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Sonntag, 21. Oktober 2012 – Täteranalyse

Hello, Freunde des Glücks,

Glückskompetenz erhöht das Fortkommen. „Mein Leben ist eigentlich ganz ok, ich möchte aber wissen, wie es noch besser werden kann.“ Gezielt trainierte er Dankbarkeit, Optimismus und Humor. Je glücklicher er wurde, je mehr intensivierte er das Training, ja, er wurde richtig glückssüchtig. Versäumte er die geringste Möglichkeit, sein Glück zu optimieren, konnte er richtig grantig, ja, geradezu ausfällig werden. Als er schließlich das berauschende Gefühl hatte, dem Zenit seines Glücks nahe gekommen zu sein und alle Konkurrenten ausgestochen zu haben, war er so erschöpft vom Zwang zum Glück, dass er – in unrettbare Depression fiel. (FR: Glück kann man trainieren)

Altruistischer als der egoistische Zwang zum eigenen Glück ist der Faschismus. Er erträgt es nicht, allein glücklich zu sein und will die ganze Welt beglücken. Wenn‘s sein muss, mit einer Prise Gewalt. Na und? Für einen guten Zweck ist alles erlaubt, sprach Ignatius in grenzenloser Güte.

Panazee ist ein Allheilmittel, ein zauberhaftes Fremdwort für Patentrezept. Man nehme eine Prise Opium, drei Teile spanischen Wein, sechs Teile Angelikawurzel, vier Teile Virginenhohlwurzel, zwei Teile Baldrianwurzel, zwei Teile Meerzwiebel, zwei Teile Zitwerwurzel oder Witwerzurzel, neun Teile Zimt und Zinnober, einen Teil rot-grünen Kardamom ohne Gelb-Pigmentierung, einen Teil weihrauchlose Myrrhe, einen Teil Eisenvitriol und 72 Teile wilden Honig aus dem inneren Afrika.

Arno Widmann ist gegen Patentrezepte. „In Wahrheit wissen wir seit langem, dass es keine Patentrezepte gibt.“ Patentrezepte wofür, wogegen? Gegen Gewalttätigkeit, „die in uns steckt“. Doch Arno täuscht sich, er hat bereits

ein Patentrezept gegen Gewalt: „Ich war einmal in einem von Fußball-Hooligans besetzten Zug zwischen Heidelberg und Frankfurt. Das sind Momente, da sehne ich mich nach der Staatsmacht.“ Staatsmacht heißt Arnos Patentrezept gegen Gewalt. (Arno Widmann in der BZ: Gewalt ist eine Droge)

In New York gab es einmal einen tüchtigen Bürgermeister namens Ralph Giuliani, der sehnte sich auch nach der Staatsmacht und entwickelte eine Null-Toleranz-Strategie. Nicht nur gegen kriminelle Taten, sondern gegen alles, was nach Verwahrlosung aussah. In Gebieten mit städtebaulichem Verfall wurde die kleinste Übertretung geahndet. Malaysia und Singapur ahmten das Programm mit durchschlagendem Erfolg nach.

Einmal einen Kaugummi auf den Boden gespuckt und du wanderst zu schweren Jungs ein, bei denen du mehr lernst als nur ein bisschen spucken. In New York war die Strategie so erfolgreich, dass die Kriminalitätsrate in Manhattan rapide fiel, während sie vor den Toren von New York, in Newark, dramatisch anstieg.

Doch nicht nur vor den Toren, sondern auch mitten in Manhattan, in der Wallstreet – da, wo es reinlich zuging – stieg die Zahl finanzieller Delikte ins Unermessliche. Allerdings waren dies saubere Verbrechen ohne Spucken und Scheibeneinwerfen. Die Häuser, die von den Wallstreetverbrechern beschädigt wurden, waren noch völlig intakt. Nur die Bewohner waren fehl am Platz, weil sie aus Bosheit ihre monatlichen Ratenzahlungen nicht tätigen wollten.

Die Polizeigewalt hatte bei den Wallstreetzockern so viel Toleranz eingesetzt, dass nichts mehr übrig blieb für die Hausbesitzer, welche die Unverschämtheit besaßen, riesige Kredite aufzunehmen, wohl wissend, dass sie dieselben nie in ihrem Leben würden zurückzahlen können.

Toleranz ist ein wertvolles, aber knappes Gut. Wenn man mit dem Angebot oben anfängt, bleibt für die Nachfrage unten nichts mehr übrig.

