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Übermensch und over-soul

Hello, Freunde des Iraks,

ist Isis eine Terrorgruppe, ein Kalifat – eine Religion? Oder ist Isis eine religiöse Terrorgruppe, ein theokratisches Kalifat, das Gewalt für seine religiösen Ziele einsetzt?

Für den ZEIT-Redakteur Ladurner gibt es nur ein Entweder–Oder. Religion muss für ihn der Inbegriff der Liebe und der Innigkeit sein. Alles, was mit Gewalt zusammenhängt, kann keine Religion sein.

„Terrororganisationen wie Isis im Irak und in Syrien haben mit Religion nichts zu tun. Sie treibt allein Gewalt, Gier und Größenwahn. … Die Geschichte von Terrororganisationen zeigt eines: Wenn der Terror überhaupt eine ideologische Basis hat, wird diese im Kampf relativ schnell abgeschliffen. Alles Politische verschwindet, auch alles Religiöse. Es bleibt nur mehr Gewalt, Gier und Größenwahn. Das sind die drei G’s des Kalifats von Isis.“ (Ulrich Ladurner in ZEIT Online)

Bei dieser reinlichen Separierung von Gewalt und Religion, könne die Berufung auf Religion nur eine Alibi-Funktion haben. Die zu allem entschlossen scheinende marodierende Truppe verfüge nicht über die geringste „religiöse Glaubwürdigkeit“, die nach Ladurner nur in sanftmütigen Akten der Nächstenliebe bestehen könne. Isis aber sei nichts als eine kriminelle Bande, die

mit Drogen und Waffen ein „hässliches irdisches Paradies“ anstreben würde.

„Isis beruft sich auf das alte islamische Gottesreich, weil es sich selbst adeln möchte: Wir führen Krieg im Namen Gottes. Alle Muslime müssen uns folgen. Wir sterben, damit Ihr ein gottgefälliges Leben in dieser verruchten Welt führen könnt! Das ist die Botschaft von Isis. Das sollen wir glauben.“

Warum glaubt Ladurner nicht? Isis-Terroristen, vermutet er, verstünden nichts vom Koran, könnten also nicht kompetent sein, um Gewalt durch Berufung auf die Heilige Schrift zu rechtfertigen. Kann die Isis-Truppe kein theologisches Zertifikat einer von Ladurner und Gott anerkannten Hochschule vorweisen?

„Die Isis-Kämpfer verstehen vom Koran gewiss weniger als von einer Kalaschnikow. Und ihr Führer Abu Bakr al-Bagdadi hat vermutlich mehr Zeit beim Bomben-Basteln verbracht als beim Studium zur Verinnerlichung der Lehren Mohammeds“.

Vermutlich, gewiss doch, vermutlich: Ladurner kennt keinen einzigen Isis-Kämpfer, aber er weiß gewiss, dass sein muss, was er aus der unfehlbaren Sicht eines Christenbeobachters fern-konstatieren kann. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn in der Truppe gelehrte Männer wären, die ihren Koran auswendig deklamieren und alle Brutalitäten ihrer Brüder mit präzisen Zitaten Mohammeds belegen könnten. Was wäre dann, oh Ulrich Ladurner?

Dann würde Ulrich Ladurner sagen: Ich weiß wohl, dass es im Koran Aussagen gibt, die man zur Verherrlichung religiöser Gewalt verwenden kann. Aber nur, wenn man diese Texte in ihrem wörtlichen Sinn auffasst und damit missbraucht. Bei heiligen Texten muss man den ganzen Kontext beachten – und der ist im Koran die Liebe Gottes zu den Menschen. Eine alte hermeneutische Regel besagt: dunkle Stellen müssen von hellen erklärt und beleuchtet werden.

Aber, Herr Ladurner, die gewalt-rechtfertigenden Texte sind doch gar nicht dunkel. Die sind im Gegenteil glasklar und unmissverständlich. Im übrigen, wer bestimmt, welche Texte dunkel und hell sind? Wer bestimmt die Regeln, mit denen man heilige Schriften deutet? Hatten diese von Theologen ausgedachten Regeln nicht den Zweck, Kritik von heiligen Büchern fernzuhalten?

Wenn man profane Texte nach theologischen Deutungsregeln lesen würde – gäbe dies kein Chaos im Rechtswesen, bei den Medien, in der Weltweisheit, eben überall?

