iran.

Nirgendwo gibt es Versuche, die wachsenden Spannungen mit ernst gemeinten Maßnahmen zu bekämpfen. Das Höchste, was geschieht, sind diplomatische Rituale, um die Welt mit Friedensparolen zu blenden.

An den Grundproblemen aber ändert sich nichts; selten, dass sie in aller Klarheit offengelegt werden würden:

China und Amerika rangeln um die führende Rolle in der Welt mit den effektivsten technischen und militärischen Machtinstrumenten.

Aus religiösen Unfehlbarkeitsgründen hasst der Iran die jüdische Nation und wird nicht müde, sie mit atomarer Zerstörung zu bedrohen.

Es gibt kein gleiches Friedensziel, dem alle Nationen entgegenstrebten. Vor kurzem schien es noch, als hätten sich alle Länder auf das Ziel des Weltfriedens geeinigt. Heute wird das als Traum von Schwächlingen verachtet, weshalb das Motto des deutschen Pastorensohns Nietzsche die Welt regiert: der Wille zur Macht.

„Diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens … dies mein Jenseits von Gut und Böse, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt … Wollt ihr einen Namen für diese Welt? … Ein Licht für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? … Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“

Jenseits von Gut und Böse heißt: die Weisheit des guten Miteinanders ist zur Farce geworden. Moral ist nichts als die Fassade des Willens zur Macht. Vorbei die Phase der abendländischen Geschichte, in der das Gute mit dem Bösen kämpft, um ihn am Ende der Geschichte zu besiegen.

Vorbei die Periode des Mephisto, jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Was bleibt vom ganzen Gut-Böse-Spuk übrig? Die Alleinherrschaft des Bösen, der nur noch Böses schafft. Der Sieg des Bösen wäre unvermeidbar.

Bliebe nur Gott, der am Ende der Zeiten das Böse – oder den Antichristen – besiegen müsste, um die Erwählten zu retten und den Rest ins höllische Feuer zu schicken.

Eine UNO im Dienst des allgemeinen Friedens wäre eine Lachplatte.

Wie Schlafwandler seien die europäischen Mächte in den Ersten Weltkrieg geschliddert, schrieb ein englischer Historiker. Sind wir momentan wieder in derselben Lage? Debatten über die Ziele der Völker gibt es nicht.

Zumeist denkt man an den nächsten Wirtschaftskrieg, die nächste technische Genie-Leistung, um die Welt zu verblüffen und die globalen Märkte zu erobern. Im Hintergrund denkt jeder an das absolute Verhängnis.

Alles andere bleibt Stoff für Predigten im biblischen Amerika – die kein deutscher Auslandsjournalist für wichtig genug hielte, um sie als politische Botschaft nach Deutschland zu übermitteln.

Deutschland hingegen, stolz auf seine abendländischen Werte, denkt nicht daran, Offenbarungen als politik-relevant einzuschätzen. Erneut erhalten wir die Chance, als Schlafwandler in den apokalyptischen Kampf zu ziehen.

Bislang waren Russland und Amerika die beiden Pole der Welt, die miteinander um den Sieg kämpften. Doch jetzt wird der Ukraine-Krieg, mit hoher Wahrscheinlichkeit, dem heiligen Russland das Genick brechen. Deutschland war bis gestern eingeklemmt zwischen russischen und amerikanischen Endzeiterwartungen. Christus sollte als Erlöser aus den Tiefen Russlands oder aus Gottes eigenem Land kommen.

Begierig übernimmt China – die uralte Friedensmacht in der Mitte der Welt – die russische Weltrolle, um Amerika Paroli zu bieten.

Amerikas Politik wird nicht nur von demokratischer Raison bestimmt, sondern in hohem Maße von christlichem Heilsgeschichtsdenken. Mindestens die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung vertraut nicht der Macht ihrer Vernunft, sondern dem göttlichen Willen zum Ende. Und das wird ein schrecklicher Kampf zwischen Gut und Böse, Heiland und Teufel sein.

Annika Brockschmidt hat zu diesem Thema interessante Dinge zusammengetragen:

