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Sonntag, 17. Februar 2013 – Die große Wende

Hello, Freunde der globalen Wende,

jaja, große Worte. Keine Angst vor großen Worten. Es gibt eine skandalöse Hybris der Selbstverkleinerung. Wenn wir zu kleinkariert denken, erfassen wir nicht, dass die Epoche religiöser, technischer und wirtschaftlicher Messianismen sich ihrem Ende nähert. Sie eilt ihrem Höhepunkt entgegen, ihrem Untergang.

Der Mensch ist reifer als seine katastrophale Religion. Schon streckt er den Kopf aus dem Gehäuse, schaut verwundert an sich herab und fragt sich: was ist das, in dem ich stecke und mich verstecke, das mich hemmt, das mich am Strecken und Dehnen hindert?

Zerbrecht die Panzer eurer Unvernunft, die Verknorpelungen eurer Naturfeindschaft, die Rückenpanzer eurer mangelnden Wahrnehmung, die Brustschilde eurer verkrümmten Herzen, die Genitalschilde eurer lächerlichen Lust, die Rippenschilde eures todessüchtigen Ichs, die Wirbelschilde eurer unfassbaren Gier, die Bauchschilde eurer jenseitigen Erdenflucht.

Wie werden die Nachkommenden einst unsere Epoche nennen? Die Ära der verkrümmten Gottseinwollenden? Der beinamputierten Giganten? Der lächerlichen Unendlichkeitsheroen? Der Unvergleichlichen, die sich ähnlicher waren als ein Ei dem andern? Der Titanen, die keine Macht über sich hatten?

Es folgen verschiedene Beispiele globaler Trostlosigkeiten. Man vergleiche

die Aussagen des israelischen Schriftstellers Etgar Keret mit Standardaussagen hiesiger Antisemitismus-Wächter und Sprachlosigkeiten einheimischer Philosemiten. Die einen geifern trostlos, weil die andern trostlos verstummt sind.

(BLZ-Interview von Inge Günther mit Etgar Keret)

Hätte Augstein geschrieben, die Besatzungspolitik fresse die Seele Israels, man hätte ihm die Augen ausgekratzt? Keret schreibt, dass man in seinem Land ein kurzes Gedächtnis entwickeln muss, damit man nicht durchdreht. „Den einen Tag erlebt man eine harte Realität, die an Krieg erinnert. Und der nächste Tag kommt so pastoral daher, dass keiner an Böses denkt. Das gilt auch für den politischen Prozess. Es war schon immer so. Die Leute kamen her und haben ihre Vergangenheit unterdrückt, um bei Verstand zu bleiben.“ Man muss die Vergangenheit unterdrücken, um lebensfähig zu sein.

„Der Staat besitzt ein hoch entwickeltes Rechtssystem, aber es gilt nur für jene, die israelische Staatsbürger sind.“ Ein hoch entwickeltes Rechtssystem, das nur für einen Teil der Gesellschaft gilt – ist ein hoch entwickeltes Unrechtssystem. Eine Demokratie für Auserwählte gibt es nicht.

„Stellt euch ein Land vor, das derart konservativ ist, dass es nicht mal einen öffentlichen Verkehr am Sabbat erlaubt.“ In einem säkularen Staat beherrschen Religiöse die öffentliche Atmosphäre, an heiligen Tagen gibt’s keinen Straßenverkehr. Die Ultras haben sich zur öffentlichen Stasi entwickelt, nicht anders als die Religionspolizisten im Iran und in Saudi-Arabien. So war es im Genf Calvins, wo Sittenwächter jederzeit in die Häuser eindringen konnten, um zu sehen, ob die Gläubigen die Gebote des Herrn befolgen.

Es gibt keine Identifikation mit der Regierung: „Ja, weil ich mich politisch mit den Linken identifiziere und nicht mit dem, was die Regierung treibt, zumindest nicht im letzten Jahrzehnt bis heute.“ Das ist eine ganz andere Distanz zur Regierung der Friedensverweigerer als hierzulande eine Kritik an Merkel.

Hat Netanjahus Schlappe in den letzten Wahlen nicht gezeigt, dass Israel eine andere Politik will? Auch Uri Avnery war erleichtert über den Wahlausgang, der zeigen würde, dass die Frommen nicht völlig das Land beherrschten. Antwort von Keret:

„Nur Zipi Livnis Partei und die Meretz-Linken hatten sich die Forderung nach Friedensverhandlungen auf die Fahne geschrieben. Sie haben zusammen zwölf von 120 Knesset-Sitzen bekommen. Gerade mal zehn Prozent der Bevölkerung glauben also, dass es wichtig ist, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu lösen. Der Rest ist dagegen, oder es ist ihm egal. Ihn kümmert, ob Lapid etwas für die Mittelschicht herausholt. Ob Wohnungen billiger werden, oder ob die Orthodoxen mehr Geld kriegen.“