Auf welches Sondertribunal kann sich das Heilige berufen, um ein X nicht als X gelten zu lassen? Warum muss X immer ein höheres Y sein? Müssen gott-trunkene Hermeneutiker sich nicht auf esoterische Erkenntnisse berufen, die nur Eingeweihten zugänglich sind?

Um die ätherischen Deutungskünste der Deutschen zu verstehen, muss man die folgenden Worte Jesu wortwörtlich nehmen: „Deshalb rede ich in Gleichnissen zu ihnen, weil sie mit sehenden Augen nicht sehen und mit hörenden Ohren nicht hören und nicht verstehen. Hören werdet ihr und nicht verstehen, und sehen werdet ihr und nicht erkennen. Er hat ihre Augen geblendet und ihr Herz verstockt, damit sie mit den Augen nicht sehen, noch mit dem Herzen verstehen und sich bekehren und ich sie heile.“

Das ist die komplette Umwertung des griechischen Erkenntnisprozesses. Bei den Heiden beginnt Erkennen mit sinnlichem Wahrnehmen und führt über Bestaunen des Wahrgenommenen zu Gedanken und Hypothesen, die auf logische Stimmigkeit durchdacht und im Streit der Schulen auf Wahrheit geprüft werden. Alle sinnlichen und intellektuellen Fähigkeiten führen vom Eros, der Leidenschaft, zur Erkenntnis der Natur und des Menschen. Im Erkennen wird der Mensch eins mit dem Kosmos, er kehrt zum Ursprung zurück.

Bei Jesus dient Hören und Sehen dazu, die Botschaft vom Heil nicht zu hören und nicht zu verstehen. Die sinnliche Wahrnehmung dient der absichtlichen Blendung und Verstockung der Verdammten.

Nur bei den Erwählten ist es ganz anders. „Siehe, ich stehe an der Türe und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hört und die Tür öffnet, werde ich zu ihm hineingehen und das Mahl mit ihm halten.“ Die Stimme hören und richtig verstehen können aber nur diejenigen, denen der Herr diese Gabe zuvor verliehen hat. „Die Schafe folgen ihm nach, denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber werden sie nicht nachfolgen, sondern vor ihm fliehen, denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht. Diese Bildrede sprach Jesus zu ihnen. Jene aber verstanden die Bedeutung seiner Rede nicht.“

Jesus spricht zu allen – das klingt nach universeller Botschaft. Doch der Schein trügt, verstehen dürfen ihn nur die Seinen, die er vor Erschaffung der Welt berufen hat. „Wer Ohren hat, zu hören, der höre.“ Solche hörenden Ohren haben nur die Erwählten. Die anderen hören den äußeren Sinn der Worte, verstehen aber nicht ihre geheime Botschaft.

Äußerlich spricht Jesus mit einer Zunge. Innerlich ist seine Botschaft gespalten, denn sie hat den Zweck, die Menschheit in Spreu und Weizen zu teilen. Jesu Rede ist ein Selektionstest, der die Böcke von den Schafen scheiden soll. Alle hören das ordinäre X, nur die Erwählten hören unter und über dem X das höhere wahre Y.

Nur folgerichtig, dass Theologen des Mittelalters aus dieser Ambiguität (Zweideutigkeit) der Botschaft die Lehre von der doppelten Wahrheit ableiteten. Die Logik der Welt war nur für die weltlich Gesinnten, die höhere Logik des Heils war den erwählten Schäfchen vorbehalten.

In der Logik der Welt fand im Katholizismus die heidnische Vernunft ihr partielles Recht. In höheren Dingen der Glaubenslehre aber hatte die Vernunft zu schweigen. Wenn Benedikt Vernunft und Glauben für vereinbar hält, bezieht er sich nur auf die niedere Sphäre der Welt. In Dingen des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung hat die Vernunft nichts zu sagen.

Glaubensangelegenheiten müssen nicht vernünftigen Kriterien genügen. Im Gegenteil, was göttlich ist, zeigt sich an seiner Absurdität. Credo, quia absurdum, ich glaube, weil es unvernünftig ist. Ein Gott, der von der Vernunft erfasst werden könnte, wäre ein Aftergott, aber nicht der allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden.

Gott erkennt man nur, wenn man die eigene Erkenntnisfähigkeit an der Garderobe abgibt und auf höhere Einsicht vertraut. Der Friede, der höher ist denn all eure Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne.