„Erst im März 2021 empfahl Pastor Rick Joyner dem Publikum, christliche Milizen zu gründen, um sich im kommenden Bürgerkrieg zu verteidigen: „Sogar Jesus hat irgendwann gesagt: „ich bin nicht gekommen, um den Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Wir befinden uns gerade in dieser Zeit.“ Es ergebe keinen Sinn, für Einigkeit zu beten, stattdessen müssten sich die Christen gegen das Böse, das versucht, unser Land zu übernehmen, zu wehren. „Es gibt eine Zeit für Frieden und eine Zeit für Krieg heißt es im Buch Kohelet (Prediger). Nun, wir bewegen uns nicht auf Frieden zu, sondern auf Konflikt und Krieg. Gott, breche sie mit einem Eisenstab. Zerschmettere sie wie ein Töpfergefäss.“ Tatsächlich wird diese biblische Bildsprache im Kontext der theokratischen Herrschaft verwendet, in der Jesus und die Gläubigen eines Tages die Nationen mit eisernem Zepter regieren werden.“ Christen haben eine Verpflichtung, ein Mandat, einen Auftrag, eine heilige Verantwortung, das Land für Jesus Christus zurückzuerobern. Es ist Herrschaft, nach der wir streben.“ (Amerikas Gotteskrieger)

Biblische Sätze als Grundlagen weltlicher Politik nimmt kein Deutscher ernst. Obwohl er sich als Christ bezeichnet, fühlt er sich so weit aufgeklärt, dass er den Spuk der letzten Dinge nicht wörtlich nimmt.

Theologische Unterschiede zwischen Amerika und Europa werden von Deutschen ignoriert. Dabei sind sie noch immer ein wichtiges, wenn auch unterschwelliges Bindeglied zwischen Deutschland und Amerika – selbst wenn das Armageddon-ABC von deutschen Theologen nicht ernst genommen wird.

Nicht nur christliche Theologen betrachten Amerika als führende Weltmacht am Ende der Zeiten. Sondern auch jüdische Neokonservative, die nicht wenig Einfluss auf die amerikanische Politik haben.

Es gibt aber einen bedeutsamen Unterschied zwischen jüdischen und christlichen Endzeiterwartungen: Christen erwarten am Ende der Zeiten eine Konversion der Juden zu ihrem Glauben, sodass der Messias – laut Prophetie – endlich kommen könnte.

Doch was, wenn die Juden sich diesen christlichen Erwartungen verweigern? Dann wäre ein antisemitischer Kurswechsel der amerikanischen Christen unvermeidbar. Amerika wäre nicht länger der engste Verbündete des Heiligen Landes – mit unaussprechlichen Folgen für die ganze Welt.

Neokonservative sind nicht die größten Friedensfreunde. Im Gegenteil: ohne finale Kämpfe keine eschatologische Politik. Religiöse Glaubenssätze werden die Weltpolitik bestimmen.

Was sich – nach John Kornblum – momentan offenbart, ist ein weiterer Unterschied zwischen USA und Deutschland. Deutschland hatte sich nach dem Krieg zu einer vorbildlichen Friedensnation gewandelt. Amerika nicht. Das wollte Deutschland nicht zur Kenntnis nehmen und schlüpfte geschwind unter die Fittiche des Großen Bruders. So konnte es, auf Kosten der USA, seine Friedensschalmeien problemlos singen.

Das ging gut, solange Deutschland keine Feinde hatte. Doch als der gute Freund Putin plötzlich seine Maske fallen ließ, um sein wahres Schreckensgesicht zu zeigen, was geschah dann?

Jetzt müsste Deutschland endlich den Ernst der Lage erfassen, sich gestehen, dass es sich in Schröders Freund getäuscht hat und endlich die Frage stellen: sind wir noch immer Pazifisten oder müssen wir, um solidarisch mit einer anderen Nation zu sein, beherzt zu den Waffen greifen?

Die Deutschen müssten eine doppelte Leistung vollbringen: a) erst zeigen, dass ihr Friedensgehabe gar nicht so ernst gemeint war, sonst hätten sie schon längst die NATO verlassen müssen – oder b) umgekehrt, dass ihre NATO-Mitgliedschaft gar nicht so ernst gemeint war, sonst hätten sie ihre Armee nicht so verludern lassen dürfen, wie sie es taten.

Wieder mal war es ein fauler Kompromiss. Die Schlampereien der Bundeswehr sollten subkutanen Frieden signalisieren, die Mitgliedschaft aber in der NATO militärische Präsenz. Wie man‘s eben braucht, um weder Fisch noch Fleisch zu sein. Kornblum:

„Nach den Verheerungen des 20. Jahrhunderts haben die Europäer Frieden als ihr wichtigstes Ziel benannt. Es gibt Friedensbewegungen, Friedensstrategien und Friedensakademien. Die EU nennt sich sogar „Friedensprojekt“ und setzt so Frieden noch vor Sicherheit der Demokratie, Toleranz oder Gerechtigkeit. Amerika hingegen ist ein kontinentales Land, das seine Sicherheit, seine Werte und seine Unabhängigkeit schützen will. Wir beginnen mit Verteidigung und bauen unsere Strategien hierauf auf. Wenn die Europäer aber mit jemandem konfrontiert sind, der keinen Frieden will, dann kracht ihre Strategie in sich zusammen. So geschehen bei Putin. Meiner Meinung nach haben Deutschland und Russland immer noch mehr gemeinsam, als man denkt. Vor allem, weil sie für mehrere hundert Jahre irgendwie außerhalb des Mainstreams europäischer Politik und Kultur blieben. Ich habe das selbst erlebt: Wenn Russen und Deutsche sich begegnen, dann ist da immer ein Gefühl gemeinsamer Identität – gegen die großen atlantischen Mächte.“ (WELT.de)

