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Welt retten! Aber subito! LXXXV

Tagesmail vom 02.06.2023

Welt retten! Aber subito! LXXXV,

„Wenn ihr eine Wolke aufsteigen seht im Westen, so sagt ihr gleich: Es gibt Regen. Und es geschieht so. 55 Und wenn der Südwind weht, so sagt ihr: Es wird heiß werden. Und es geschieht so. 56 Ihr Heuchler! Das Aussehen der Erde und des Himmels könnt ihr prüfen; warum aber könnt ihr diese Zeit nicht prüfen?“

Alles falsch an dieser Aussage. Weder können Menschen den Zustand der Natur – noch die apokalyptischen Zeichen der Zeit beurteilen, die nichts mit der Natur zu tun haben.

Fromme Zeit ist Heilszeit, heidnische Natur kennt weder Heil noch Unheil: sie ist immer vollkommen.

Natur als Lebensrevier des Menschen kann vergehen. Sie ist gerade dabei.

Natur an sich kann nie vergehen. Immer wird sie neue Lebewesen hervorbringen, die das Zusammenleben mit ihr suchen. Nicht selten erfolgreich, nie ohne Risiko.

Die Deutschen – wie die meisten westlichen Staaten – sind weder ein heidnisches noch ein christliches Volk. Als Heiden sind sie nicht mehr mit der Natur vertraut, als einstmals Gläubige nicht mehr mit der Zeit des Heils. Sie verschließen ihre Sinne, wenn sie die Natur aus allen Poren bluten sehen – und erhoffen, was sie nicht erhoffen dürfen.

Sie ignorieren die Reste ihres Glaubens, wenn sie an das Apokalyptische glauben sollen – und verhöhnen allen Hokuspokus und Aberglauben.

Sie sind weder Fisch noch Fleisch, weder kalt noch heiß, der Herr wird sie aus seinem Munde spucken. Der Große Kompromiss des Abendlands bleibt eine Zwangssynthese aus zwei Elementen, die nie aufhören werden, sich gegenseitig zu würgen und zu vernichten.

Sehet die Zeichen der Zeit: niemand mehr fühlt sich von dieser Aufforderung angesprochen. Die Natur wollen sie beherrschen, nicht erkennen.

Pardon, erkennen schon – aber nur, um die Natur immer effektiver auszubeuten und zur Sensation zu degradieren.

Natur erkennen, um sie als Gaja zu verehren und anzubeten: das wollten die Heiden.

Die christliche Moderne will die Natur erkennen, um ihre Macht über sie auszudehnen, ihrer Sensationsgier zu dienen und um ihren Sadismus zu befrieden.

Sehet die Zeichen der Zeit – nicht der Heilszeit, das überlassen wir den Frommen – sondern die Zeichen der ramponierten Natur. Das wäre vor allem die Pflicht der Regierenden, denn dafür wurden sie gewählt.

Doch um das Unerwünschte zu sehen, müssten sie den Kopf frei haben. Den haben sie nur scheinbar frei, denn sie arbeiten nicht im Schweiße ihres Angesichts, haben viele Berater um sich, kennen alle Mächtigen der Welt und könnten sich mit vielen Klugen und Weisen bereden und beratschlagen.

Doch den Mächtigen unter den Deutschen geht es wie ihren Untertanen: sie sehen nicht die Mängel der Natur, die der Mensch ihr angetan hat. Sie sehen nicht die Zeichen ihrer Verfallszeit.

Was ist das Ergebnis der Zwangsvermählung aus nicht-mehr-glauben und nicht-mehr-erkennen-dürfen, wie die Natur wirklich ist? Blindheit, Taubheit, Verstocktheit und kompromisslerische Dummheit.

Eine fromme Kanzlerin brillierte mit ihrem privaten Glauben, den sie gleichwohl nie offenlegte. Hier begann das heilige Schweigen. Glauben wurde zum mysteriösen Geschehen, dem man alles zutraute: die Kraft des Durchhaltens, die Unterstützung des Gottes und die Sicht der Zeichen der Zeit, über die politisch nie gesprochen werden darf.

Die Deutschen vertrauten der weltlichen Kompetenz der Physikerin. Das Esoterische ihrer Person verstand sich für ihre Untertanen von selbst. Das Geheimnis der Welt ist noch immer das Heilige, über das nicht gesprochen werden darf. Über der deutschen Politik liegt ein Schleier des Unhörbaren und Unbenennbaren.

