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Welt retten! Aber subito! LX

Tagesmail vom 17.03.2023

Welt retten! Aber subito! LX,

Deutschland steht kurz vor dem Bankrott:

„Wir können unser Land nur mit konkreten Vorschlägen voranbringen und nicht mit Klima-Blabla“, sagte FDP-Verkehrsminister Wissing.

Schon die Logik ist desaströs: ja, konkrete Vorschläge sind notwendig, aber nur möglich, wenn man sich auf gemeinsame Ziele einigt. Konkrete Vorschläge ohne konkretes Ziel sind unmöglich.

Ferne Ziele sind ohnehin verboten, weil sie angeblich den Himmel auf Erden holen. Das können nur jene behaupten, die Religion mit irdischen Utopien verwechseln.

Warum versagen die Deutschen politisch auf der ganzen Linie? Ihre Mächtigen können nicht regieren, denn echte Ziele sind ihnen verboten und ihre Untertanen kennen nur das Regiertwerden.

Wir stehen vor dem tiefen Graben zwischen „Idealisten“ und „Realisten“.

Idealisten glauben, das Ziel zu kennen – wissen aber nicht, wie man es erreichen kann.

Realisten, ihre Gegenspieler, können zwar zupacken, scheitern aber an der Frage: wohin die Reise gehen soll? Das wissen sie nicht, behaupten gar, man könne es gar nicht wissen. Also resolut nach vorne, aber wohin? Wie weit sind wir noch von unserem unbekannten Ziel entfernt? Welche Route wäre die beste? Das ist Effektivität im Hexenkessel.

Praxisferne Idealisten verachten ziellose Realisten. Wie wollen diese Energiebündel das Ziel erreichen, wenn sie leugnen, dass es klare Ziele gibt?

Erkenntnisferne Realisten schauen auf unpraktische Idealisten herab. Wie wollen diese das Ziel erreichen, wenn sie nur in die Lüfte starren und tatenlos ihre schillernde Fata Morgana anbeten?

Der westliche Streit zwischen Idealisten und Realisten dauert nun schon mehr als 2000 Jahre und geht zurück auf Platon und das Christentum.

Platon, ein strenger Denker, begnügte sich nicht mit Halbheiten. Er wollte die vollkommene Wahrheit erforschen. Doch waren Menschen überhaupt in der Lage, das Perfekte nicht nur zu erkennen, sondern es auf der unvollkommenen Erde zu realisieren?

Geschockt vom Schicksal seines bewunderten Lehrers Sokrates, der von den Athenern in den Tod geschickt wurde, wollte Platon die Menschen utopiefähig machen, damit Verbrechen am Vorbildlichen nicht mehr möglich wären.

Überzeugt, dass es vollkommene Menschen nur in einem vollkommenen Staat geben könne, ersann er einen perfekten Staat mit perfekter Erziehung.

Da all seine praktischen Versuche, diesen Staat zu errichten, scheiterten, schrieb er erst mal seine Gedanken auf. Es entstanden seine Riesenwerke Politeia (der Staat) und Nomoi (Gesetze), seine Altersschrift, die sich – schon leicht resigniert – mit dem zweitbesten Staat begnügte.

Was nicht bedeutete, dass er den idealen Staat völlig aufgegeben hätte. Er glaubte nur nicht mehr, die Bürger mit philosophischer Erziehung (Paideia) zu perfekten Staatsbürgern zu erziehen. Was aber blieb, wenn die Menschen zu unfähig waren, um sich zu idealen Wesen zu entwickeln?

Es blieb – die Gewalt. Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt: Platon wurde zum Erfinder der Konzentrationslager oder zum philosophischen Urfaschisten. Jahrtausende lang waren die Deutschen begeisterte Platoniker, ihre Vorstellung einer guten Obrigkeit war weitgehend identisch mit der Vorstellung einer platonischen oder christlichen Obrigkeit. Der einzige Unterschied war, dass die Urchristen dem irdischen Leben ein überirdisches hinzugefügt hatten. Dort war jenes Ziel allen Tuns, das sie heute negieren, als ginge es in der Politik um überirdische Ziele.

