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Tanzen

Hello, Freunde des Tanzens,

Bedford-Strohm, oberster Protestant, hat kein Verständnis für Menschen, die an Karfreitag tanzen wollen. An einem Tag von 365 Tagen werde man doch leiden und trauern können, erklärte er im kirchentreuen Rundfunk SWR.

Sein Unverständnis ist der deutschen Theokratie Pflicht und Auftrag, ihre Untertanen zum Trauern und Leiden zu zwingen. Zwang zu einem Seligkeitsglauben, den man nicht teilt – oder Zwangsbeglückung – ist Faschismus. Das Gesetz des Tanzverbots an Karfreitag ist ein legal-faschistoides.

Die Kirche als Zwangsbeglückerin war die Urquelle des deutschen Totalitarismus. Der Faschist will den Andersdenkenden zu seinem Glück zwingen. Es macht ihn rasend, dass der Andere „verloren geht“. Er erträgt nicht, dass sein Nächster unglücklich auf Erden, unselig im Himmel wird. In der Devise des Großen Friedrich: jeder soll nach seiner Facon selig werden, hört er mit Grauen den unbarmherzigen Satz: jeder kann nach Belieben zum Teufel gehen.

Kann man, darf man zuschauen, wenn das eigene Kind, der Volksgenosse, die BürgerInnen des eigenen Landes, unrettbar zu Grunde gehen? Ist es nicht unverzeihliche Grausamkeit und Menschenfeindschaft, andere blindlings ins Verderben rennen zu lassen, ohne den geringsten Versuch der Rettung unternommen zu haben? Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt, das ist die verzweifelte Pädagogik des Zwangs – oder der

Virus des Totalitären, der keinem Abendländer unbekannt ist.

„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“

Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.“
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan!

Das Weibliche ist der utopische Ort des rauschhaften Glücks – für den sinnenfeindlichen und eifersüchtigen Vater ein Ort der Verdammnis. Das irdische Leben ist kein Garten der Venus. Den Sohn muss er vor den verführerischen Lustweibern retten – und wenn dieser stürbe.

Ursprung des Bösen ist – das Beste. Theologisch: Gott und Teufel sind eins oder verschiedene Seiten derselben Medaille. „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe“, so der Reformator. Die einen verglühen und werden verbrannt, die anderen werden gerettet.

Der liebende Gott offenbart sich in seinem Sohn (deus revelatus); der grausame und unbarmherzige Gott bleibt verborgen und unverständlich (deus absconditus). „Fürwahr, du bist ein verborgener Gott, du Gott Israels.“ Die kleine Schar der vorherbestimmten Seinen führt der Sohn ins Himmelreich, die Mehrheit geht verschütt. „Ringet danach, dass ihr durch die enge Tür hineingeht. Denn viele werden hineinzugehen suchen und es nicht vermögen.“ Die Mehrheit wird vor der Türe bleiben. Zu ihr spricht der Herr: „Ich weiss von euch nicht, woher ihr seid.“ Die Vielen werden hinausgestoßen, wo Heulen und Zähneknirschen sein werden.

Gott wollte ursprünglich alle Menschen retten: mit unermesslichen Freuden als Lohnverheißung und mit furchtbaren Qualen als Strafandrohung. Doch es hilft nichts, nur eine verschwindende Minderheit folgt seinen messianischen Sirenengesängen. Zur Strafe müssen die Erlösungsverweigerer ewig im Feuer schmoren.

Das Böse ist nicht Gegenteil des Guten. Es ist dessen Vollstreckung, wenn die Menschen das Gute ablehnen – und auf eigenen Glücks- und Lebensvorstellungen beharren. Zwangsbeglücker hassen den freien Willen der Menschen. Die Autonomie der anderen ist für sie unerträglich.

Aus dem Willen zum Guten, gepaart mit dem Hass auf die Freiheit des Menschen, der über sein Glück selbst entscheiden will, entsteht die schreckliche, die totalitäre Tat: lieber sollt ihr tot sein, als meinem Willen nicht zu gehorchen. Wollte ich nicht das Beste für euch, ihr undankbaren Geschöpfe? Der heilige Zorn des zurückgewiesenen Glücks- und Seligkeitsbringers gebiert das Schrecklichste auf Erden, die totalitäre Vernichtung. Wenn sie schon krepieren sollen, dann wenigstens durch Mich.