„Und als er von den Hohepriestern und Ältesten angeklagt wurde, antwortete er nichts. Da sagte Pilatus zu ihm: Hörst du nicht, wie viele Zeugnisse sie wider dich vorbringen? Und er antwortete ihm auch nicht auf ein einziges Wort, sodass der Statthalter sich sehr verwunderte.“

Wie sprach hingegen jener Athener, der zum Tode verurteilt wurde, den der Heilige durch Schweigen in den Schatten stellen wollte?

„Daher, meine Mitbürger, bin ich jetzt weit entfernt, um meiner selbst willen mich zu verteidigen, wie mancher wohl annehmen möchte, vielmehr gilt meine Verteidigung euch, um euch zu bewahren vor einer Versündigung an dem euch von Gott bescherten Geschenk, indem ihr über mich den Tod verhängt. So hat denn der Gott auch mich der Stadt beigegeben als einen Mann, der nicht müde wird euch zu wecken, zu mahnen, zu schelten, kurz, der den ganzen Tag euch überall auf dem Nacken sitzt. Es sieht doch nicht wie menschliches Verhalten aus, dass ich meine persönlichen Angelegenheiten samt und sonders vernachlässigt habe und nun so viele Jahre der Verkümmerung meines Hauswesens ruhig zusehe, nur darauf bedacht, unablässig für euer Wohl tätig zu sein, indem ich mich an jeden einzelnen wende und ihm wie ein Vater oder älterer Bruder ins Gewissen rede, er solle sich ja der Tugend befleißigen. Denn ich habe, denk ich, einen ausreichenden Zeugen dafür, dass ich die Wahrheit sage. Dieser Zeuge, wer ist es? – meine Armut.“ (Apologie des Sokrates)

Jetzt erkennen wir, was uns der abendländische Kompromiss, die Versöhnung unversöhnbarer Widersprüche wirklich gebracht hat: die Anbetung des Mammons, die Schändung des wissenschaftlichen Erkennens durch Fremdbestimmung.

Hegel irrte. Die Versöhnung unversöhnbarer Widersprüche ist keine Entwicklung zum Höheren. „Alles Höhere entsteht nur dadurch, dass das Niedrigere sich als Widerspruch in sich zu dem Höheren aufhebt.“

Es war ein eine gute, ja löbliche Absicht, die widersprüchlichen, ja feindlichen Glaubens- und Meinungsunterschiede durch Kampf und Versöhnung zur Harmonie zu bringen.

Das geht aber nicht mit mechanischer Dialektik, sondern allein durch authentisches Selberdenken, Argumentieren, Überzeugen oder sich überzeugen lassen. Alles andere wird zur unpersönlichen Maschinerie eines Vorläufers der KI.

Hier geht es um Sein oder Nichtsein unserer Kultur. Wer hat Recht? Sokrates mit seiner Absage an Reichtum und Macht, oder die modernen Anbeter des unendlichen Wohlstands und einer grenzenlosen Macht des Fortschritts?

„Ich bemühte mich nämlich, einem jeden von euch die Überzeugung beizubringen, dass er unrecht täte sich eher um sein Hab und Gut zu bekümmern als um sich selber und um die möglichste Förderung seiner sittlichen und geistigen Bildung. Sage ich aber, dass es größtes Glück für den Menschen ist, sich Tag für Tag über die Tugend zu unterhalten … und dass ein Leben ohne Prüfung und Erforschung nicht lebenswert sei …“

Ein Leben ohne Prüfung und Erforschung ist nicht lebenswert! Ein Leben in Genügsamkeit und Selbsterforschung – das höchste und lebenswerteste, was wir uns geistig erarbeiten können? Sätze, die in ihrer hochmütigen Arroganz heute unerträglich wirken.

Hier stoßen wir unvermutet auf ein großes Rätsel unserer unglaublichen Kultur: wie konnte Popper, ein großer Verehrer des Sokrates, zugleich einer der besten Freunde Hayeks sein, ohne dass wir von tiefgehenden Disputationen zwischen den beiden Wienern erfahren hätten?

Hayek nämlich dachte das genaue Gegenteil zum Selbsterforscher aus Athen:

