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Streitrede

Hello, Freunde der Streitrede,

es wird nicht mehr gestritten. Die Matadore reden immer schneller und hastiger. Das Gesetz der rasenden Beschleunigung gilt auch im Wortemachen. Das rhetorische Fluten hat den bedachtsamen Dialog ersetzt.

Der Sieg der Rhetorik über die Philosophie führte zum Sieg der sintflutartigen Predigt über das Abendland. Die Monologe der Talkshows sind asynchrone Predigten. Nicht selten, dass zwei Gesprächsteilnehmer sich dauerschwatzend anschauen, die Predigt des anderen mit der eigenen übertönend und erstickend.

Moderatoren sind keine Debattanten, sondern servile Stichwortgeber und diktatorische Wortabschneider. Das Stichwort öffnet die Schleuse und der Gebirgsbach stürzt ins Tal.

Ein strenger Dialog folgt dem Gebot des Verstehens und der Logik der Argumente, ein TV-Gespräch hingegen den willkürlichen Stichwortkarten der Talkmaster. Jede unverbundene Frage zerstört das notwendige Klären eines Begriffs, das nachhakende Verstehen, die Folgerichtigkeit der Widerlegungen oder Bestätigungen. Debattieren ist wie Florettfechten: Schlag um Schlag, Argument um Gegenargument.

In frühplatonischen Streitgesprächen bestehen Thesen und Antithesen oft aus einem einzigen lakonischen Satz. Heutige Monologe emittieren riesige Wortklumpen und Gedankenschwärme, die niemand überblickt – und niemand überblicken soll. Brachiale Interventionen von Oben sollen den Eindruck erwecken, es handele sich dennoch um Gespräche unter Zivilisierten.

Auf welchen Gedanken soll man eingehen, wenn der Gesprächspartner Predigten hält? In Gesprächen unter sensiblen Intellektuellen wird ohnehin nicht gestritten. „Ich würde Sie ein klein wenig korrigieren wollen“: solche hasenfüßige Konjunktive

sind das Höchste, was von Gelehrten und Literaten zu erwarten ist.

Echte Dialoge brauchen keinen Moderator. Wohin der rote Faden führen soll, darüber müssen die Streitenden selbst unaufhörlich – streiten. Der rote Faden ist keine äußerliche GPS-Leitung, sondern der gesuchte Kurs durch das Dickicht der Missverständnisse, Denkverbote und traditionellen Blindheiten. Sollte ein Außenstehender den Anspruch erheben, besser als die Disputanten zu wissen, wohin die Reise gehen soll, muss er selbst in den Ring. Schon die überbesetzten Gesprächsrunden von heute garantieren die quantitative Ausweglosigkeit der Schaukämpfe unter der Peitsche pfauenhafter Solisten.

Interviews sind Verfallsformen des Dialogs oder Gespräche unter Abwesenden. Da Journalisten objektiv sein wollen, dürfen sie keine eigene Meinung äußern. Regelmäßig zitieren sie die Meinungen Dritter, die sie weder für richtig noch für falsch halten. Also tun sie, als ob sie stellvertretend die Meinungen anderer verteidigen würden. Doch sie meinen es nicht ernst, kokettieren lediglich mit externen Meinungen. Der Fragende und der Gefragte simulieren nur ein Gespräch.

Warum scharfsinnige Gelehrte und sensible Literaten sich an solchen Gesprächen, die keine sind, überhaupt beteiligen, zeigt das ganze Ausmaß des dialogischen Elends. Der Gefragte darf nicht zurückfragen, denn der Fragende bestimmt über die Regeln des Als-Ob-Gesprächs: hier bin ich der Meister im Ring und bestimme die Regeln.

Echte Dialoge aber dulden keine Hierarchien. Nicht der Mächtige darf sich in der Debatte durchsetzen, nur das bessere Argument darf obsiegen – vorausgesetzt, der „Verlierer“ hat dazugelernt und die besseren Gegenargumente anerkannt. Womit er selbst an Einsicht gewonnen hat.

Echtes Streiten kennt keine Verlierer. Faires Streiten ist der einzige Wettbewerb, der nur Sieger hervorbringt. Sieger als Erkennende und Lernende.