Gut sein wollen genügt nicht. Man muss wissen, wie man freien Menschen Gutes erweisen kann. Vor allem muss der Gutwillige die Freiheit des andern respektieren. Das Gute, welches er anbietet, muss er so vorleben, dass der andere fasziniert sein kann und sich aus freien Stücken für das Angebot entscheidet.

Für den Faschisten – jenen Menschen, der sich für allmächtig hält – ist der freie Wille seiner Zöglinge die unverzeihliche Kränkung seines eigenen Willens, den er für unwiderlegbar gut und unfehlbar wahr hält.

Gut und frei sein, Moral und Freiheit, gehören zusammen. Wer andern nützen will, gehe auf die Agora und biete seine Glücksbotschaft den BürgerInnen an. Ihre Reaktionen und Antworten muss er respektieren.

Was der Faschist nicht versteht: der andere Mensch besitzt dieselben Rechte, sein Leben zu bestimmen, wie er und alle anderen. Wer die Freiheit des anderen verletzt, hat seine gute Botschaft bereits pervertiert.

Moral ohne Freiheit ist Nötigung, Erlösung ohne Freiheit religiöse Zwangsbeglückung. Politische Zwangsbeglückung ist Faschismus oder Totalitarismus. (Gemessen am Ausmaß des Schrecklichen, sind Faschismus und Totalitarismus unterschieden, der Substanz nach sind sie gleich.)

Die faschistische Zwangsbeglückung – oder Erlösung – ist das steinzeitliche Relikt eines Übermächtigen, der seinen schwachen Abhängigen Gutes tun will, aber nicht verstanden hat, dass er seine Glücksadressaten erst in Freiheit entlassen muss, bevor er ihnen Angebote machen darf. Beglücken und befreien müssen zusammenfallen.

Die adäquaten Mittel des Anbietens sind: das gleichberechtigte, nach fairen Methoden kämpfende und streitende Suchen nach Wahrheit und das vorbildliche Tun, das die eigene Rede bewahrheitet. Mit einem Zauberwort: die Demokratie.

Der platonische Urfaschismus musste die freie Polis negieren. Der verzweifelte Schüler Platon, dessen adlige Herkunft sein Denken und Tun immer mehr dominierte, wurde zum Antagonisten seines urdemokratischen Lehrers Sokrates. Die Zwangsbeglückung der Weisen mündete in die Zwangserlösung der Religion. Platonismus und Christentum – der in den Himmel projizierte, absolute Platonismus – wurden die beiden Hauptquellen des abendländischen Totalitarismus.

Die deutsche Demokratie, erst vor wenigen Dekaden von totalitären Fesseln von außen befreit, erlaubt sich noch immer faschistisch-klerikale Eierschalen in ihrer Verfassung. Mit der Generallüge, sie habe Demokratie und Menschenrechte erfunden, ist es der schlitzohrigen Religion erneut gelungen, den Staat von innen zu infiltrieren und Macht über die Demokratie zu erringen.

Obgleich Staat und Kirche in der Demokratie getrennt sein müssen, ist in Deutschland die letztere zur theokratischen Beherrscherin der ersteren geworden. Kein staatliches Ereignis von Bedeutung ohne ökumenische Zwangsrituale. Die Trauerfeier für die Opfer des Flugzeugunglücks in Köln wird zur kollektiven Religionsorgie einer Nation, die noch nicht verstanden hat, dass religiöse Überzeugungen private sein müssen.

Zu welchem Fanatismus religiöse Gazettenschreiber inzwischen fähig sind, zeigt ein Artikel von Matussek in der WELT. Der Verfasser erweckt den unterschwelligen Eindruck, demnächst werde er einen neuen Kreuzzug starten.

Dem christlichen Berserkertum wäre es beinahe geglückt, die gesamte demokratische Freiheit, Philosophie und Schönheit der Antike mit Stumpf und Stil auszurotten. Erst seit Beginn der Neuzeit – unter glücklicher Mithilfe hellenischen Denkens aus arabischer Vermittlung – gelang es dem Geist der Freiheit, Europa durch mehrere Aufklärungswellen peu à peu zu erobern.