Für seine Heilsbotschaft benutzt Gott die normale Sprache – dem Anschein nach. In Wirklichkeit transportiert die normale Sprache einen verborgenen Inhalt, der sich nur Eingeweihten erschließt. Die Nichterwählten hören nur den irdischen Sinn der Rede. Die Erwählten hören in, mit und unter der irdischen Rede die eigentliche Botschaft des Heils, die den Kindern der Welt für immer verschlossen bleibt.

Umgekehrt: wenn Kinder des Lichts ihre erleuchtete Sprache benutzen, ist es für die Kinder der Welt, als seien jene besoffen. So war‘s bei der Ausgießung des Heiligen Geistes: „Andere aber spotteten und sagten: sie sind voll des süßen Weines.“

In der Geschichte vom Turmbau zu Babel spaltete Gott die Menschheit, indem er ihre gemeinsame Sprache zertrümmerte. In der Ausgießung des Heiligen Geistes wurde die Trennung der Menschen wieder hergestellt – aber nicht für alle Menschen. Nur die Erwählten wurden zu einem Herz und einer Seele, die Verworfenen verstanden weiterhin nichts vom Zungenlallen der Lieblinge Gottes.

Für die Erwählten gilt die Verheißung, dass sie alle Heiden überragen. „Ich habe gesagt: ihr seid Götter und allzumal Kinder des Höchsten.“ Von solchen Stellen leitet sich die Überzeugung der Gläubigen ab, keine ordinären Menschen wie Hinz und Kunz zu sein, sondern Übermenschen. (Siehe Ernst Benz „Der Übermensch“):

„Die Idee des Übermenschen ist also eine genuin christliche Idee, die von charismatischen Menschen entwickelt wurde, die sich über das normale Menschsein emporgehoben fühlten und gerade darin die Gnadenwirkung Gottes und des Geistes sahen. Diese «höchste aristokratische Geltendmachung» gehört zum Selbstbewusstsein des christlichen Charismatikers, der sich weit über die Stufe des sarkischen („fleischlich gesonnenen“) Menschen hinausgehoben weiß und in dem die zukünftige Erhöhung des Menschseins bereits jetzt zur Wirklichkeit wird.“

Als die ersten Eremiten sich Mönche nannten, bezeichneten sie sich als Einzigartige, denn „monachos“ ist der Einzigartige.

Meine lieben Geschwister, was ihr gerade gelesen habt, war nichts weniger als die Grundlagenphilosophie von – Silicon Valley. Also von ganz Amerika, das sich monachisch versteht, was moderne Politologen den amerikanischen Exzeptionalismus nennen. Die erwählte Nation ist einzigartig. Verglichen mit ordinären Hinz- und Kunzstaaten sind sie gottgleich.

Wer gottgleich ist, besitzt die Lizenz zur göttlichen Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart (Omnipotenz, Omniszienz und Omnipräsenz). Das ist die Dreierformel für das Herzstück der gottgleichen Weltpolitik Amerikas: die NSA, Gottes eigene Schnüffelbehörde.

Ein wenig fehlt ihnen noch zur absoluten Gottgleichheit. Gott sieht die Herzensregungen des Menschen in simultaner Gleichzeitigkeit. Die NSA muss noch viel sammeln und berechnen, bis sie perfekt voraussehen kann, was prädeterminierte Sündenkreaturen beabsichtigen und planen.

Kein Wunder, dass Sascha Lobo beim Knacken der NSA das Handtuch wirft. Amerikas schlagendes Maschinenherz lässt sich nur in geringem Maß immanent aufbrechen. Das Zentrum der amerikanischen Befindlichkeit ist gottebenbildlich und lässt sich nur theologisch verstehen und demontieren. Der Generalschlüssel zur amerikanischen Weltmacht ist die Entschlüsselung der biblischen over-soul, des charismatischen Übermenschen, der in Neu-Kanaan Fleisch geworden ist.

Für Emerson, den biblisch orientierten Philosophen, ist jeder Zuwachs an Macht eine Annäherung an Gott. Jedes Plus an Macht ist ein Schritt zur Vollkommenheit auf Erden. So wird Emerson zum Nietzsche Amerikas. Sein Übermensch ist der „plus-man, a man of force, the strong man.“ Der strong man ist ein Wunder an Vitalität, dessen Erwählung man an seinem grenzenlosen Erfolg erkennt, der sich unbeirrbar der transzendenten over-soul nähert, der Überseele, die sich von aller irdischen Fehlerhaftigkeit gelöst hat.