Kapitalistische Rivalität kennt Sieger und Verlierer, trennt Klassen und spaltet die Gesellschaft in Mächtige und Abgehängte. Der dialogische Wettbewerb kennt nur Gewinner. Kein ernsthaft Streitender, der beim „Ringen um die Wahrheit“ ohne Erkenntnisse bleiben müsste. Wenn ich meine Denkfehler erkannt und durchschaut habe, bin ich klüger und weiser geworden.

Eris, Hesiods Göttin des Streits, war in zwei Wesen gespaltet: „eine schlimme, die Krieg und Streit hervorruft und eine gute, die in friedlichem Wetteifer Arbeit und Wohlhabenheit fördert.“ Die Moderne hat nur die erste Eris übernommen. Bei Adam Smith entsteht die Paradoxie, dass er mit den Methoden der ersten die Früchte der zweiten einheimsen wollte. Rivalisierende Egoismen sollten die gemeinsame Wohlfahrt der Nation zustande bringen. Ohne Glauben an die allversöhnende Dialektik kann man solchen Widersinn nicht vertreten.

Heute müssen in allen Bereichen des Lebens gnadenlose Wettkämpfe durchgeführt werden. Wer ist der Agilste, Verwegenste, Erfindungsreichste? Schon die Zweiten sind Verlierer.

Ausgerechnet im Erkennen der Wahrheit sind Auseinandersetzungen verboten. Jeder muss abgeschlossen in sich selber sumpfen und darf sich mit Andersdenkenden nicht duellieren. Man könnte ja den Eindruck erwecken, man wolle Recht haben. Recht haben wollen darf man nicht, erklären diejenigen, die immer Recht haben, weil sie über die Macht des hohlen Wortes (Medien) oder über wortlose Macht verfügen (Merkel).

Ein Dialog ist eine logische Anamnese oder eine Erinnerung als Selbstüberprüfung. Im Licht der gemeinsamen Vernunft durchleuchte ich meine Vergangenheit und erforsche, was mich von der Wahrheitsfähigkeit meiner Kindheit und der gemeinsamen Wahrheit aller Menschen getrennt hat. Wahrheit ist die einzige Verständnismöglichkeit aller Menschen, sofern sie sich bemühen, die unwahren Elemente ihrer Interessen- und Klassengegensätze anamnestisch zu erkennen und zu überwinden.

Warum wird Wahrheit von den Machteliten so verbissen attackiert? Weil sie die Massen fürchten, die die Unwahrheit der ungerechten Verhältnisse erkennen könnten. Um die Wahrheitsfähigkeit der Massen zu desavouieren, muss alles ungeheuer kompliziert sein.

Und wenn es nicht kompliziert ist, kommt es in die gut geölte Verkomplizierungsmaschinerie der machtkonformen Intelligenz, die das Einfache vorne reinschiebt und das Unerklärbare als Wissenschaft und Kultur hinten herauszieht und den Massen in Schulen und Universitäten indoktriniert. Dort lernen die Vielzuvielen, dass es für sie nichts zu lernen gibt. Dumm geboren, nichts dazugelernt und die Hälfte vergessen, wie schlaue Vorderpfälzer zu formulieren pflegen.

Sie verstehen nichts, denn die moderne Welt wird täglich komplexer, haben keinen freien Willen – wie unfreie Gehirnforscher assistieren – und können ihr Schicksal nicht autonom gestalten – wie Marxisten und Neoliberale unisono die moralische Selbstbestimmung des Menschen niederbrüllen.

Doch das reicht noch nicht: die Massen haben auch nicht Recht zu haben, sonst kämen sie auf die verwegene Idee, Recht zu haben. Also gibt es auch keine Wahrheit, sondern so viele Wahrheiten, wie es Menschen gibt, damit kein Mensch sich mit anderen Menschen solidarisieren kann.

Solidarität ohne Wahrheit ist wie Religion ohne Gott. Gibt es nur endlose Perspektiven, brauchen wir nicht zu streiten, denn wir können nicht streiten. Streiten ist nur möglich bei grundlegenden Gemeinsamkeiten, in deren Licht wir unsere Unterschiede erkennen und beseitigen können.