„Die Zivilisation schreitet vorwärts, indem sie die Zahl der wichtigen Operationen, die wir ohne zu denken ausführen könnten, erhöht. Sokrates` Ausspruch, das die Erkenntnis unserer Unwissenheit der Anfang der Weisheit ist, hat für unser Verständnis der Gesellschaft tiefe Bedeutung. Die erste Voraussetzung für dieses Verständnis ist, dass wir uns der notwendigen Unkenntnis des Menschen von vielem, das ihm seine Ziele zu erreichen hilft, bewusst werden. Man könnte sagen, dass die Zivilisation beginnt, wenn der Einzelne in der Verfolgung seiner Ziele mehr Wissen verwerten kann, als er selbst erworben hat und wenn er die Grenzen seines Wissens überschreiten kann, indem er aus Wissen Nutzen zieht, das er nicht selbst besitzt. Diese Grundtatsache der unvermeidlichen Unkenntnis des Menschen von einem Großteil dessen, worauf das Funktionieren einer Zivilisation beruht, hat wenig Aufmerksamkeit gefunden. Diese ganze Vorstellung, dass der Mensch bereits mit einem Verstand ausgestattet ist. der fähig ist, sich eine Zivilisation auszudenken und sich daran gemacht hat, diese zu schaffen, ist grundlegend falsch. Die Vorstellung vom Menschen, der seine Zivilisation bewusst aufbaut, stammt aus einem irrigen Intellektualismus, der sich die menschliche Vernunft als etwas außerhalb der Natur stehendes vorstellt. Ein zeitgenössischer Anthropologe sagt, dass „nicht der Mensch die Kultur beherrscht, sondern umgekehrt. Unser Vertrauen auf die Freiheit beruht nicht auf den voraussehbaren Ergebnissen in bestimmten Umständen, sondern auf dem Glauben, dass sie im Ganzen mehr Kräfte zum Guten als zum Schlechten auflösen wird.“ (Die Verfassung der Freiheit)

Fast alles ist erneut falsch, was Poppers großer Freund über Sokrates zu sagen weiß. Das sokratische „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, ist keine Hymne auf Unwissenheit, die das menschliche Leben besser steuern könne als bewusstes Wissen.

Der Satz sagt das strikte Gegenteil: erst wenn ich mir mein Unwissen nicht verhehle, kann ich es durch bewusstes Lernen überwinden. Ich muss ehrlich zu mir sein, darf mir nicht einbilden, alles besser zu wissen, um ins Lernen zu kommen.

Selbstbewusstsein ist keine Ansammlung von äußerlichem Wissen, sondern das Ergebnis meiner Selbsterforschung: woher komme ich, wer hat mich geprägt, welche sozialen Vorzüge und Mängel habe ich? Bin ich ein mitdenkendes und mitfühlendes Wesen oder habe ich nichts anderes im Kopf als meine Vorteile auf Kosten anderer zu ergattern?

Dass Kultur am besten funktioniert, wenn Menschen nichts wissen und wie im Dunkeln tappen: das ist das absolute Gegenteil zur Aufklärung, deren kämpferischer Grundsatz war: der Mensch kann Herr seines Schicksals werden, je gründlicher er seinen Charakter kennt. Mit Quizwissen hat das nichts zu tun. Quizkönige oder Gebildete sind weder klug noch weise.

Hayek ist ein vehementer Fighter gegen die Aufklärung. In den Spuren Hamanns und der katholischen Kirche verwirft er das befreiende Bewusstsein des autonomen Menschen.

Der Mensch ist ein trübsinniges Lebewesen, das ohne Leitung überlegener Mächte zugrunde ginge.

Was der Klerus für die stumpfe Gemeinde, ist der Markt für die unwissenden Teilnehmer eines höheren Zufallsgeschehens. Den Weisen gebührt nicht das Brot, den Verständigen nicht der Reichtum, den Einsichtigen nicht die Gunst. Alles ist Zeit und Zufall. Nicht die Besten, sondern die per Zufall Glücklichsten machen den großen Wurf.

„Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies Weisen und Klugen verborgen hast und hast es Unmündigen offenbart.“

Der Kampf des katholischen Wien gegen das aufgeklärte Berlin wurde zum großen Erfolg. Vernunft, der Stolz der selbstdenkenden Menschen, wurde attackiert und erniedrigt. Nicht der unabhängige Selbstdenker wird zum Leiter des menschlichen Schicksals, sondern der Unwissende, der sich seinem fremdgesteuerten Schicksal fügt.

Welche Wörter gehören heute zu den beliebtesten Beschimpfungen der Vernunftfeinde? Alle, die mit selbst… beginnen: dieser selbsternannte Schnösel, dieser selbstgewisse Vernünftler und dieser selbstbewusste Demokrat und Verteidiger der Menschenrechte.

Noch immer wollen Zeitgenossen demütig fremd-gesteuert, demütig fremd-bestimmt und demütig fremd-geleitet werden, um ihr Kriecherdasein zu genießen.

Hayeks Lob der menschlichen Unvernunft führt ihn geradewegs zur Unterstützung und Bewunderung diktatorischer Regimes wie das chilenische von Pinochet oder das portugiesische unter Salazar.