Bei Platon regierten perfekte Weise – wenn nicht anders mit Gewalt –, in der Erlöserreligion regierte Gott – mit Lohn und Strafe.

„Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen. Denn die Gewalt haben, muss man nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, dann wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst. Sie ist Gottes Dienerin und vollzieht die Strafe an dem, der Böses tut. Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist: »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.“

Unter einer christlichen Obrigkeit sind alle Menschen strafbedürftig – mit Ausnahme der Perfekten. Perfekt ist, wer das Gesetz vollständig erfüllt. Das Gesetz kann nur perfekt erfüllt werden, wenn man seinen Nächsten liebt.

Hand hoch: wer liebt seinen Nächsten perfekt? Da wir alle Sünder sind und bleiben – selbst wenn wir wiedergeboren sind – sind wir alle des Todes schuldig. Es sei, Gott vergibt uns in seiner unermesslichen Gnade.

Diese Gnade aber gelangt ans Ziel erst im Jenseits. Im Diesseits bleiben alle Christen Sünder, die von der Obrigkeit nach Belieben bestraft werden können. Christliche Obrigkeiten sind totalitär.

Platons Herrschaft der Weisen auf der einen Seite – und die Herrschaft Gottes mit Hilfe seiner irdischen Knechte auf der anderen: das waren die beiden grundlegenden Staatsformen des Abendlands.

Leidenschaftliche Griechen- und Demokratiefreunde mussten energisch die Theokratien bekämpfen, um in der Aufklärungszeit die politische Demokratie mit universeller Humanität zu etablieren.

Zurzeit erleben wir immer mehr Regressionen der Volksherrschaften in religiöse Faschismen der Vergangenheit.

China hingegen ähnelt eher einer platonischen Zwangsbeglückung. Das neue Weltreich hatte es für richtig gehalten, seinen marxistischen Zwangsstaat mit dem riesigen Reservoir ihrer philosophischen Vergangenheit zu einem totalitären Gebilde zu vereinigen. Heute erkennen die Untertanen immer deutlicher, dass die Synthese eine unerträgliche Despotie ist.

Im Westen, inklusive Russland, tendiert der Rückfall eher in einen theokratischen Faschismus. Putin ist nicht zufällig ein Gläubiger der russisch-orthodoxen Kirche und Anhänger jener Intellektuellen à la Dugin, die die Wahrheit der Philosophie in der Offenbarung Gottes sehen wollen.

Von außen betrachtet, ist die Wahrscheinlichkeit Chinas viel höher, seinen aus dem Westen importierten Zwangspanzer wieder loszuwerden, als die Fähigkeit des Westens, seine uralten religiösen Fesseln abzuwerfen und eine freie humane Agora einzurichten.

Bei Rückfällen in theokratische Obrigkeiten geht es darum, die universellen Menschenrechte und demokratischen Freiheiten peu à peu zu zertrümmern.

„Menschenrechte sind unveräußerlich, das heißt, auf sie kann niemand verzichten, sie sind unteilbar und gelten weltweit. Diese Rechte hat der Mensch also, auch ohne dass der Staat sie gewährt. Deshalb sind sie ungeschriebenes Recht.“

Wenn alle Menschen die gleichen Rechte besitzen, ist der religiöse Partikularismus überwunden. Aus göttlicher Perspektive wird niemand bevorzugt oder benachteiligt. Himmlische Privilegien gibt es keine in Demokratien, so wenig wie bevorzugte Menschen oder Völker.

Auf dem Boden der Erlöserreligionen kann es keine universellen Menschenrechte geben. Dort gibt es nur Erwählte und Verworfene.

Thomas Schmid in der WELT hat nichts verstanden, wenn er schreibt:

„Wenn es heute weithin unbestritten ist, dass alle Menschen im Besitz der Menschenrechte sind, ist das sicher auch eine Folge der Logik, die dem christlichen Verständnis vom Individuum und der Gedankenwelt der Aufklärung inhärent ist.“ (WELT.de)

Christentum teilt die Menschheit in Lieblinge und Feinde Gottes. Das Gegenteil der Aufklärung, die im Namen der natürlichen Vernunft spricht, vor der alle Menschen gleich sind.