Europa und die westliche Welt werden sich in politischer Humanität und Menschenfreundschaft nicht mehr weiter entwickeln, wenn die faschistoiden Erlösungsreligionen nicht zurückgedrängt werden zu politisch belanglosen privaten Illusionsmythen. Die nichtchristliche Welt wartet darauf.

„Wir werden dem Westen in seinem Wettbewerb, seinem Egoismus und seiner Brutalität nicht folgen“. (Rabindranath Tagore, zitiert in Pankaj Mishra „Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“)

Einmal im Jahr sollte Deutschland sich dem Leid der Welt widmen, so Bedford-Strohm. Was eigne sich besser dafür als Karfreitag, der „höchste Feiertag“ der christlichen Kirchen?

Das ist christlicher Leid-Narzissmus in Reinkultur. Das Leid der ganzen Welt – historisch in hohem Maße vom christlichen Westen verursacht – soll im Antlitz ihres Heilands und Erlösers symbolisiert werden, in dessen Auftrag sie die Welt missionierten, besetzten, ausbeuteten, folterten und quälten.

Rüstow spricht von der „zügellosen Bestialität der Conquistadoren“: „Dieser unser durch fünf Jahrhunderte fortgesetzte und in unbegreiflicher Verblendung noch immer nicht beendete Kolonialimperialismus hat in allen vier außereuropäischen Erdteilen entsetzliche, kaum vorstellbare Mengen von Hass- und Rachegefühlen ober- und unterirdisch gegen uns aufgehäuft, die zwar noch nicht alle explosionsbereit sind, aber letzten Endes doch nur darauf warten, zu gelegener – für uns möglichst ungelegener – Zeit gegen uns zur Explosion gebracht zu werden.“

Das wurde vor einem halben Jahrhundert geschrieben. Was ist inzwischen nicht noch dazugekommen und hat die westliche Blutsaugermentalität ins Unerträgliche verschärft? Kein Usama bin Laden, kein 9/11, keine Kriege in Afghanistan und Irak, keine ISIS, keine terroristischen Anschläge von London bis Madrid wären denkbar ohne dieses noch immer verderbliche und hass-erzeugende Erbe des westlichen Kolonialismus.

„O Haupt voll Blut und Wunden,
voll Schmerz und voller Hohn;
o Haupt, zum Spott gebunden
mit einer Dornenkron;

Du edles Angesichte,
davor sonst schrickt und scheut
das große Weltgewichte:
wie bist du so bespeit,
wie bist du so erbleichet!
Wer hat dein Augenlicht,
dem sonst kein Licht nicht gleichet,
so schändlich zugericht’?“

Wie geht der Westen mit seiner Schuld, seiner übergroßen Schuld um? Indem er all seine konkreten Untaten in der Welt negiert – und projektiv auf seinem Erlöser ablädt. Hier gibt er sich zwar schuldig, aber mit nicht existenten Taten an einem nicht existenten Phantasieerlöser. So vollbringt er das geniale Kunststück, sich schuldig zu bekennen, ohne eine einzige konkrete Schuld an konkreten Menschen zu bekennen:

Nun, was du, Herr, erduldet,
ist alles meine Last;
ich hab es selbst verschuldet,
was du getragen hast.
Schau her, hier steh ich Armer,
der Zorn verdienet hat.

An einem Tag im Jahr soll des Leids der Welt gedacht werden – damit man den Rest des Jahres seine Ruh hat? An einem imaginären Menschen soll des Leids gedacht werden – damit man die Milliarden Menschen in aller Welt getrost vergessen kann? Not und Leid, Freude und Trauer. Alles bezieht das Christendogma auf Gott. Dann kommt lang, lang nichts, dann – kommt wieder Gott.

Nur Gott und die Seele will ich erkennen, sonst nichts.“, gesteht Kirchenvater Augustin. Die Verengung der Wahrnehmungsperspektive nennt man gewöhnlich Autismus. Tritt der Autismus in heiliger Form auf, wird er zur heilsegoistischen Religion. Das Christentum ist eine Religion symbolisch-autistischer Rituale.

