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Welt retten! Aber subito! XLV

Tagesmail vom 23.01.2023

Welt retten! Aber subito! XLV,

„Die deutsche Position ist äußerst verwirrt, weil das alte Denken tot ist, ein Neues aber noch nicht entstanden ist.“ (T. G. Ash in SPIEGEL.de)

Welches alte Denken ist tot? Das der Kreuzzüge, der Reformationszeit, des Aufklärers Friedrich, der Klassiker, von Bismarck, vom Ersten Weltkrieg, von Weimar oder gar vom Dritten Reich?

Das alte Denken der Nachkriegszeit ist so verheerend wie eh und je: das religiöse Über-Ich, die Konkurrenz der Völker, der gnadenlose Kapitalismus, die anhaltende Naturverwüstung, der ziellose Fortschritt ins Unendliche, die Bereitschaft zum Krieg, die Spaltung der Menschheit in Superreiche und Überflüssige, das Verbot des irdischen Glücks, die zurückkehrende Missachtung der Menschenrechte, die Bewunderung großer Männer, die Anbetung eines Männergottes oder maskuliner Genies, die sich nicht scheuen, die Welt mit Risiken zu gefährden, um in die Bücher der Geschichte einzugehen?

Wo hingegen bleibt das neue Denken, wie unterscheidet es sich vom alten? Wird es eine humane Wirtschaft geben, eine globale Naturverträglichkeit, Frieden auf Erden, die Nichtigkeit eines erdenfeindlichen Jenseits?

Wo überhaupt bleibt das Denken – im alten oder neuen Denken? Wird denn noch gedacht oder nur assoziiert, gefühlsmäßig inhaliert? Und wie? Nach Regeln der Logik des ausgeschlossenen Widerspruchs, eines strengen Dialogs, des Verstehens als Voraussetzung jeder Verständigung, der Absage an die Macht, der Akzeptanz aller Begabungen als gleichwertige, aber unvergleichliche Individuen, der Anerkennung einer universellen Moral?

Warum nur große Worte ohne jede Bedeutung? Können Historiker – oder Wissenschaftler, Politiker, Tagesschreiber, Industrielle oder Ökonomen – nicht mehr klar sagen, was sie wollen? Ohne ins Rätseln, Vermuten oder gefühliges Ahnden zu verfallen?

Gibt es nur noch verschlissene, hohle Nichtswörter wie links, rechts, halblinks, ultrarechts, gestrig, futurisch – und dies in konturloser Überidentität oder aggressiver Andersheit?

Die Forderung nach neuem Denken verdankt sich der Herrschaft einer Heilszeit (oder Heilsgeschichte), die keine zeitübergreifenden Wahrheiten mehr zulässt, sondern die Zeit als Abfolge endloser Augenblicke versteht. Wo in jedem Augenblick eine gänzlich neue Wahrheit erfunden werden muss, damit die Wahrheiten der bisherigen Augenblicke entsorgt werden können wie Abfälle der industriellen Produktion – die heute die globale Natur verwüsten.

Die schnell verderblichen Wahrheiten religiösen Heils, die sich allesamt einer höheren Offenbarung verdanken, stehen in krassem Widerspruch zu Wahrheiten heidnischer Vernunft, die nur gewechselt werden dürfen, wenn ihre Irrtümer und Fehler erkannt wurden. Ohne Grund keine Meinungsänderung, die wahr sein will.

Augenblicksoffenbarungen hingegen brauchen keine Argumente, sie können nicht widerlegt werden und sind – für die Dauer des Augenblicks – unfehlbar. Sie herrschen totalitär – in diesem Moment, im nächsten sind sie wieder gänzlich unwahr und abscheulich falsch.

Augenblickswahrheiten können sich jederzeit ändern, wenn sie der Aura der fortschreitenden Zeit nicht mehr in den Kram passen oder ihrem unstillbaren Hunger nach Abwechslung, ihrem Bedürfnis nach rasendem Fortschritt oder nach Alleinherrschaft über die Natur.

Naturnahe Kulturen, wie die der Indigenen, kennen nur zeitlose Wahrheiten; ihre uralte Natur bleibt ihnen wohlvertraut und prinzipiell unveränderlich.

Die beiden Zeit- und Wahrheitsbegriffe ringen gegenwärtig um Sein oder Nichtsein. Zwar will auch die Augenblickskultur die Natur erhalten, allein ihr nur dem Augenblick verhafteter Wahrheitsbegriff ist außerstande, sich eine zeitlos gültige Natur vorzustellen. Was man sich nicht vorstellen oder als Wahrheit denken kann, kann man politisch nicht realisieren.