Wer diese Sätze nicht verstanden hat, wird Gottes eigenes Land nie verstehen. Die NSA versteht sich als over-soul, die durch Omnipräsenz den erwählten Teil der Menschheit ins Licht führen – und den andern im Orkus versenken wird.

Ernst Benz sieht bei Emerson die Überlappung des heiligen und des naturwissenschaftlichen Wegs: „Hier wird deutlich, wie sich bei Emerson die Linie der christlichen Endzeiterwartung und die darwinistische Linie der Evolution überkreuzen und miteinander verknüpfen.“

Der gottebenbildliche Mensch, der Erleuchtete, ist der zweite Adam, der die Sünde überwunden und das technische Superreich der Zukunft entdeckt und entwickelt hat. Die Aufgabe der geistbegabten Technik ist, den Traum „vom ewigen Frühling, ewiger Jugend und ewigem Frieden, die Sehnsüchte nach gottähnlicher Allmacht, Allgüte, Allwissen“ (Eugen Sänger) in handfeste Realität zu verwandeln.

Die NSA will zu Gottes allwissendem Auge werden, das gütig und streng auf der Menschheit ruht, solange, bis der wiederkommende Herr selbst das Steuer in die Hand nehmen wird. In der NSA hätte Nietzsche seine Übermenschen-Phantasie wiedergefunden. Ziel des Übermenschen ist das „Ideal eines menschlich-übermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen wird.“ Woraus wir entnehmen, dass die Zielvorstellungen der NS und der NSA à la longue dieselben sind.

Allan Bloom hielt Nietzsches Einfluss in Amerika für ein Verhängnis. Er sah nicht, dass Nietzsches Übermensch und Emersons over-soul längst eins geworden waren und inzwischen – das konnte Bloom nicht mehr erleben – in der NSA-Behörde zur Einheit verschmolzen sind.

Was für Amerika der übermenschliche Algorithmus, ist für Deutschland die unfehlbare Deutung der biblia sacra. Die Erwählten erkennen den verborgenen Sinn der jesuanischen Heilslehre. Die Sprache hat eine esoterische (innerliche) Bedeutung, die nur Erleuchteten zugänglich ist. Für Heiden und Ungläubige bleibt die exoterische (äußerliche) Bedeutung, die sich mit dem nackten Buchstaben begnügen muss.

Spätestens seit der Romantik wird die esoterische, nicht-wörtliche Auslegung der Schrift zur verbindlichen Glaubenslehre aller Christen. Wer zu den Gläubigen gehören wollte, nahm Abschied vom exoterischen Sinn der Schriften. Der Terror der natürlichen Sprache war gebrochen. Die sarkischen Buchstaben dienten dem Sprung ins esoterische Erkennen, das wenigen vorbehalten war.

Eine exoterisch-esoterische Hierarchie ist das Merkmal einer totalitären Theokratie. Äußerlich sind die Menschen gleich, innerlich sind sie gespalten in Selige und Verdammte.

Die Dominanz der Esoterik, die die heilige Schrift nach Belieben verändern kann, zeigt uns, in welcher Gesellschaft wir wirklich leben. Äußerlich sind wir alle gleich, innerlich leben wir in einer mittelalterlichen Hierarchie, in der elitäre Esoteriker die exoterischen Massen beherrschen.

Unsere Demokratie ist eine verkappte Theokratie, die sich egalitär gibt und antiegalitär ist bis auf die Knochen. Die immer religiöser werdenden Eliten verfügen über einen Zauberwürfel: ihre biblia sacra on demand lässt keine ihrer Allmachtsphantasien ins Leere laufen.

Was immer sie tun, das Auge ihres Gottes ruht auf ihnen mit Wohlwollen. Amerikaner sind mit Algorithmen unterwegs zur Unfehlbarkeit – die Deutschen mit esoterischer Deutung ihrer heiligen Schriften, in die sie alles hineinprojizieren, was ihr menschlicher Wahn ihnen einzugeben beliebt. Beide Staaten sollten sich zu einer theologischen Freihandelszone zusammenschließen: Übermensch & over-soul wären ein unschlagbares Team.

Erlösungsreligion, Herr Ladurner, ist nichts anderes als Gewalt, Gier und Größenwahn, getarnt als Beglückungszwang.