Was heißt das? Seine viel gerühmte Moral kann die Welt nicht verändern, denn sie soll sie nicht verändern. Merkels christliche Politik denkt nicht daran, gesellschaftliche Verhältnisse zu humanisieren und den Menschen als lernfähiges Wesen zu begreifen, das durchaus – bis zum Beweis des Gegenteils – das Schicksal der Gattung ins Gute und Helle steuern könnte. Nein, der Mensch ist ein Sündenkrüppel. Zwischen Pest und Cholera kann sich die mächtigste Frau der Welt nur improvisierend durchlavieren.

Kein Christ, der seinen Nächsten lieben soll wie sich selbst (wie kann man andere lieben, wenn man sich selbst nicht liebt?), kann ihm wirklich zur ewigen Seligkeit verhelfen. Im Gegenteil: jeder muss allein für sich kämpfen – auf Kosten seiner unendlich vielen Rivalen.

„Wisst ihr nicht, dass die, welche in der Rennbahn laufen, zwar alle laufen, aber nur einer den Preis erlangt?“ Einer von Hunderten, Tausenden, Millionen, Milliarden? Es ist dieselbe Quote wie im neoliberalen Schlachtfeld: Ein Prozent der Weltbevölkerung kassiert das Vermögen der gesamten Menschheit.

Die guten Werke der Christen sind nur das Eintritts-Billet in den Himmel, zur Humanisierung der irdischen Verhältnisse sind sie untauglich. Nicht mal der Zimmermannssohn ist imstande, seiner eigenen Familie zur Seligkeit zu verhelfen. „Weib, was hab ich mit dir zu schaffen? Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“

Die Zerstörung familiärer Ursolidarität und gewachsener Freundschaften nimmt Hayek als Vorbild, um jedwede naturwüchsige Verbundenheitsmoral zu eliminieren und eine rein auf Nutzen berechnete Eigensucht in Gelddingen zu propagieren. Wie das Christentum, ist der Kapitalismus ein familienfeindlicher Aggressor. Menschliche Beziehungen, die auf Sympathie und Zusammengehörigkeit beruhen, müssen geschleift werden, um das „Natur-Gesetz“ der Gier und Macht nicht zu beeinträchtigen.

Was man nicht kaufen kann, ist wirtschaftlich untauglich. Alles, was dem Menschen lieb und teuer ist, muss in Heller und Pfenning umgerechnet werden.

Nachdem der Mann schon fast vollständig dem Diktat der Geldmänner unterworfen wurde, müssen nun auch die Frauen ihre Kinder verlassen, um dem Moloch Profit seinen Tribut zu entrichten. Und dies unter dem absurden Motto der Gleichberechtigung. Größer könnte die Paranoia nicht sein.

Außer dem desolaten Herd und dem gloriosen Geldvermehrungsbetrieb scheint es nichts mehr zu geben in dieser Gesellschaft. Die politische Sphäre, der Marktplatz der Demokraten, ist im Nirwana verschwunden. Auch die „gleichberechtigte Frau“ weiß nicht mehr, was eine Agora ist, auf der sie – immer in Begleitung ihrer neugierigen Kinder, die mündige Politik durch nahes Vorbild erleben – die Rechte der Citoyens vertreten könnte.

Ginge es nach der Wirtschaft, wäre der Staat längst abgeschafft, die Familie am Boden zerstört, der Marktplatz im Eimer, alle Arbeitsplatzsucher in Abhängigkeit von despotischen Betrieben und alle Konsumenten an der Leine eines naturschädlichen Überflusses.

Auch Bedford-Strohm will zwangsbeglücken – durch zwangstrauern. So, wie der Erlöser nur ein scheinbarer Mensch, ist nur eine scheinbare Trauer gefordert. Jeder weiß inzwischen, dass Scheinmensch Messias den Tod überwunden hat, um glorios alle Naturgesetze zu brechen. Wer den Tod überwinden will, muss Natur auslöschen.

Der Tod ist notwendiger Bestandteil der Natur. Gäbe es keinen Tod, wäre die Erde binnen weniger Jahre überfüllt. Der Tod ist die Voraussetzung des Lebens.

Das übliche, sich tiefsinnig gebende Gejammer um den Tod, die aggressiven Attacken gegen den Garanten der Endlichkeit – haben noch nicht verstanden, dass der Tod ein Freund aller lebendigen Wesen ist. Wir räumen den Platz, um folgenden Generationen eine Chance zu geben.