Wenn die Klimabewegung sich nicht durcharbeiten kann zu den Grundfragen des Konflikts zwischen schillerndem Jenseits und der immer wahren gleichen Natur, wird sie unfähig bleiben, den Problemen der Welt an die Wurzel zu gehen.

Zwar wird sie viele Wunden für den Moment verbinden können, an eine dauerhafte Heilung aber wäre nicht zu denken. Nach kurzer Atempause würden die alten Wunden wieder aufbrechen und zu bluten beginnen.

Wir müssen den Dingen an die Wurzel gehen. Die Wurzel der Natur ist ihre zeitlose Wahrheit: Wahrheit ist kein Vorbeirasen wechselnder Augenblicksoffenbarungen, sondern das ruhige Erkennen der Natur, welches Mensch und Natur zur Symbiose verbindet.

Die meisten Philosophen der Neuzeit sind der Wahrheit der Natur untreu geworden und den Verführungskünsten der Augenblicks-Offenbarungen verfallen. Damit haben sie die Weisheiten der uralten Natur-Kulturen verraten:

„Die meisten Philosophen in der Geschichte der westlichen Philosophie haben sich überhaupt nicht für das Leiden der Tiere interessiert, mit einer kurzen Liste ehrenvoller Ausnahmen – Porphyrios, Plutarch, Schopenhauer, Jeremy Bentham, John Stuart Mill –, bevor wir in die Gegenwart kommen. In Indien sind die ganze buddhistische Tradition und ein Teil der hinduistischen Tradition stark auf das Tierleid eingestellt. Kant aber hat beispielsweise gesagt, Tiere seien lediglich Dinge, die wir benutzen können, wie es uns gefällt. Descartes hielt sie für bloße Automaten.“ (ZEIT.de)

Der Verrat der Philosophen beruht auf ihrer Höherschätzung göttlicher Offenbarungen und der Geringschätzung ihrer eigenen Vernunft, die nichts anderes ist als die Fähigkeit, die Stimme der Vernunft als Stimme der Natur wiederzuerkennen.

Sokratische Anamnese ist Erinnerung des Menschen an die Natur in seinem Gemüt und seinem autonomen Denken. Die afrikanische Philosophie, verwandt mit der sokratischen, spricht vom Ubuntu-Prinzip: „Ich bin, weil du bist, und weil du bist, bin ich auch.“ (SPIEGEL.de)

In der afrikanischen Ubuntu- und der griechischen Natur-Philosophie spricht der denkende Mensch nicht über die Natur, sondern mit ihr. Menschen sind keine Geschöpfe eines Allmächtigen, die durch ihr Verhalten von Ihm belohnt oder bestraft werden können. Sie sind Kreationen der Natur, die sich an ihre Einheit mit ihr erinnern können. Denkend und erkennend finden sie den Weg zurück in ihre Heimat bei Mutter Natur.

Bei Kant ist Natur ein amorpher, für den Menschen unerkennbarer Klumpen. Der wird nur erkennbar, wenn der Mensch ihn mit seinen apriorischen Fähigkeiten projektiv erkennbar macht. Er ist kein Schöpfer aus dem Nichts, aber ein Kenntlichmacher „aus dem Fast-Nichts“. Mit Hilfe seiner naturüberlegenen Erkenntnisgesetze muss er selbst herstellen, was er erkennen will. Die Natur wird zum niederen Abbild des überlegenen Menschen.

„Der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.“ „Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts, ursprünglich hineingelegt.“ (Kant)

Bei Kant war die Kluft zwischen Mensch und Natur nicht gottgleich, erst bei Hegel wurde sie zur absoluten Kluft:

„Natürlichkeit ist das, worin der Mensch nicht bleiben soll; die Natur ist böse von Natur aus.“

Der Geist des Menschen entstammt nicht der Natur, sondern ist dieser himmelweit überlegen. Da das Böse zu vernichten ist, muss der Mensch die Natur entweder liquidieren – oder aber durch Erkennen gnädig zu sich emporheben.

Kants Erkennen der Natur ist eine Art Selbsterkenntnis des Menschen, denn die Natur hat er nach seinem Bild gestaltet. Hier schert Kant aus der üblichen Bewertung der Naturwissenschaft als Erkenntnis eines Fremden und Anderen aus.

Kritiker der Naturwissenschaften behaupten, diese hätten mit dem Menschen nicht viel zu tun. Denn was soll uns die Erkenntnis der Natur bringen? Nichts als die Erkenntnis eines Fremden, das man als „Machtwissen“ ausnutzen kann.