Die israelische Gesellschaft wollte vor dem Ausland den Schein wahren, doch ein Umschwung der Politik in Grundfragen ist nicht in Sicht. „Die Leute glauben nicht mehr an eine Lösung. Mein Eindruck ist: Je mehr man ihnen Gründe für Verhandlungen liefert, umso weniger hören sie hin. Früher zog noch das moralische Argument, die Besatzung zu beenden. Heute erwidern die Leute: „Warum? Wir sind doch stärker als die anderen.“

Die Zeiten der Moral sind vorbei. Es herrscht durchweg das „Naturrecht der Starken“. Wir sind doch stärker als die anderen. Klingt ein bisschen anders als die hier zu hörenden Argumente der Antisemitismus-Wächter, das Land sei das bedrohteste und gefährdetste Land der Welt. Die Gesellschaft hat sich militarisiert, von einem Verständigungswillen mit den Palästinensern ist nichts zu bemerken.

Keret will nicht zu den Pessimisten gehören, die keine Chancen mehr für Frieden sehen. Allerdings nur aus pädagogischer Verpflichtung seinem Kind gegenüber: „Ich fühle mich schon deshalb verpflichtet zu denken, dass die Lage sich verbessern kann, weil es sonst schwierig wäre, ein Kind in diesem Land aufzuziehen.“

Was aber sind die Wurzeln des Konflikts? Keret bleibt im Vagen und Gefühlsmäßigen. Die unheilvolle Rolle der Religion erwähnt er nicht.

„Wenn wir die Situation belassen, wie sie ist, ohne den Menschen, die unter unserer Besatzung leben, eine Lösung anzubieten, wird das letztlich unser Land zugrunde richten. Wir riskieren damit nicht nur eine dritte Intifada, sondern auch den Verlust moralischer Standards. Man kann nicht vom eigenen Sohn erwarten, am Checkpoint im Westjordanland Wache zu schieben und palästinensische Häuser zu durchsuchen, und anschließend zu Hause wieder ein ganz normaler Mensch zu sein. Die Besatzung frisst unsere Seele. Alles Mögliche wird heutzutage erforscht: wie man den Krebs besiegt und den Weltraum immer weiter erkundet. Da ist es doch das Mindeste, dass wir ernsthaft versuchen, Frieden zu schließen.“

Die Besatzung frisst unsere Seele, es droht der Verlust moralischer Standards (es droht nur?), wenn sich nichts ändert, wird die herrschende Politik das Land zugrunde richten. Völlig ausgeschlossen, dass diese Sätze einem einheimischen Antisemitismus-Wächter vorgehalten werden. Verglichen mit diesen Sätzen sind die Thesen Augsteins Peanuts.

Hier zeigt sich die Funktion des deutschen Antisemitismus-Bashing. Die Gefährdungen Israels werden von hiesigen Antisemitismus-Wächtern komplett verleugnet. Vollständiger kann das Totschweigen eines Problems nicht sein.

 

Frauen werden vergewaltigt und getötet. Massenhaft. Einmal im Jahr gibt es einen Tag der Erinnerung, dann ist das Thema gestorben. Warum gibt es im Islam Gewalt gegen Frauen? Antwortet die deutsche Juristin türkischer Herkunft Seyran Ateș in der ZEIT:

„Die Geschlechterapartheid ist ein wesentlicher Bestandteil des Weltbildes der Muslimbrüder. Sie glauben, Frauen sind nicht gleichberechtigt, also müssen sie kleingehalten und erniedrigt werden.“

Woher der Hass auf die Frauen? „Wenn Männer nicht akzeptieren, dass Frauen gleichberechtigt sind, dann müssen sie alle Frauen bekämpfen, die gegen ihre unterwürfige Rolle aufbegehren. El-Tahawy sagt, solche gewalttätigen Männer haben nicht einfach Angst vor Machtverlust, sondern vor dem Verlust einer gottgegebenen Sonderstellung. Für strenggläubige Muslime ist die Revolution der Frauen Blasphemie.“

Hat das nichts mit Religion zu tun? Ateș ist gläubige Muslimin, sie will die Religion gegen die Männer retten. Die Männer würden die Religion in ihrem hasserfüllten Sinn vergewaltigen. Dasselbe Problem wie im Christentum. Ist die Religion menschenfeindlich? Oder diejenigen, die sie menschenfeindlich interpretieren und mit Absicht missdeuten?

In muslimischer Hierarchie haben Männer die Deutungshoheit und können mit dem Text nach Belieben verfahren. Ihr Interpretationsmonopol richten sie gegen die feministischen Musliminnen: „In den Moscheen wird das frauenverachtende Denken legitimiert durch die höchste Autorität. Allah wolle die patriarchale Ordnung. Das schlägt uns feministischen Musliminnen dauernd entgegen. Und wenn wir sagen, dass wir auch gottgewollt sind, geraten die Fanatiker in Rage.

Eine Frauenrechtlerin schrieb: Hätte Gott das Kopftuch gewollt, wäre ich damit zur Welt gekommen.“ Die Frauenrechtlerin argumentiert auf dem Boden der Vernunft und will nicht sehen, dass Religion keine Sache der Vernunft ist.