Für die Deutsche Bewegung war eine gemeinsame Wahrheit für alle Menschen der blanke Horror. Je mehr Menschen sich der gemeinsamen Wahrheit näherten, je ähnlicher würden sie sich werden. Wo bliebe das unvergleichliche Individuum?

Wenn Unvergleichlichkeit identisch wäre mit unendlicher Verschiedenheit, könnte es kein Verstehen unter Menschen geben. Verstehen setzt intakte Gemeinsamkeiten voraus, die von der Erlösungsreligion der auserwählten Unvergleichlichen noch nicht gänzlich ausradiert werden konnten.

Unter den Völkern wollten die Deutschen die unvergleichliche und einmalige Nation sein – indem sie ihr Volk zu einer uniformen Masse einebneten, die in Reih und Glied den Befehlen ihrer unvergleichlichen Führer zu folgen hatten.

Unvergleichlichkeit war ein romantischer Oppositionsbegriff gegen die allgemeine Vernunft. Es gibt keinen Maßstab der Vernunft, an dem wir uns alle messen lassen müssten. Das deutsche Individuum wollte unfassbar und unkritisierbar sein. Gibt es keinen gemeinsamen Maßstab, ist jeder Einzelne ein göttliches Unikum. Erkennbarkeit und Widerlegbarkeit wären ausgeschlossen.

Jeder Mensch ist eine einmalige Mischung, zwei identische Menschen gibt es nicht. Doch die Mischungsinhalte sind alle vergleichbar, sonst könnten wir uns im anderen nicht erkennen. Das Ich ist nur im Spiegel des Du erkennbar, davon war Martin Buber überzeugt. Wird Unvergleichlichkeit als monadenhafte Isoliertheit definiert, landen wir in der atomisierten Einzelhaft des Kapitalismus. Jeder gegen jeden und Gott gegen alle.

Streiten heißt versöhnen. Aber nicht im dialektischen Sinn, wo ein Gott die Widersprüche per Wunder aus dem Wege räumt und Unvereinbares per Ukas zusammenzwingt. Streiten versöhnt nur, wenn Widersprüche als Missverständnisse aufgedeckt und auf ihre ursprüngliche Einheit zurückgeführt werden. Das Wahre und das Falsche aber können nie versöhnt werden – es sei, das Wahre besiegt das Falsche durch friedliches Argumentieren und durch vorbildliches Tun.

In der Atmosphäre des Humanen kann sich keine Unwahrheit halten. Demokratie und Postdemokratie, Menschenrechte und Tyrannei, Macht und Gleichheit, Freiheit und Faschismus, Brüderlichkeit und Kapitalismus, werden nie vereinbar sein. Solche Antagonismen sind nur behebbar, wenn die Feinde des Humanen im friedlichen Kampf die Waffen strecken.

Ob der Mensch mit der Natur unvereinbar ist, wie welthassende Erlöser behaupten, kann er nur durch Friedensschluss mit der Natur widerlegen. Solange wir religiös indoktrinierte Widersprüche zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Natur als unaufhebbare Widersprüche hinnehmen, bleiben wir in der Gewalt eines Gottes, dessen Machtprinzip „Teilen und Herrschen“ ist.

Nur streitbare Demokratien werden überlebensfähig sein, die die vermeidbaren Ursachen sozialer Zerwürfnisse aufdecken und verflüchtigen.

Wie steht es mit der Streitkunst in Deutschland? Es gibt keine. In Deutschland haben Predigt und Rhetorik den Sieg über den Dialog errungen.

Der Triumph des christlichen Dogmas beruht auf der niederschlagenden Gewalt der göttlichen Offenbarung und der sie nachäffenden Predigt. Als Paulus bekehrt wurde, stürzte er zu Boden und sah nichts mehr. Er hörte nur noch eine Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Drei Tage lang sah er nichts, konnte weder essen noch trinken.

