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Welt retten! Aber subito! LXXXVI

Tagesmail vom 05.06.2023

Welt retten! Aber subito! LXXXVI,

Eher wollen sie mit der Arche Noah untergehen als ihre Freiheit aufgeben: die Freiesten der Freien, die Reichsten der Reichen, die Milliardäre.

Man sollte ihnen den Nobelpreis für universale Freiheit in Lapislazuli um den Hals hängen.

Erfanden sie doch die wahre und unverfälschte Freiheit, die mit der „geschlossenen Gesellschaft“ der Faulen, Unfähigen und Vielzuvielen nichts, aber auch gar nichts zu tun haben will.

Will doch der parasitäre Sozialpöbel nichts anderes als einen perfekten „stationären Schlusszustand“.

Diesem stillstehenden, erschöpften, gedanken- und kraftlosen, freiwilligen Gefängnis steht die kreative und regsame, vor Ideen sprühende, wie eine Rakete ins Weltall schießende Gemeinschaft der Auserwählten gegenüber, die keinen Ruhe- und Schlusszustand akzeptiert und sich dem Fortschrittsrausch der Genies und Giganten bewusstseinslos überlässt.

„Dem stationären Gesellschaftstyp gegenüber steht die „offene Gesellschaft“ oder der „Kosmos“, in welchem es, von gewissen allgemeinen Regeln abgesehen, keinen gesetzlich verbindlichen Wertkodex gibt, die Individuen ihren eigenen Präferenzen folgen, auf eigene Faust und Verantwortlichkeit handeln und so eine spontane Ordnung entstehen kann, deren weitere Merkmale die freie Koordination der Handlungen durch Sitte und Herkommen und (in der wirtschaftlichen Sphäre) durch Wettbewerb, Tausch und Marktpreis sind. – Dagegen dominiert in der „geschlossenen“ Gesellschaft einer wohlfahrtsstaatlichen Taxis der „Befehl“ oder die Anordnung als Mittel der Koordination, wenn im allgemeinen auch nicht mit derselben Schroffheit wie in einem „Machtstaat“, dieser anderen Variante der Taxis. Die beiden Ordnungstypen der Gesellschaft liegen seit langem im Wettbewerb und grundsätzlich unschlichtbarem Streit miteinander.“ (Habermann, Der Wohlfahrtsstaat, Die Geschichte eines Irrwegs)

Habermann bezieht sich auf Hayek, der die theologischen Kategorien Gut und Böse in antiken Begriffen neu definiert. Wer Aufmerksamkeit erregen will, muss die ollen Kamellen der vor sich hinfaulenden Gesellschaft neu aufputzen.

Das Gute – oder Göttliche – wird zu Kosmos, das Böse – oder Teuflische – wird zu Taxis.

Kosmos ist „bei den Alten“ der Inbegriff der höchsten Weltordnung. „Die höchste Erkenntnis aber, die man gewinnen kann, ist die Einsicht in die Verwandtschaft der menschlichen Vernunft mit der Weltvernunft, des Menschengeistes mit dem Gottesgeiste, der den ganzen Kosmos durchwaltet, diese von Ewigkeit zu Ewigkeit her in alle Ewigkeit fortbestehende Weltordnung. Dieser Logos ist der Kern alles dessen, was ist.“

Dieser in sich ruhende vollkommene Kosmos – im zirkulären Werden und Vergehen – wird bei Hayek zum Inbegriff der neoliberalen Gesellschaft im linearen Fortschritt, der über endlos viele Opfer skrupellos hinwegschreitet und nur wenige Sieger der globalen Hatz anerkennt.

In diesem Kosmos gibt es keinen dualen Kampf zwischen Gut und Böse. Bei Hayek aber schon, der das christliche Weltbild mit Gott und Teufel in den vollendeten Kosmos der Griechen verpflanzt.

Das teuflische Gegenüber zum Kosmos ist die Taxis, die auf Deutsch – Ordnung heißt. Ordnung? Wo soll da der Kontrast herkommen zum harmonischen Kosmos?

Wir müssen ein Wörtchen hinzufügen: Hayek sprach von spontaner Ordnung. „Spontan“ klingt vorteilhaft in der Moderne. Denn hier soll es der Widerspruch sein zu unentschlossener, ewig grübelnder, abstrakter und energieloser Tätigkeit.