Es gehört zu den Großlügen der Deutschen, dass sie Glauben und Vernunft miteinander verkoppeln könnten.

Hegels dialektische Philosophie war das gefräßige Mahlwerk, welches alle Differenzen zu Staub zermahlte. Die Deutschen sind unfähig, Widersprüche zu akzeptieren – weshalb sie heute nur profillose Kompromisspolitik betreiben können. Kompromisse sind nur Notmaßnahmen bei Machtgleichheit. Zu einer überzeugenden Politik, die sich nicht ständig widerspricht, sind sie nicht fähig. Wer ständig nach links blinkt und nach rechts abbiegt, fährt in die Irre.

Bei ewigen Kompromissen kann man keine eigenständige Politik entwickeln. Man muss über nichts mehr gründlich nachdenken, genau genommen kann man nicht mal Kompromisse eingehen. Denn das kann man nur, wenn man seine eigenen kompromisslosen Ziele kennt.

Schmids Artikel in der WELT strotzt von abendländischer Hybris. Trumps Motto hieß: America first, Schmids Motto müsste lauten: Europe first. Bei Trump sprach man von neurotischem Narzissmus, Schmids Eitelkeit bemerkt niemand, weil alle Deutschen dasselbe denken: natürlich sind wir die Größten.

„Der „Westen“ ist in politischer, sozialer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher Hinsicht wohl das Beste, was die Neuzeit hervorgebracht hat.“

Solch ein Größenwahn ist kaum noch zu verstehen. Was hat der Westen wirklich zustande gebracht? Er hat die Welt an den Rand des Abgrunds getrieben, die Natur bis in die Eingeweide zerrissen, unerbittliche Konkurrenz zur Regel der Beziehungen erklärt, die Völker in Rivalen verwandelt, die Menschheit in eine Hand voll Superstarke und massenhaft Schwache, Verachtete und Erfolglose geschieden.

Jetzt kommt noch die reale Möglichkeit dazu, einen Atomkrieg zu entfesseln. Und das soll das Beste gewesen sein, was die Menschheit zustande brachte? Lächerlich. Vor mehr als 100 Jahren, als die asiatischen und „unterentwickelten“ Länder ihren Widerstand gegen den unerträglichen Westen begannen, schrieb ein japanischer Gelehrter:

„Amerika und England waren für mich einst Länder der Gerechtigkeit: aber heute sind sie zügellose, in den Fallstricken des Reichtums gefangene Länder. Unmoralische Länder, die unverzeihlichen Träumen nachhängen. Wir müssen den Völkern Ostasiens zeigen, dass Ordnung, Friede, Ruhe, Frieden, Glück und Zufriedenheit in Ostasien nur dann einkehren werden, wenn wir das boshafte Beispiel der Angelsachsen in Ostasien mit ihren Übergriffen und Erpressungen ausmerzen. Diese Weißen erwarten, dass ihnen, sobald sie den Mutterleib verlassen haben, Dutzende Eingeborene zur Verfügung stehen. Ist das wirklich der Wille Gottes?“ (zit. in Pankaj Mishra, Aus den Ruinen des Empires)

Und jetzt die gewaltige Stimme des Inders Tagore:

„Seit mehr als einem Jahrhundert werden wir vom prosperierenden Westen hinter seinem Wagen hergezogen, erstickt vom Staub, taub vom Lärm, gedemütigt von unserer eigenen Hilflosigkeit und überwältigt von der Geschwindigkeit. Wir haben bereitwillig anerkannt, dass diese Wagenfahrt Fortschritt und der Fortschritt Zivilisation sei. Wenn wir zu fragen wagten: „Fortschritt wohin … und für wen“ hieß es, das sei typisch orientalisch … Aber seit kurzem ist eine Stimme zu hören, die uns auffordert, nicht nur auf die wissenschaftliche Vollkommenheit des Wagens zu achten, sondern auch die Tiefe der Gräben, die sich auf dem Weg finden. Wenn organisierter nationaler Eigennutz, rassische Antipathie und kommerzielle Selbstsucht ihre entstellten Gesichter in ihrer ganzen Nacktheit zu zeigen beginnen, ist es für den Menschen an der Zeit zu erkennen, dass sein Heil nicht in politischer Organisation und erweiterten Handelsbeziehungen liegt, nicht in einem mechanischen Umbau der Gesellschaftssysteme, sondern in einer tieferen Umgestaltung des Lebens, in der Befreiung des Bewusstseins durch Liebe, in der Erkenntnis Gottes im Menschen.“ (ebenda)