Die Worte Kornblums verraten die heimliche Eifersucht der Amerikaner auf die russisch-deutsche Konnexion, die scheinbar viel inniger war als die pflichtgemäßen Beziehungen zu Trump & Co, mit denen die Deutschen nichts anzufangen wussten.

Auch aus wirtschaftlichen Gründen scheinen die transatlantischen Sympathien immer mehr abzuflachen. Die Deutschen haben Angst, Washington könnte sich immer mehr von Berlin abwenden und sich dem „pazifischen Raum“ zuwenden.

Die deutsche Empathie mit den Siegern bezog sich ohnehin immer mehr auf Hollywood, Gospels, Pop und Rap als auf das Ergründen und Verstehen der ambivalenten religiösen Demokratie.

Robert Kagan, Neoliberaler, bestätigte schon im Jahre 2003 Kornblums Analyse der wankenden Friedens- und Kriegsbereitschaft:

„Wir sollten nicht länger so tun, als hätten Europäer und Amerikaner die gleiche Weltsicht oder als würden sie auch nur in der gleichen Welt leben. In der alles entscheidenden Frage der Macht – in der Frage nach der Wirksamkeit, der Ethik, der Erwünschtheit von Macht – gehen die amerikanischen und europäischen Ansichten auseinander. Europa wendet sich ab von der Macht. Es betritt … ein posthistorisches Paradies von Frieden und relativem Wohlstand, das der Verwirklichung von Kants „Ewigem Frieden“ gleichkommt. Dagegen bleiben die Vereinigten Staaten der Geschichte verhaftet und üben Macht in einer anarchischen Hobbes Welt aus, in der auf internationale Regelungen und Völkerrecht kein Verlass ist und wahre Sicherheit … nach wie vor von Besitz und Einsatz militärischer Macht abhängen.“ (Macht und Ohnmacht)

Merkwürdig nur, dass Kants Friedenswillen in Deutschland kaum noch bekannt, geschweige attraktiv wäre. Sie loben ihre Klassiker und berühmten Namen – um sie schweigend ins Regal zurückzustellen.

Je mehr es abwärts geht mit der amerikanischen Demokratie, je mehr fürchten die Amerikaner, die Deutschen könnten ihnen untreu werden. Zudem verschärfen sich die wirtschaftlichen Rivalitäten, die Klimakrise tut ihr Übriges, die religiösen Glaubensgrundlagen werden sich immer fremder.

Wenn beide Staaten sich nicht endlich bereit erklären, ihre tiefgreifenden Unterschiede wahrzunehmen und zu analysieren, werden sie rettungslos auseinanderdriften. Die deutsche Bewunderung für Silicon Valley oder Elon Musk wartet nur darauf, ins Gegenteil umzuschlagen.

Intellektuell fühlen sich die Deutschen den einstigen Auswanderern noch immer überlegen. Dabei übersehen sie, dass fast die gesamte ökologische Literatur auf amerikanischem (oder englischem Boden) gewachsen ist. Fast alle relevanten Bücher zur Gegenwart stammen von amerikanischen Autoren.

Das ist die eine Seite von Gottes eigenem Land. Die andere heißt nicht nur Trump – an dessen Analyse fast der gesamte deutsche Journalismus scheiterte – sondern auch Dabbelju Bush:

“9/11 führte dazu, dass George W Bush sich vom „sanften“ Konservativen zum Kreuzzügler gegen den Terror wandelte. Er sprach von Gut und Böse, von Krieg und Opferbereitschaft. Einige Tage nach den Anschlägen sagte er, die Welt müsse „vom Bösen gereinigt werden“ und warnte: „Dieser Kreuzzug, dieser Krieg gegen den Terrorismus wird eine Weile dauern.“ Für Bush war der Krieg gegen den Terror ein Krieg in Gottes Auftrag.“ (Brockschmidt)

Solche Begriffe verstehen die Deutschen ebenso wenig wie sie bis heute ihre nationale Mutterfigur durchschaut hätten. Die Deutschen sind auf dem Feld rationaler Politik noch nicht angekommen.

Noch schwimmen sie im deutschen Wohlstand, den sie für ein weltprägendes Ereignis halten. Nicht mehr lange.

Fortsetzung folgt.