Obwohl es einst „frei und freiwillig“ bedeutete, entwickelte es sich im Verlauf der Zeit zu: „ad hoc, impulsiv, intuitiv, plötzlich, ungeplant, unüberlegt“.

Den Widerspruch zu seiner Urbedeutung kann man nur verstehen, wenn man das Aufkommen der Aufklärung verstanden hat.

In der Aufklärung sollte man lernen, seinen Verstand zu benutzen. Zuerst in Ruhe überlegen, das Pro und Contra durchdenken – dann erst entscheiden. Klar, dass dies für manche Zeitgenossen zu langsam und zu mühsam war.

Besonders für die modernen Geschäftemacher, die sich dem Motto verschrieben hatten: wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Die Entschlossensten und Schnellsten siegten stets über die Zögerlichen und Zimperlichen.

Als die Romantiker aufkamen, verachteten sie die kalte Vernünftigkeit der Aufklärer. Keiner unentschlossenen, lauen und kalten Vernunft wollten sie sich anvertrauen, sondern ihren impulsiven und heißen Gefühlen.

Das Vertrauen in das Grübeln und Denken schwand und machte Platz den plötzlichen und überwältigenden Empfindungen. Der Glaube an die Vernunft wurde ersetzt durch das Vertrauen in das Gefühl.

Spontaneität entwickelte sich zu einem Hauptbegriff jener, die authentisch sein wollten. Authentisch sein wurde zum begehrten Charaktermerkmal der Avantgarde. Nur eine spontane Reaktion konnte eine authentische sein, kein ewiges Grübeln einer Vernunft, die sich selber nichts zutraute.

In der Romantik wurden spontane Gefühle zum Pendant einstiger Offenbarungen , die – unter dem gewaltigen Eindruck einer Botschaft von Oben – nicht säumen durften, diese Botschaft ins Volk zu tragen.

Eine spontane Ordnung ist – keine Ordnung, die den Ansprüchen der Vernunft entspricht.

Schnell und unüberlegt folgt sie den ersten Impulsen ihrer Gefühle, die ihnen „offenbaren“, was sie tun sollen. Wie die Frommen der Botschaft ihrer Schrift folgen müssen, wörtlich und ohne Herumdeuteln, so sollen die Spontanen ihren Gefühlen und Empfindungen folgen: ohne „abstraktes und gefühlloses“ Herumlavieren, sondern in spontaner Beherztheit und in warmer oder leidenschaftlicher Empathie.

Kants Lehre war das genaue Gegenteil dieser autoritären Gefühle. Für ihn galt es, alles gründlich zu durchdenken, bevor man zur Tat schreitet. Vernunft muss sich selbst überprüfen, weshalb die drei Kritiken notwendig waren: die Kritik der reinen, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft.

Hayeks spontane Ordnung hingegen ist das irrationale Produkt aus Zeit und Zufall. Niemand hatte sie geplant, niemand war dafür zuständig, niemand trägt Schuld und Verantwortung für das zufällige Ergebnis des Lotteriespiels.

Neoliberalismus ist ein Lotteriespiel wie aus einer Spielhölle in Las Vegas. Die einen gewinnen, die anderen haben Pech. Vernunft ist nirgendwo im Spiel, es gibt nur zufällige Gewinner und Verlierer.

Es sei ein Verrat an der Vernunft, sie für fähig zu halten, das undurchdringliche Tatengewimmel der Menschen zu verstehen. Dazu tauge unsere Vernunft nicht – sagt Hayek. Die Gesetze des Zufalls seien nie von der Vernunft zu verstehen. Wer seine Vernunft mit dem Verstehen und Kontrollieren des Zufallsgeschehens beauftragt, überfordere sie maßlos und mache sich schuldig an ihr.

Der Mensch muss bescheiden sein bei der Einschätzung seiner Fähigkeiten. Er solle nicht wie Gott sein wollen. Das wäre die höchste Blasphemie, mit der er sich schuldig machen könnte.

Hayeks spontane Ordnung ist die katholische Ordnung Gottes in der Welt. Diese zu erkennen und ihr in blindem Glauben zu folgen, das sei das Höchste, wozu der Mensch fähig sei.

Ganz anders bei Kant. Zwar gibt es eine vorgegeben Ordnung der Natur, an die der Mensch sich halten sollte. Doch was die Gesellschaft betrifft, gibt es nur eine von Menschen gemachte Ordnung: die zufällige Unordnung der Welt.