Eine Offenbarung ist mit dem täglichen Leben unvereinbar. Der erleuchtete Mensch lebt in unversöhnlichem Gegensatz zur Welt, von der er sich innerlich lösen muss, um sie dem Verderben zu überlassen. Er ist im Besitz der vollen Wahrheit, mit der nicht gestritten werden kann. Jesu Predigt schlägt die Menschen nieder. „Nie hat ein Mensch so geredet wie dieser Mensch redet. Denn er lehrte sie wie einer, der Gewalt hat.“ Gewalt streitet und argumentiert nicht. Sie schlägt zu Boden. „Und die Jünger fielen zu Boden.“

Hiob gilt als großer Streiter vor dem Herrn. Am Ende seines „Dialogs“ mit dem Höchsten steht seine intellektuelle Bankrotterklärung: „Darum bekenne ich, daß ich habe unweise geredet, was mir zu hoch ist und ich nicht verstehe. „So höre nun, laß mich reden; ich will dich fragen, lehre mich!“ Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche.“

Mit Gott streiten heißt, sich ohne Widerrede belehren lassen. Als Sokrates angeklagt wurde, hielt er seine berühmte Verteidigungsrede (Apologie) und widerlegte seine Ankläger Punkt für Punkt. Als Jesus vor Pilatus von Hohepriestern und Ältesten angeklagt wird, „antwortete er nichts.“ Auch vor dem Hohen Rat erhält Jesus die Möglichkeit, seine Sache zu verteidigen. Doch wie reagiert er? „Jesus aber schwieg.“ Auch der leidende Gottesknecht des Jesaja verweigert seinen Anklägern die Ehre des gleichberechtigten Dialogs. Ein Gott hat Recht – indem er nicht nötig hat, vor Menschen Recht zu haben:

„Da er gestraft und gemartert ward, tat er seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer und seinen Mund nicht auftut.“

Wie ihr Herr und Heiland es nicht nötig hat, sich vor der Welt zu rechtfertigen, so Angela Merkel, die gehorsame Tochter des Himmels. Ihre Schweigespirale erklärt und begründet nichts, in stummer Erleuchtung ordnet sie an. Die Rechtfertigung ihrer Politik liefern ihre neuen Fans, die frisch bekehrten Schwärmer der altbewährten deutschen Kategorie: Alles – oder Nichts.

Die Macht der einseitigen Rede wurde im heidnischen Athen entwickelt und nannte sich Rhetorik, die Redekunst. Unter den Sophisten gab es kreative Köpfe, die eine wichtige Marktlücke entdeckten. In Gerichtsreden, in denen es um Schuld und Unschuld ging, konnte es nicht schaden, wenn man mit trefflichen oder scheinbaren Argumenten die Volksrichter von seiner Version der Wahrheit überzeugen – oder überreden konnte. Da Überzeugen mühsam war und langfristiges Studieren der Philosophie erforderte, „entsagte Gorgias der Philosophie und entschloss sich, die Kunst der Rede zu lernen.“

In der Schule der Eristik – der Streitkunst – lernte man, „die Wahrscheinlichkeit höher zu schätzen als die Wahrheit und durch die Kraft des Wortes das Kleine groß und das Große klein erscheinen zu lassen.“

Der Rhetorik ging es um Macht und Erfolg, nicht um Wahrheit. So wurde sie zur Erzfeindin der Philosophie.

Sokrates und Platon waren die Hauptgegner der alles beweisenden und alles widerlegenden Überredungskunst. Rhetoriker wurden zu geschliffenen Rednern, die es verstanden, sich in ihr Publikum hineinzufühlen, um dessen Zweifel und Widersprüche prophylaktisch zu widerlegen und für die Interessen des Redners einzunehmen. Sie simulierten einen Dialog, der in Wirklichkeit nicht stattfand. An die Stelle des gleichberechtigten Zwiegesprächs setzten sie den Monolog, der das Publikum auf seine Seite ziehen wollte. Mit Wortspielen, Zweideutigkeiten, logisch scheinenden Fehlschlüssen und sonstigen Tricks.