Das Prinzip Toleranz ist heute ein Auslaufmodell. Nur dulden? Das ist Ex-Bischof Huber und seinen geistlichen Kollegen zu wenig. Unter Liebe zu ihren Nächsten machen sie’s nicht. Da der säkulare Staat bei göttlich subventionierter Liebe überfordert ist, brauchen wir den bekenntnisorientierten Agape-Unterricht in den Schulen. Besser wäre es allerdings, alle Schulen unter pastorales Mandat zu stellen. Dann erhielten wir staatlich geprüfte Nächstenlieber mit klerikalem Gütesiegel.

Selbst Goethe war Dulden zu wenig. „Toleranz sollte eigentliche nur eine vorübergehende Gesinnung sein. Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“

Lessings Toleranz war ein bisschen mehr als Dulden:

„Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochenen

Von Vorurteil freien Liebe nach!

Es strebe von euch um die Wette,

Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag

Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut

Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,

Mit innigster Ergebenheit in Gott

Zu Hilf!“

Vorurteilsfreie Liebe, Sanftmut, Verträglichkeit, Wohltun, ja sogar Ergebenheit in Gott. Herz, was begehrst du mehr? Wenn dies Dulden war, konnte es durch Goethe kaum übertroffen werden.

Doch was ist mit den Gottlosen? Locke, der große Toleranzler, wollte alles dulden, was in Gott war, Katholiken und Atheisten aber gehörten nicht in sein Duldungsprogramm. Dafür war er umso toleranter gegenüber weißen Sklavenhaltern. Schwarze Arbeitskräfte ohne den geringsten tariflichen Lohn waren geeignet, ihren Herren zum standesgemäßen Reichtum zu verhelfen. Solange sie im Stande blieben, in den sie Gott berufen, waren sie gerade noch zu dulden. Schließlich hatte man für sie teueres Geld bezahlt, das sich amortisieren musste.

Weiter als Locke haben wir‘s heute noch nicht gebracht. Nirgendwo kann man lesen, dass wir Locke „überwinden müssten“. Also bleiben wir einfach auf seinem Duldungsniveau stehen. Amerika hat‘s immerhin zu einem katholischen Präsidenten gebracht, sogar zu einem halbschwarzen und demnächst vielleicht zu einem Mormonen. Zu einer Frau wird’s noch 100 Jahre brauchen. Zu einem Gottlosen mindestens bis zur Ankunft des Herrn, danach wird’s eh keine mehr geben.

Auch in Lessings Ringparabel geht’s nur um den Wettbewerb innerhalb der drei Monotheismen. Die wahre Religion zeige sich daran, dass der Gläubige sich bei allen andern Menschen beliebt mache. Da muss der Herr und Heiland einiges falsch gemacht haben, denn seine Beliebtheit war bei seinen rechtgläubigen Landsleuten eher gering.

Wenn einer der Ringe der echte sei, werde man dies in Zukunft merken. Erst in der Zukunft?

„Und wenn sich dann der Steine Kräfte

Bei euren Kindes-Kindeskindern äußern:

So lad ich über tausend-tausend Jahre

Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird

Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen

Als ich.“

Das klingt verdächtig nach Chiliasmus, dem Tausendjährigen Reich und dem Endgericht unter Vorsitz des Chefs persönlich. Dann nämlich werden die Bücher aufgetan. Bis dahin aber soll das Unkraut im Weizen nicht erkennbar sein? Man muss es ja nicht gleich rausreißen, aber wie wär‘s mit erkennen, ermahnen, bilden und erziehen?

Davon hält Altlinker Widmann nichts. Schon bei den 68ern war die pädagogische Bewegung eine skurrile Nebenlinie, von der die Systemstürzer nichts hielten. Wer sein Kind erzog und nicht zum Revolutionär drillte, der stabilisierte vorsätzlich das System. Moral war kontrarevolutionär. Das scheint noch heute für Arno zu gelten, mit moralischen Appellen kann man sich nur lächerlich machen.

Dass Tolerieren anderer Menschen die herrschende Xenophobie und Kinderfeindlichkeit ändern könnte, ist für ganzheitliche Systemdenker eine idealistische Illusion und Vermessenheit. Weniger wäre manchmal mehr. Verächtliches Dulden ist für demokratische Verhältnisse zu wenig, aber die ganze Welt zu lieben, ist zu viel verlangt. Lieber verlässlich auf gleichwertigem Boden dulden, als alles perfekt edel und gut machen zu wollen und wenn’s nicht gelingt, ins Gegenteil verfallen und verachten.

Gefallene Linke waren diejenigen, die am meisten schrieen, es gebe keine Unterschiede zwischen links und rechts. Da hatten sie ihre linke Position schon aufgegeben, die allerdings nie etwas mit kategorischer Spießermoral zu tun haben wollte. Dass Böses nur auf dem Boden der Unmoral gedeiht, davon wollen Arno und seine Feuilletonkollegen nichts hören.