„Wir sind es ja, die die Ordnung erzeugen, welche wir in der Welt finden. Wir sind es, die unser Wissen von der Welt erschaffen. Wir sind es, die die Welt erforschen; und die Forschung ist eine schöpferische Kunst. Die Kopernikanische Wendung im Gebiete der Ethik ist in Kants Lehre von der Autonomie enthalten, mit der er sagt, dass wir dem Gebot einer Autorität niemals blind gehorchen dürfen, ja das wir uns niemals einer übermenschlichen Autorität blind unterwerfen sollen. Wir sind es, die allein darüber entscheiden, ob wir dem Befehl einer Autorität gehorchen oder nicht. Wir entscheiden darüber, ob dieser Befehl moralisch oder unmoralisch ist. Wir entscheiden, ob wir gehorchen oder nicht. Immer liegt die Entscheidung bei uns, wir können die Autorität anerkennen oder nicht.“ (Popper, Die offene Gesellschaft Bd. 1)

Autonome Menschen machen ihre Ordnung oder Unordnung in Politik und Wirtschaft selbst. Sie sind es – und nicht Zeit und Zufall –, die die Lage der Menschheit zu verantworten haben. Eine spontane Ordnung, die sich von selbst entwickelt hätte, gibt es nicht. Für alles, was der Mensch getan hat, dafür ist er auch zuständig.

Deshalb gibt es Verdienst oder Schuld. Ohne ethisches Verhalten kann kein Mensch Verdienste erwerben um das Schicksal seiner Schwestern und Brüder, aber auch nicht versagen und schuldig werden.

Eben deshalb ist es unerlässlich, bei seinen persönlichen und politischen Taten moralische Kriterien zu beachten. Denn wer das nicht tut, machte sich mitschuldig an seinem Schicksal und am Schicksal seiner Mitmenschen, auch dann, wenn er alle Schuldfähigkeit listig von sich wiese. Wer Verantwortung übernehmen will, muss sich um die Konsequenzen seiner Moral oder Nichtmoral kümmern.

Hayeks Versteckspielen hinter spontanen Ordnungen, die nichts sind als verluderte Unordnungen, ist kindisches Augenschließen vor der Realität, in der man für nichts in der Welt schuldig sein will.

Aufklärung wollte mit vernünftiger Moral Verantwortung für das menschliche Tun in dieser Welt übernehmen.

Romantik und Gegenaufklärung hingegen wollten dieser Verantwortung entschieden entgehen. Ergo wendeten sie sich zurück in die Vergangenheit, um sich hinter den Händen Gottes zu verstecken.

Popper, Bewunderer Kants, fasste dessen Ethik in der kurzen Formel zusammen: „Wage es, frei zu sein, und achte und beschütze die Freiheit aller anderen.“

Erkennt in diesen kantischen Worten irgendjemand den Geist (oder Ungeist) des Neoliberalismus? Sei frei und lass dich durch keine lächerliche Moral in deiner Freiheit beschränken?

Moralische Verpflichtungen gegen die Gesellschaft kann es nie geben, sie sind nur Scheinerklärungen für die ewige Versuchung, das Tun des Anderen einzuschränken und sich selbst als Zwangsbeglücker feiern zu lassen.

Neoliberale sprechen auch nie von „Gesellschaft“, sie sprechen immer nur vom „Staat“. Von Demokratie sprechen sie nie. Im Register von Habermanns Buch sucht man die Begriffe Demokratie – und Gerechtigkeit – vergeblich.

Ein autoritäres Staatsgebilde in einer Demokratie kann es, ja darf es nicht geben. Gäbe es ein solches, etwa als Bürokratie, müsste sie subito zerschlagen und ein Verwaltungsapparat eingerichtet werden, der sich peinlich an seine Vorschriften hielte.

Was die Neoliberalen bekämpfen, ist in Wirklichkeit die Demokratie oder die Herrschaft des Volkes. Einen solchen Begriff scheinen jene nicht mal zu kennen, denn ihn erwähnen sie so gut wie nie. Das Volk und seine Macht ist ihnen ein Dorn im Auge. Dass das Volk, mit Hilfe seiner gewählten Parlamentarier, alles in der Polis bestimmt, scheint für die Selbstherrlichen und Superreichen unerträglich.