Die übliche Unterscheidung zwischen Geisteswissenschaft als menschliche Selbsterkenntnis und Naturwissenschaft als Fremderkenntnis, was mich nichts weiter angeht, wäre bei Kant nicht ganz zutreffend.

Wäre Kant radikaler gewesen, hätte er sagen können: indem ich die Natur erkenne, erkenne ich mich selbst. Dann wäre er zum Vorläufer und Rivalen Freuds geworden. Der Mensch kann sich erkennen, aber nicht indem er sich selbst erkennt, sondern die Natur.

Eine kühne Idee, die heute verdrängt wird. Erkennen wir etwas von uns, wenn die Naturwissenschaften immer neue Sensationen bringen? Mit den Worten des Sokrates, der sich von der Natur mit der folgenden Begründung abgewandt hatte:

Felder und Bäume „können mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt“.

Naturwissenschaftler, die neue Erkenntnisse zu bieten haben, können sich nicht genug tun, die Brillanz ihrer Entdeckung in höchsten Tönen zu rühmen. Sollte aber eine naturwissenschaftliche Entdeckung dem Menschen nichts an Selbsterkenntnis bringen, wäre das laute Rühmen und Preisen nur eine Ersatzleistung für eine Erkenntnis, die uns weiter nichts anginge.

Sollte Sokrates aber Recht gehabt haben mit seiner Abkehr von jeder Naturerkenntnis, die uns nichts lehren kann: wozu werfen wir dann ungeheure Forschungsgelder aus dem Fenster, wenn sie uns in keinster Weise beim Selbsterkennen dienen?

Solche Fragen dürfen heute nicht gestellt werden, denn Naturwissenschaft ist sakrosankt und hat dem Fortschritt zu dienen. Nicht dem Fortschritt der Selbsterkenntnis des Menschen, sondern allein der Maschinen.

Das Ganze erinnert an das klassische Erkenntnisgefälle zwischen Mann und Frau. Der Mann erkennt die minderwertige Frau, indem er sie durch überlegenes Wissen auf sein Niveau zu heben versucht. Shaw verwendete diese Vorlagen als Vorbilder zu seinem Bühnenstück Pygmalion.

„So wie der Pygmalion des Ovid sein lebloses Kunstwerk liebt, liebt auch Higgins seine Schöpfung, jedoch nicht die Person Eliza selbst, sondern nur das sprachliche Kunstwerk, das er geschaffen hat. Higgins erwidert die Liebe Elizas nicht, ignoriert ihre menschlichen Bedürfnisse und sieht sie nicht als gleichwertig an.“

Der Mann, der sich hochmütig-gnädig der minderwertigen Frau annimmt, um sie auf seine Höhe zu heben, denkt nicht daran, sie als gleichwertig anzuerkennen. Seine Eitelkeit ist zu groß, als dass er die Emanzipationsleistung der Frau würdigen könnte.

Das entspricht der heutigen Arbeitssituation der Frau. Nach langen Zeiten verächtlicher Magdarbeit der Hausfrau hatte sie sich vor Jahren entschlossen, in die Arbeitswelt des Mannes einzudringen. Bis heute wird ihre Doppelbelastung in Job und Familie nicht adäquat anerkannt. Mit allen Tricks versuchen die Männer, sie nicht in ihre elitären Führungsschichten eindringen zu lassen. Die Gewitzten unter den Frauen rächen sich mit einer gelungenen Demutshaltung, mit der sie – wie im Falle Merkel – nebenbei zur mächtigsten Frau der Welt aufsteigen.

Auch diese Haltung ist nichts anderes als die Imitation des männlichen Erlösers, der sich ans Kreuz nageln ließ, um wiederaufzuerstehen und in himmlische Sphären als Pantokrator aufzusteigen.

Das wäre die Beschreibung des Genies oder des deutschen Übermenschen, der der Welt überlegen ist, dennoch bereit zum Untergang sein muss, um die Welt vor dem Untergang zu retten.

„Diese unheimliche und übermenschliche Macht der Genialen, diese unwillkürliche Verschwörung des Übermenschen, wurde zu allen Zeiten als dämonisch oder göttlich empfunden, aber ihre Gegner bedenken selten, dass die Menschheit ohne dieses Wirken der Übermenschen heute schon ausgestorben wäre.“ (Eugen Sänger, Übermensch und Technik in Ernst Benz, Der Übermensch)

Die deutsche Rasse war die allen anderen Rassen meilenweit überlegene, besonders der Untermenschen in aller Welt. Mit der Niederlage der überlegenen Rasse im Zweiten Weltkrieg ist der deutsche Genius nicht ausgestorben. Ohne ihn gäbe es heute keine fortgeschrittene Technik, die einst aus Deutschland nach Amerika emigriert war, um dort abzuheben und den Mars zu erobern.