Das Böse ist in uns, da hilft nur Polizei – und in tausend-tausend Jahren das Endgericht unter Vorsitz von Ralph Giuliani. Wenn das die Wirkung der Tugend sein soll, dass man sie erst am Sankt Nimmerleinstag entdecken und würdigen kann, dann Gut Nacht! Es geht um einen Wettbewerb – aber ohne erkennbare Effekte? Wenn Olympische Spiele so funktionierten, würde Usain Bolt seine Goldmedaille in tausend-tausend Jahren kriegen, weil man so lange bräuchte, um festzustellen, wer gewonnen hat.

Wann begann die Idee der Toleranz? Die meisten Artikelschreiber sind für die Zeit der Aufklärung. Bei Wikipedia wird der Augsburger Religionsfrieden (1555) genannt.

(Nur nebenbei: bei vielen Wikipedia-Artikeln hat offensichtlich der Heilige Geist mitgewirkt, um die Geschichte der Religion von allen Sünden zu reinigen und die Frohe Botschaft zum Mutterboden von allem, was uns heute teuer ist, zu erklären.)

Die Confessio Augustana war das Ergebnis eines Waffenstillstands zwischen Kaiserlichen und lutherischen Fürsten. Die Einigungsformel hieß bekanntlich: wessen das Land, dessen die Religion (cujus regio, ejus religio). Der Landesfürst konnte seine Religion wählen, seine Untertanen mussten die Religion ihrer Obrigkeit übernehmen und dulden, was natürlich kein Dulden, sondern ein Gehorchen war.

Im Sinne der Duldungsstarre war Augsburg tatsächlich ein Toleranzereignis. Wer die Religion seines Landesherrn nicht dulden wollte, der durfte immerhin auswandern und wurde nicht gleich gepfählt, geköpft oder verfeuert. Das kann man – im Vergleich zur katholischen Inquisition oder zu Calvins Feuerproben für Andersdenkende – einen veritablen Fortschritt nennen: aber Toleranz?

Toleranz ist solch gottlosen Gesellen wie Voltaire und Diderot zu verdanken, die heute nur noch als Antisemiten präsentiert werden. Deren Animositäten gegenüber allen Religionen hatten aber den Effekt, dass alle Menschen das Recht erhielten, gleichberechtigt ihre Religion auszuüben. Das nebenbei, um die Koordinaten zurechtzurücken.

Ob Hohn und Spott Hassgefühle sind, kann man mit Fug bezweifeln. Unsere Satiriker gelten auch nicht als Staatsfeinde, sondern als kathartische Kräfte der Enttabuisierung im Kampf gegen mächtige Autoritäten. Wenn‘s anders wäre, wären die stetig wachsenden Kohorten der Spassmacher schon längst verboten.

Wenn Harald Schmidt großspurig verkündet, jedermann hätte es verdient, verarscht zu werden, warum lässt er die Religionen außen vor? Weil gute Komödianten allesamt fromme Ministranten waren und den Papst klammheimlich noch heute als ihr großes Komikervorbild betrachten?

Dass die Juden unter Napoleon zum ersten Mal in der abendländischen Geschichte ihren Glauben ungehindert und gleichberechtigt betätigen konnten, haben sie nur, ausschließlich und allein den Aufklärern zu verdanken. Wie kann Voltaire ein ausgekochter Judenhasser sein, wenn er zur Emanzipation der jüdischen Gemeinden beitrug?

Der Begriff des Antisemitismus schwankt besinnungslos zwischen allen Parteien, die ihn für durchsichtige politische Alltagszwecke benutzen. Vom wahren Herd des Judenhasses im Zentrum der Heiligen Schriften kann damit elegant abgelenkt werden.

Betrachten wir Widmanns Thesen näher, können wir wie in Zeitraffung die einstmals teuren Glaubensgüter der Linken erkennen, die sie nach dem neoliberalen Shitstorm der letzten zwei Dekaden unauffällig entsorgt haben, um unauffällig ins Lager der misanthropen Konservativen und Christen zu wechseln.