Deutschland, kein Freund des Dialogs, ist ein Land der gewaltigen Redner. Hitler sandte am Anfang seiner Reden verschiedene Reize aus und erkannte intuitiv die psychische Grundstimmung seines Publikums, das er nach allen Regeln der Kunst einseifen konnte. Auf deutschen Parteitagen entscheiden große Reden über die Qualifikation der Kandidaten. Der Schlussbeifall wird mit der Uhr gemessen und gilt als untrüglicher Beweis für den Auserwählten.

(Nur Merkel ist keine große Rednerin. Doch für sie gilt die Ausnahme der redlichen Mutter, die im Stillen größere Werke vollbringt als schwatzhafte männliche Konkurrenten.)

Die griechische Redekunst wurde zur abendländischen Predigt, in der ein Gottvertrauter mit der Macht des Wortes seine Schäfchen zu Buße und Bekehrung zwingt. Der Monolog, die einseitige Predigt, wurden Vorbilder der professoralen Vorlesung und endloser Vorträge landauf und landab. In Deutschland werden keine Gespräche geführt. Und wenn doch, sind es verkappte Monologe.

Die Kanzlerin, eine spirituelle Variante der Firma Honecker, weiß nicht mal, was ein Dialog ist. Sie „beantwortet Fragen“, fertigt mit Trivialitäten ab, faulen Scherzen oder mütterlich klingender Trostrede. Und die Presse – keine Lügenpresse, sondern Merkels Prätorianergarde – bejubelt ihre Abfertigungstechnik.

In einem Forum, das die Agora ersetzen soll, dürfen BürgerInnen Fragen stellen. Ob die Fragenden mit Merkels Antwort zufrieden sind, ob sie Gegenargumente haben – alles ohne Belang. Merkel hat stets das letzte Wort. Das nennt man hierzulande Bürgerforum. Nicht nur VW und Fußballfunktionäre lügen, dass sich die Balken biegen.

Ein Mann in Nürnberg, der Merkels Politik für richtig hält, wird von Merkel mit „Mutterwitz“ abgefertigt:

„Dann sind wir ja schon drei.“ Es gibt viel Beifall für diesen knappen Satz, den man einfach nur als launigen Auftakt einer Fragerunde werten könnte. Aber in Wirklichkeit ist er mehr, eine hintersinnige Botschaft an die Freunde aus der CSU: Ihr könnt mich kritisieren, aber ich lasse mich nicht darauf ein. Merkel also lobt, sie witzelt. Nur: Sie feuert nicht zurück, jedenfalls nicht öffentlich.“ (SPIEGEL.de)

Im Bundestag verschmäht Merkel das direkte Rededuell. Die Reden ihrer Kritiker langweilen sie. Lass die Wadlbeißer kläffen, Angela geht unberührt ihren göttlichen Weg. Sie hält die rechte Wange hin, um als sanfte Magd Gottes ihre Gegner um so wirksamer auf die Matte zu legen.

„Düstere Szenarien also, und dann kommt die Kanzlerin nach Nürnberg und sagt diesen saloppen und spöttischen Dann-sind-wir-ja-schon-drei-Satz. Das sitzt. Auch deshalb, weil Merkel damit ein weiteres Mal klar macht, dass sie bei ihrer Linie bleibt.“

Der Berichterstatter bejubelt die rhetorischen Finessen wie ein Feinschmecker das hors d’oeuvre. Die Fragen der Menschen? Belanglos. Die Meinung des Publikums über das unwürdige Abmeierungs-Spektakel? Uninteressant. Man spürt die Erleichterung des Sohnes, der sich Sorgen gemacht hatte, ob Mutterns Schlagfertigkeit in der bösen Welt ausreichen würde. Und siehe, Mutter ist pfiffiger, als ihre schreibenden Bodyguards erwarten konnten.

Die Dompteurkünste einer dialogunfähigen Kanzlerin sind das Einzige, was die Presse interessiert. Kritik des Volkes? Volk, was war das nochmal? Volk ist nichts als passive Demonstrationsmasse für rhetorische Manipulationskünste der Kanzlerin. Medien und Regierung halten zusammen wie Pech und Schwefel.