Nicht mehr Dichter und Denker sind die überlegenen Geister der Gegenwart, sondern die technischen Erfinder, die Schöpfer der künstlichen Intelligenz.

„Die technische Gesellschaft unserer Zeit ist folgerichtig entstanden unter Bevorzugung der Individuen mit übermenschlich geistigen Eigenschaften, der großen Wertebringer, Schöpfer, Genialen.“ (ebenda)

Da die Deutschen gerade auf absteigendem Ast sitzen, greifen sie zur List: sie suchen ein Genie in Amerika, um es stellvertretend für alles zu rühmen, was der Deutsche nach seinem Niedergang eines Tages wieder darstellen will.

Nachdem der SPIEGEL Elon Musk schon ausführlich gerühmt hat – nicht ohne kritische Petitessen –, luden sie den Inverstor Thelen zum Gespräch über Musk. Ungehemmt vertritt Thelen seine deutsche Fremdbewunderung, die er in eine zukünftige Selbstbewunderung umwandeln will.

Thelen bezeichnet Musk als „eine Art modernen Aristoteles“, als „Visionär“, als „größten Architekten der Menschheit“.

„Elon denkt die Dinge neu. Er ist eine Maschine, wenn es darum geht, Dinge neu zu erfinden. Das ist seine Stärke – nicht die, ein konformer Vorstandsvorsitzender zu sein.“ (SPIEGEL.de)

Aristoteles war weder ein moderner Naturwissenschaftler noch ein Kapitalist. Habgier war für ihn eine der größten Untugenden. War er ein Visionär im Sinne eines prophetischen Sehers der unbekannten Zukunft? Abwegig.

Nebenbei: politische Visionäre werden hierzulande als Träumer verachtet, doch technische Visionäre kann man nicht genug bewundern.

Aristoteles sammelte empirische Erkenntnisse über die Natur. Experimente, um die Natur zu dehnen und zu strecken, wären ihm absurd vorgekommen. Ein Freund des rasenden Fortschritts war er nie. Er lebte in philosophischer Muße, um über Gott und die Welt in Ruhe nachzudenken.

Doch die verheerendste Charakterisierung Musks klingt so:

„Es mag sein, dass er sich politisch manchmal echt bescheuert äußert. Das ändert nichts daran, dass er ein effektiver Unternehmer ist.“

Das soll ein Architekt und Visionär der Menschheit sein, der ein politisch gefährlich rechter Irrläufer sein darf – wenn er nur technisch und finanziell das Sagen hat? Das würde bedeuten: du darfst die Menschheit getrost politisch und demokratisch zur Strecke bringen, wenn du nur Technik und Mammon zu bieten hast.

Weder spielt die Rettung der Natur eine Rolle noch die Lösung der Kriegsgefahren. Und ein solcher soll das Zeug haben, die Welt zu retten?

Eins fehlt noch. Musk ist für Thelen nicht nur ein globales Genie – er ist eine Maschine. Hier führt der Weg in die Zukunft, in der die besten Genies Maschinen sein werden. Der Mensch macht sich überflüssig.

Amerikas Genies befinden sich im freien Fall. Nicht mehr lange und Deutschland wird sich wieder erholen und die Genierolle Amerikas zurückerobern. So der Traum Thelens.

Dann wird Thelen sagen: ich bin es nicht, den ihr erwartet habt. Ich habe den künftigen deutschen Genies nur den Weg gezeigt.

Er könnte sich auf Eugen Sänger berufen:

„Aufgabe der Technik ist, die uralten Sehnsüchte und Träume der Menschheit zu erfüllen. Die Träume von ewigem Frühling, ewiger Jugend und ewigem Frieden, die Sehnsüchte nach Schönheit und Wahrheit, nach der Götterfreiheit von Mühsal und Mangel, von Raum und Zeit, von Krankheit und Tod, nach gottähnlicher Allmacht, Allgegenwart, Allgüte, nach Allwissen und den tiefsten Abenteuern des Leibes, der Seele und des Geistes. Die Wegweiser zu diesen Zielen sind die Übermenschen.“

Amerika, sei auf der Hut. Der Deutsche steht lauernd vor deiner Tür, bereit, deine Weltgeltung zu untergraben und selbst die Führung über den Globus zu übernehmen. Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.

Fortsetzung folgt.