Sie vollbrachten das Kunststück, mitten in der Demokratie die Macht des Demos auszuhebeln und die Macht ihres unermesslichen Geldes an seine Stelle zu setzen.

Dieses Kunststück begann bereits in Athen unter der Formel des Naturrechts der Starken. Damals jedoch gab es noch aufrechte Demokraten – vor allem die sokratischen Schulen – die sich mit allen Mitteln überlegenen Argumentierens auf der Agora zur Wehr setzten.

Doch je stärker die äußere Macht der kleinen Polis in hellenischen Zeiten explodierte, umso hinfälliger wurde die kleine athenische Polis. Die Philosophen erfanden eine autonome Moral, mit der sie der Gier der damaligen Superreichen in vorbildlicher Weise widerstanden.

Da diese Moral durch die spätere Niederlage der griechischen Vernunft im Kampf gegen eine transzendente Religion hochgradig lädiert wurde, gab es kaum noch Widerstand, als die Reichen durch Erfindung des modernen Kapitalismus wieder Oberwasser erhielten – und mit Hilfe ergebener Intellektueller die Moral als Korrektur der Ausbeutungswirtschaft aus dem Felde trieben.

Warum sind die Neoliberalen heute so mächtig geworden? Weil es ihnen gelang, die wirksamsten Kritiker, die Moralisten unter ihren Widersachern, erfolgreich aus dem Weg zu räumen.

Die Reichen taten, als seien sie nur reich geworden, weil sie die – angeblichen – Naturgesetze der Ökonomie am besten erforscht hätten und sie am effektivsten zu ihrem Vorteil nutzen konnten.

Je stärker der neoliberale Einfluss anstieg, umso mehr verschwand der Einfluss der Ethik als Kritikerin des Mammons.

„Kant errichtete auf der Grundlage seiner Ethik seine wichtige Staatslehre und seine Lehre vom internationalen Völkerrecht. Er verlangte einen „Föderalismus freier Staaten“ mit der Aufgabe, den Frieden auf Erden zu verkünden und aufrecht zu erhalten.“ (Popper ebenda)

Hier widerspricht sich Popper als Anhänger Kants (und des Sokrates) – und gleichzeitig als Unterstützer Hayeks in fulminanter Weise. Kants Absichten, mit Hilfe des Völkerrechts Frieden auf Erden zu schaffen, verträgt sich nicht mit dem gemeinsamen Motto von Popper und Hayek: „Immer hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“

Dieser Spruch Hölderlins meinte mit Himmel auf Erden den tatsächlichen, religiösen Himmel, den der Klerus auf Erden installieren wollte, um seinen totalitären Kirchenstaat zu legitimieren. Helmut Schmidt verballhornte den Spruch zum Statement, das schnell zum Dogma aller deutschen Politik wurde: willst du eine visionäre Politik, geh zum Doktor (– der wird dich schon kurieren).

Kants Philosophie war die Wiederbelebung der sokratischen. „Freiheit bedeutet beiden mehr als die Abwesenheit eines Zwanges, Freiheit war für sie die einzig lebenswerte Form des Lebens. Die Verteidigungsrede und der Tod des Sokrates haben die Idee des freien Menschen zu einer lebendigen Wirklichkeit gemacht. Der Sokratischen Idee des freien Menschen … hat Kant auf dem Gebiet des Wissens wie auf dem der Ethik eine neue Bedeutung gegeben. Und er hat ihr die Idee einer Gesellschaft freier Menschen hinzugefügt. Denn Kant hat gezeigt, dass jeder Mensch frei ist – weil er mit einer Last geboren ist, mit der Last der Verantwortung für die Freiheit seiner Entscheidung.“ (ebenda)

Was hat Hayek aus dieser moralisch verpflichteten Freiheit gemacht? Eine neoliberale Karikatur der Freiheit, die jede Verantwortung für ihr amoralisches Tun ablehnt.

Rätselhafte Schlussfrage: Wie konnte Popper an den Versammlungen der Mont Pèlerin Society teilnehmen und die unverfrorene Hayek’sche Verfälschung von Sokrates und Kant fast schweigend hinnehmen?

Viele Jahre später bekannte er einem Enkel Euckens, der ihn danach fragte: vielleicht hätte er zu seinem moral- und wahrheitsallergischen Wiener Freund ehrlicher und offener sein müssen.

Nicht vielleicht!

Fortsetzung folgt.