Hören wir solche Stimmen? Selbst wenn, verachten wir sie und halten sie für minderwertig und kitschig. Liebe haben wir zum religiösen Seligkeitserwerb verstümmelt, Mitgefühl mit Konkurrenten können wir uns nicht leisten.

Adam Smith begründete den modernen Kapitalismus mit der Auskunft: kümmere dich um deinen eigenen Kram, dann kümmerst du dich automatisch um die ganze Gesellschaft. Das hielt er für eine großartige wissenschaftliche Synthese.

Da ihm das selbst nicht einleuchtete, erklärte er die Synthese zum Wunder einer unsichtbaren Hand, die den Graben zwischen Reichen und Armen von vornherein verhinderte. Ein kindischer Allmachtsglauben, der das Rätsel des Kapitalismus mit einer überirdischen Intervention lösen sollte. Vergeblich.

Die Absurditäten unseres Systems erkennen wir nicht mehr, weil der Fortschritt alle Fehler überdeckt. Wird eine neue Maschine erfunden, heißt es stereotyp: gewiss wird es einige Schwierigkeiten geben, doch alles in allem wird der rasende Geist der Naturerklärung alle Probleme lösen.

Fortschritt, so das Credo der Moderne, ist die jesuanische Beglückung der Welt – ohne Jesus, aber mit messianischen Maschinen, die den Menschen in den Schatten stellen sollen. Das eigentliche Ziel des Fortschritts ist das Überflüssigmachen des Menschen.

Woran erkennt man die Primitiven, Vorindustriellen, die Selbst-zufriedenen und Risikoscheuen? Sie geben sich mit jener Welt zufrieden, die sie vorgefunden haben. Kein Impuls ist bei ihnen zu erkennen, ihre Passivität in Aktivität zu verwandeln. Neugierde auf das Unbekannte kennen sie nicht. Nichts Faustisches ist an ihnen zu entdecken, geschweige Mephistophelisches: das Böse zu wollen, um das Gute zu bewirken.

Ihre Welt kennt keine anderen Interessen, als sich ausreichend zu ernähren und in Freuden zu leben. Das war auch die aristotelische Vorstellung von rationaler Ökonomie. Wer nach mehr Gütern und Geld giert, als er zum genügsamen Leben benötigt, lebt vernunftwidrig.

Heute gilt das Gegenteil von Adam Smith: nur wer Moral bewusst verschmäht, weil Wirtschaft eine naturwissenschaftliche Disziplin ist, wird mit berechenbarem Erfolg belohnt.

Die Religion der Nächstenliebe muss das Böse wollen, um das Gute auf Erden zu gewinnen. Was die Gläubigen nie verstehen: das Böse ist das nützliche Vehikel des Guten, der Teufel ein Knecht des Erlösers. Ohne Widersprüche wären Gott und Engel saft- und kraftlos.

Die USA, die wichtigste Macht des Westens, hält es für berechtigt, ihre demokratische Vorbildlichkeit – wenn’s anders nicht geht – mit militärischer Gewalt zu exportieren.

„Amerika, das die Macht von Europa übernommen hat, sei der aufrichtigen Überzeugung, nur wenn es der Welt seinen Willen aufzwinge, könne sie gerettet werden. Aber diese Welt widersetzt sich diesem Willen.“ (Howe)

Dennoch hat sich mittlerweilen allerhand getan. Der „Bann der westlichen Politik ist endlich gebrochen. Das Gefühl der Demütigung, das auf mehreren Generationen von Asiaten lastete, ist schwächer geworden. Der Aufstieg Asiens und das Selbstbewusstsein asiatischer Völker vollenden deren Revolte, die vor mehr als einem Jahrhundert begann.“

Der Putin-Krieg hat mit Gewalt die neuen Konstellationen der führenden Mächte aufgedeckt. Wer mit wem? Wo verlaufen die neuen Frontlinien?