Wer unsterblich sein will, will nicht nur alles Natürliche vernichten. Hätte er Erfolg, gäbe es für kommende Generationen keinen Platz mehr auf Erden. Unsterbliche Menschmaschinen würden die Erde für immer blockieren. Methusalems Lebenszeit von 969 Jahren wäre ein Kinderspiel. Noah zeugte erst im Alter von 500 Jahren Sem, Ham und Japhet. Abraham starb im Alter von 930 Jahren.

Welch ein Witz: alle menschlichen Utopien werden heute verflucht, doch die lächerlichsten technischen Utopien werden in höchsten Tönen gefeiert.

Damit sie sich frei und erlöst fühlen, müssen Christen ihren Gott opfern. Es ist die tödliche Rache von Kreaturen, die sonst von ihren Göttern geopfert wurden. Religionspsychologisch könnte man von einer ersten Widerstandsbewegung der Gottgläubigen reden. Doch die trotzige Auflehnung gegen einen schwachen Vater verstärkt nur die Allmacht des Vaters. Sie traktieren ihren geliebt-gefürchteten Gott, wie Gott sie allzuoft selbst traktierte. Sie machen Ihn zum Opfer, um selig zu werden. Gott musste Mensch werden, um als Mensch geopfert werden zu können.

Das Christentum ist eine Religion des Vatermords. Als Freud in Totem und Tabu die Brüderhorde – die der Vater von allen Frauen ferngehalten hatte – sich zusammenrotten ließ, um den Alten zu beseitigen, muss er unbewusst das Christentum im Auge gehabt haben.

Auch Mitscherlichs Formeln von der vaterlosen Gesellschaft und der Unfähigkeit zu trauern beziehen sich auf die „Vaterfigur“ eines charismatischen Übervaters. Die Unfähigkeit zu trauern bezog sich keineswegs auf etwaige Reuegefühle um ermordete Juden und gefallene Deutsche. Sie bezog sich nur auf die Vaterfigur des Führers, dessen Tod und Niederlage die Deutschen emotional nicht zur Kenntnis nehmen wollten.

Desgleichen hätte Freuds Ödipuskomplex besser auf den Gottessohn gepasst, der – in seiner Eigenschaft als Gott – seine eigene Mutter geschwängert hatte und sich – wiederum als Gott – selbst ermorden ließ.

Da Gott als Mensch sich opfern muss, um die Menschen zu erretten, ist Menschenopfer das Zentrum des christlichen Dogmas. Der Mensch muss einen messianischen Menschen kannibalisch verspeisen, um unsterblich zu werden. „Für euch ist es besser, wenn ein Mensch für das Volk stirbt und nicht das ganze Volk umkommt.“ „Ohne Blutvergießen keine Vergebung“. „Wer mein Fleisch esset und trinket mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm.“

Wer sich jemals das Vergnügen machte, religionshistorische Bücher zu lesen, weiß, dass leidende und auferstehende Götter in der Antike en masse vorhanden waren. Dionysos, Herakles, Attis, Osiris und Tammuz, Orpheus und Mithra. Alle nannten sich Soter – Erlöser. Alle litten Höllenqualen. Alle waren „Grenzüberschreiter“, woraus wir entnehmen, dass heutige Grenzüberschreiter in den Spuren uralter Erlöser wandeln. Jeder Reinhold Messner, der die Grenzen der Natur, jeder Ray Kurzweil, der die Grenzen des Menschen überschreitet, ist ein potentieller Heilsbringer der Menschheit.

An Karfreitag beweint die Christenheit einen rein virtuellen Gott in einer rein virtuellen Vergangenheit, um eine rein virtuelle Zukunft zu gewinnen. Das Mitleid der Christen betrifft nur einen virtuellen Gott – aber nicht reelle Menschen, die sie in die Hölle verdammen, solange diese an den virtuellen Gott nicht glauben.

Solange der westliche Mensch sich nicht aufrafft, die Realität der Natur wahrzunehmen, wie sie ist, solange wird es ihm nicht gelingen, seine reellen Probleme wahrzunehmen und aus eigener Kraft zu lösen. Erst wenn trauern und tanzen identisch geworden sind, hat der Mensch seinen Platz auf Erden gewonnen.