Sie sind nicht in der Lage, sich öffentlich von ihren früheren Positionen loszusagen, sondern hassen nur die Vergangenheit und alle, die den Thesen ihrer Vergangenheit noch immer anhangen.

a) Berlin habe 3,5 Millionen Einwohner. Dass sich in solch inhomogenen Massen Gewalt fast zwangsläufig entwickle, könne nur diejenigen wundern, die noch an den friedensstiftenden Effekt der Gleichheit unter den Menschen glaubten. „So können wir an einer Utopie der Gleichheit festhalten, der zu misstrauen … wir allen Grund hätten.“

Homogenität ist nicht Gleichheit. Politische Gleichheit ist Gleichwertigkeit und keine biologische Verklonung. Das deutsche Volk im Dritten Reich war rassisch homogen, politisch ein Reich, ein Volk, ein Führer, aber bestimmt nicht gleich-wertig. Die NS-Herrschaft war eine cäsaro-klerikale Hierarchie.

b) An der Analyse der Gewalttaten seien vor allem die Täter interessiert. Vermutlich, um die kausale Erklärung als Entschuldigung zu verwenden. „Die Geschwindigkeit, mit der wir nach Unterschieden suchen, ist verständlich.“

In einer Gesellschaft, die nur noch Unterschiede produziert, muss man nicht nach Unterschieden suchen. Sie bestimmen von morgens bis abends unseren Alltag. Arno verprügelte einen Mitschüler nur deswegen, weil er dick war. Sonst nichts. Ist Dicksein eine Kleinigkeit? Dick waren Kohl und Strauss, beide die hässlichen Agenten eines Ausbeutersystems. Heute gilt Dicksein als Phänomen der verwahrlosten Unterschicht.

c) „Die Gewalttätigkeit steckt in uns“.

Das ist nichts anderes als das christliche Schuldbekenntnis: Herr, erlöse uns vom angeborenen, radikalen Bösen. Einst war es der Stolz linker Gesellschaftstheorie, sich von religiös zugesprochenen Diskriminierungen zu befreien und das Böse aus seinen gesellschaftlichen Bedingungen zu erklären und zu verstehen. Widmanns Thesen sind eine Bankrotterklärung linker Theorie und die reumütige Heimkehr zur Anbetung des neunschwänzigen Gottseibeiuns.

d) „Ein wesentlicher Zweck der Gesellschaft ist die Hegung der Gewalt“.

Einst war mündige Gesellschaft ein Fanal der Hoffnung. In freier Gesellschaft wachsen freie Individuen heran. Heute ist Gesellschaft zur augustinischen Räuberhorde, zur Rotte Korah verkommen, aus deren Mitte miasmische Gifte strömen. Was kann aus einem gottlos-verflochtenen Rattenkönig noch Menschliches kommen?

e) „Es geht um Aufmerksamkeit“.

Sind Edelschreiber eigentlich noch imstande, klar und deutlich zu schreiben, was sie meinen? Will Widmann sagen, die Täter tun ihre Schreckenstaten nur um der Aufmerksamkeit willen? Das wird auf jeden Fall ein wichtiges Motiv sein. Doch warum?

Kann es sein, dass sie das Mindestmaß an Aufmerksamkeit, das zu einem halbwegs gelungenen Menschsein gehört, nicht erhalten haben? Sie sind das primäre Opfer mangelnder Toleranz ihrer deutschen Umgebung. Kennt Widmann nicht das Gesetz der verschärften Neurose, die ins Kriminelle umkippt: ich hole mir gewaltsam, was ich selber nicht gekriegt habe? Vor Monaten noch schrieben die Altlinken Lobesartikel über den verstorbenen H.E. Richter. Seine Bücher können sie nicht gelesen haben.

f) „In Wahrheit wissen wir seit langem, dass es keine Patentrezepte gibt“.

Das ist das Wir der Buschkowsky-Guten oder der Mahatma Gandhi-Deutschen in Front gegen eingewanderte Raubwölfe. Die Kluft in der Gesellschaft beginnt im Kopf, der sich nur in abfälliger Abgrenzung gegen andere positiv definieren kann.

g) Kein einziges Wörtchen Kritik an der missratenen Integrationsarbeit in Berlin und anderswo.

Exlinke und alle, die schon immer wussten, dass es keine moralischen Lernakte gibt, weder beim Individuum noch in der Gesellschaft, können sich in verbittertem Triumph auf die Schenkel schlagen. Der intolerante Hass auf die andersartige Menschheit darf sich bestätigt fühlen, wenn Opfer der Gesellschaft Unschuldige zu Opfern machen, um sich selbst von ihrem Opferstatus zu entlasten.

Das ist den einen zu einfach, den andern zu komplex. Dieselben Menschen, die täglich die Welt neu erfinden und alles auf den Kopf stellen, sind nicht in der Lage, sich selbst zu verändern. Deutschland verharrt in verächtlicher Duldungsstarre gegen Menschen, die sich nicht akzeptiert fühlen und sich mit Gewalt rächen müssen.

Heute muss man vor allem die Notrufnummer der Polizei kennen, damit sie uns das Gesindel vom Leib hält. Das Böse, woran wir glauben, dominiert zusehends unser Leben. Und die Polizei, die schnelle, war sogleich zur Stelle, in Begleitung einfühlsamer Opferseelsorger.