Im gleichen Sinn verurteilt er die Arroganz jener Ökologen, die es wagen, klimatische Prognosen zu erstellen:

„Zum Bericht des Club of Rome fällt sein Urteil ebenso knapp wie vernichtend aus: „Es ist ein Beispiel jener Arroganz der Intellektuellen, dass sie glauben, sie können – oder müssen – voraussagen, wie sich die Dinge in Zukunft entwickeln werden. Das Verlangen, dass wir wissen sollen, wie die Welt in hundert Jahren ausschaut, ist einfach absurd.“

Bei einem Treffen im Vatikan warnt er vor zunehmender Zerstörung menschlicher Werte durch wissenschaftlichen Irrtum und plädiert für das in Tradition und Religion gespeicherte Wissen. Für eine Welt, die auf egalitären Ideen beruht, ist das Problem der Überbevölkerung unlösbar. „Wenn wir garantieren, dass jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist, werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu erfüllen. Gegen Überbevölkerung gibt es nur die eine Bremse, nämlich, dass sich nur jene Völker erhalten und vermehren, die sich selbst ernähren können.“ (Die Tradition der Freiheit, Hennecke)

Das ist Regression ins tiefste Mittelalter, ein darwinistischer und malthusianischer Sturz in das Verhängnis einer unmündigen Kreatur, die rund um die Uhr fremdgeleitet werden muss, will sie nicht völlig in den Abgrund fahren.

Hayeks Berufung auf Sokrates ist eine der unverschämtesten Lügen im Bereich der Wissenschaften, zumal einer Disziplin, die eine strenge Naturwissenschaft sein will.

Heute kann niemand mehr die Zeitung aufschlagen, ohne auf einen neuen globalen Suizid der Menschheit zu stoßen.

„Wann ist die Erde sicher – und wann ist sie gerecht? Forschende haben dafür nun erstmals Werte definiert: Viele Grenzen für eine sichere Welt sehen sie bereits überschritten. 50 bis 60 Prozent der Landfläche müssten naturbelassen sein oder nachhaltig bewirtschaftet werden, damit die natürlichen Leistungen der Ökosysteme wie Bestäubung, frisches Wasser und frische Luft erhalten bleiben. Derzeit treffe dies nur auf 45 bis 50 Prozent der Landfläche zuUm das Wohlergehen der Menschen zu gewährleisten, ist den Forschern zufolge eine große globale Umgestaltung erforderlich. »Solche Transformationen müssen systemisch in den Bereichen Energie, Ernährung, Stadt und anderen Bereichen erfolgen, sich mit den wirtschaftlichen, technologischen, politischen und anderen Treibern des Wandels des Erdsystems befassen und den Zugang für die Armen durch Reduzierung und Umverteilung des Ressourcenverbrauchs sicherstellen.«“ (SPIEGEL.de)

Zur Abwechslung kann es auch eine Drohung durch die neuesten technischen Genieleistungen sein:

„Künstliche Intelligenz birgt nach Auffassung Hunderter Experten für die Menschheit das »Risiko der Auslöschung«.“ (SPIEGEL.de)

Es muss nicht gleich die ganze Menschheit bedroht sein, es genügt, wenn Millionen Menschen verhungern und verrecken.

„»Die Europäer überschlagen sich mit Beteuerungen, wie sehr ihnen die Anliegen des Globalen Südens am Herzen liegen«, sagt Gowan. »Aber in Wahrheit geht es euch darum, den europäischen Block zu stärken. Und ihr werdet nichts tun, um Ländern wie Brasilien oder Südafrika mehr Einfluss zu geben, weil sie eben Richtung Russland neigen.« Ja, die Globalisierung hat die Welt kompliziert gemacht und Abhängigkeiten geschaffen. Aber das ist ein Grund, sie zu verändern und gerechter zu machen – und nicht, sie abzuschaffen.“ (SPIEGEL.de)

Wer vor diesen Gefahren warnt, wird eingesperrt, damit die Funktionierenden ungestört weiter funktionieren und die Mächtigen ihre Macht ausüben können. Wer eine aufregende Vision des terrestrischen Elends erleben will, lobe den Zufall, dass er die unheilvolle Zeit der Gegenwart erleben darf.

Die Anhänger der Heilszeit dürfen jubilieren: den Kampf gegen die selbstgenügsame Symbiose aus Natur und Mensch haben sie gewonnen.

Welch jämmerliches Schlusswort eines moralisierenden Traumtänzers:

„Nein, meine Mitbürger, dem Tode zu entgehen, ist, denk ich, nicht schwer. Weit schwerer dagegen ist es, der Schlechtigkeit zu entgehen; denn sie läuft schneller als der Tod.“

Fortsetzung folgt.