(Gestern durfte im ZDF der EU-Kommissar Öttinger das neue Internet-Gesetz vorstellen: alles demokratisch und paletti. Danach erklärten Kritiker, das Gesetz bevorzuge die Reichen, da sie ihre Netzbotschaften schneller durch die Leitungen senden könnten. Mit dieser Kritik wurde Öttinger nicht konfrontiert.)

Medien üben nur Alibi-Kritik. In ihrem Es sind sie mit der Regierung längst synthetisiert. Wär‘s anders, hätten wir seit 100 Jahren eine vollständig andere Politik. Ab der nach oben schielenden Mittelschicht beherrscht Hegel das Denken der Eliten: Was wirklich ist, ist vernünftig, Alternativen zu unserer Politik gibt es nicht.

Ein vernichtender TAZ-Artikel über den scharfen Islam-Kritiker Hamed Abdel-Samad enthüllt die völlige Abwesenheit eines seriösen Streitens. Keine These Abdel-Samads wird auf Richtigkeit überprüft, über Erlösungsreligionen scheint die Autorin nichts zu wissen. Wie des öfteren in der TAZ wird Islamkritik abgelehnt, weil man die Folgekritik am geliebten Christentum fürchtet. Wer Mohammed unter die Lupe nimmt, könnte auch das liebe Jesulein zur Brust nehmen.

Der mutige Abdel-Samad, der mit gepanzerter Weste auftritt, weil er Racheakte fanatischer Muslime fürchten muss, wird als Narziss verhöhnt, er kann tun und machen, was er will. Spricht er mit der AfD, spricht er mit den Falschen. Dass man selbst mit Despoten reden muss, damit die Waffen in ihren Kammern bleiben, scheint der Autorin unbekannt. Sie stellt Abdel-Samad als islamophob hin, obgleich er zwischen buchstäblichem Koran und der Majorität friedlicher Muslime präzis unterscheidet. In einer Demokratie muss man mit allen Menschen reden, die mit sich reden lassen. Alles andere ist dasselbe rechte Bashing, wie man es den Rechten vorwirft.

„Der Auftritt, den er an diesem Abend in den „Tegeler Seeterrassen“ hinlegt, dürfte aber niemanden mehr bezweifeln lassen, dass er sich nicht länger wissenschaftlicher Betrachtung, sondern emsigem Islam-Bashing verschrieben hat. Ein Märtyrer des Grundgesetzes quasi, so stellt Abdel-Samad sich an diesem Abend dar – und wird dafür gefeiert. Ein Narziss zu Gast bei Freunden.“ (TAZ.de)

(Zum Vergleich mit der bodenlosen TAZ-Kritik hier die Gegenargumente Abdel-Samads im hpd.)

Sind Salman Rushdi, Edward Snowden, Swetlana Alexijewitsch allesamt Narzisse, weil sie sich dem Unrecht in der Welt widersetzen? Waren Galilei, Giordano Bruno eitle Selbstdarsteller, weil sie für Wahrheit eintraten? Mag der TAZ-Artikel auch monströs sein, ist er dennoch repräsentativ für die deutsche Unfähigkeit zu streiten. Dialogisches Auseinandersetzen, faires Kämpfen für das Humane, leidenschaftliches Ringen um die Wahrheit: all dies wird in Deutschland seit Jahrhunderten unter Myriaden von Predigten, Vorlesungen und autoritären Monologen erdrosselt und erstickt.

Bei Sokrates könnte man lernen, wozu dialogische Kompetenz als Hebammenkunst fähig ist. Seine Mäeutik war für den satyrähnlichen Mann „die Therapie für die Seele, damit diese so gut wie möglich werde.“ Der Mensch habe die Kraft, sein Schicksal selbst zu leiten und zu gestalten. Auf Offenbarungen der Götter sei er nicht angewiesen. Debattierend war Sokrates in der Lage, „mit Liebe die Menschen besser zu machen.“

Die menschen-verwandelnde Wirkung seines Tuns auf dem Marktplatz vergleicht der messerscharfe Streiter mit dem schmerzenden Biss des Otters oder dem elektrischen Schlag eines Rochens.

Sokratische Otter und Rochen braucht das Land.