Das allerschlimmste ist die Unfähigkeit der Völker, ihre unvereinbaren Gedanken und Philosophien zu klären. Die Menschheit versteht sich nicht, weshalb sie sich ständig mit Waffengewalt verständigen muss.

Die philosophische Kritik der asiatischen Völker ist bis heute nicht im Westen angekommen. Man sitzt auf hohem Ross im Reich der KI, die sich rüstet, die Menschheit abzuschaffen. Man nutzt seinen Kopf nicht zum Denken, sondern um die immer genialeren Maschinen zu handhaben.

Der Mensch scheint sich so überflüssig in der Welt vorzukommen, dass er kein dringlicheres Ziel kennt, als immer genialere Maschinen zu erfinden – um überflüssig zu werden.

„Bis heute gibt es keine überzeugende universalistische Antwort auf westliche Vorstellungen von Politik und Ökonomie, obwohl beides immer fiebriger wirkt und gefährlich für weite Teile der Welt erscheint. Gandhi, ihr schärfster Kritiker, ist heute selbst in Indien vergessen. Selbst Chinas Marxisten vergessen immer mehr die schlechte Kopie des christlichen Messianismus und spielen immer mehr auf konfuzianische Harmonievorstellungen an.“ (ebenda)

Es ist ja nicht wahr, dass Kritik am westlichen Kapitalismus, inklusive Fortschrittswahn, nur von außereuropäischen Kulturen käme. Auch in Deutschland gab es vor etwa 200 Jahren eine scharfe Kritik am angelsächsischen Kapitalismus. Der Schlachtruf des Ersten Weltkriegs „Händler gegen Helden“ war nur ein dürftiges Randereignis.

Von der Romantik bis zu den Neukantianern gab es eine Flut an „ethischen Ökonomien“, die mit Marxismus nichts zu hatten und bis heute spurenlos versenkt wurden. Man nennt sie verschämt „historische Ökonomen“, weil sie den wissenschaftlichen Charakter des Kapitalismus angeblich nicht verstanden hatten.

Selbst Sombarts negativ klingende Beschreibungen waren nichts als paradoxe Bewunderungen. Das Natürliche war jene Welt, die von der künstlichen Welt des Kapitalismus vernichtet wurde. Sombart staunte über diese Kunstwelt als die eigentliche Schöpfung des genialen Menschen:

„Der vorkapitalistische Mensch: das ist der natürliche Mensch. Der Mensch, wie Gott ihn geschaffen hat. Der Mensch, der noch nicht auf den dem Kopfe balanciert und mit den Händen läuft, sondern der mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht und mit ihnen durch die Welt schreitet. Er ist der „Maßstab aller Dinge“.“ (Der Bourgeois)

Heute sehen wir, wie der „Maßstab aller Dinge“ den Maßstab der Natur zertrümmert hat und nun nicht mehr weiß, wohin die Reise gehen soll.

„Wir wissen: es ist ein Geist mit ungeheurer Kraft zur Zerstörung alter Naturgebilde, alter Gebundenheiten, alter Schranken … Es ist jener Geist, der seit dem ausgehenden Mittelalter die Menschen aus den stillen, organisch gewachsenen Liebes- und Gemeinschaftsbeziehungen herausreißt und sie hinschleudert auf die Bahn ruheloser Eigensucht.“ (Der moderne Kapitalismus , Bd. 1)

Das muss als paradoxe Bewunderung gelesen werden. Erst dann erkennen wir die treffliche Beschreibung unserer heutigen Weltkrise: Natur kaputt, Mensch größenwahnsinnig, das Humane eliminiert.

Fehlt noch die Schlussfrage: was müssten wir lernen, um das Desaster der Welt zu beseitigen? Wir sollten den Irrsinn unseres Zynismus aufräumen: das Böse ist nicht das Gute, das Gute nicht das Böse. Fasse es, wer es fassen kann.

Fortsetzung folgt.