Warum ist Ateș als Frau noch immer gläubig, obwohl Frauen die Opfer der Religion sind? Jetzt kommt die Crux; die Antwort, die Männer hören wollen, damit sie mit Religion die Frauen weiterhin knechten können. „Weil das Problem nicht der Islam ist, sondern die Unfähigkeit vieler muslimischer Männer, einen zeitgemäßen Glauben zu leben. Zu den Vergewaltigern in Kairo zählen bestimmt auch solche, die nie einen Schritt in die Moschee tun.“

Jetzt wird’s falsch. Ein Glaube hängt nicht davon ab, wie korrekt er praktiziert wird. Auch die meisten hiesigen Kirchenflüchter bezeichnen sich noch immer als Christen. Der angemahnte zeitgemäße Glaube wäre ein vernünftiger Glaube. Kann man Vernunft in den Glauben bringen, ohne ihn in seinem Urbestand zu zerstören?

Die muslimischen Feministinnen müssten den offiziellen Männer-Islam verlassen und einen durch Vernunft ausgebeinten Islam gründen. Anders wird es nicht gehen. Die gewalttätigen Männer hüten eisern das frauen- und menschenfeindliche Original. Wer das Original verändern will, müsste es auf sich beruhen lassen, einen neuen und andern Koran schreiben und dürfte vor organisatorischen Konsequenzen nicht zurückschrecken.

Ein frauenfreundlicher Koran ist wie eine vernunftfreundliche Bibel. Ein zeitgemäß humaner Glaube ist mit dem Original-Text nicht zu vereinbaren. Das ist die Schwäche der human gesonnenen Feministinnen, dass sie es nicht schaffen, Islam Islam sein zu lassen, Koran Koran, Männerreligion Männerreligion. Geht ihr zur Rechten, gehen wir zur Linken. Feuer und Wasser lassen sich nicht synthetisieren.

Das kann man an der Geschichte des Abendlands in allen Variationen sehen. Die fortschrittlich gesonnenen Musliminnen wiederholen diese Entwicklung. Sie werden ebenso scheitern wie katholische Nonnen, die freie Liebe haben und Priester, die heiraten wollten.

Ateș widerspricht sich. Der Koran soll am Hass der Männer unschuldig sein, gleichzeitig gründet die Frauenverachtung im heiligen Buch: „Aber ihr mangelndes Schuldbewusstsein und ihr Chauvinismus speisen sich aus Kultur und Religion ihres Landes. Ich habe als Anwältin muslimischer Frauen in Deutschland immer wieder den türkischen Spruch gehört: „Der Mann liebt und schlägt.“ Also: Er darf das. Dazu passt die Sure 4 Vers 34: „Die Männer stehen den Frauen in Verantwortung vor, weil Allah sie von Natur ausgezeichnet hat.“ Außerdem sagt der Koran: „Und wenn ihr (Männer) fürchtet, dass sie (die Frau) sich auflehnt, dann ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie!“

Ein hässlicher Dreischritt: Ermahnung, Liebesentzug, Gewalt. Auf diesen Vers berufen sich nicht nur Fundamentalisten, er prägt die ganze muslimische Welt. Wie kann man bei diesen unzweideutigen Aussagen tun, als hätte der Koran mit dem Hass auf Frauen nichts zu tun?

Hier blockiert sich die muslimische Frauenbewegung, weil sie den irreparablen Charakter einer männlichen Erlöserreligion nicht sehen will. Wohl können Menschen sich verändern und tun es bereits mit ungeheurem Mut, doch das Heilige ist unveränderbar. Wenn die Frauen sich nicht losreißen von den Fundamenten der Männerreligion, werden sie der Gewalt der Männer nicht entkommen.

Was rät Ateș den Demonstrantinnen? „Sich mit den liberalen Männern zu verbünden und sich bestmöglich zu schützen. Sonst werden sie diesen Kampf verlieren.“

Die liberalen Männer haben doch dasselbe Problem mit dem Koran wie die Frauen. Sie wollen das heilige Buch verändern, indem sie es weiterhin anbeten. Das ist ausgeschlossen. Es gibt nur ein Entweder-Oder. Ein Drittes gibt es nicht.

(ZEIT-Interview von Evelyn Finger mit Seyran Ateș)

 

Die Ökonomie hat aufgehört, eine Wissenschaft zu sein, sagt der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Philip Mirowski in der FAZ. Warum fällt niemandem auf, dass Ökonomen über die Ursachen der Finanzkrisen nichts zu sagen haben? Die einen geben ihre Ignoranz zu, die anderen – darunter Harvard-Professoren – gehen dreist in Attacke: „Wenn wir bezahlt werden, müssen unsere Ergebnisse auch richtig sein“.

Solche Sätze sind nicht mehr zu erfassen. Hier hat der religiöse Unfehlbarkeits-Wahn die letzten Reste der Wissenschaft erschlagen. „Das ist kein Witz, Leute sagen heute solche Sachen! In der gesamten intellektuellen Geschichte, wie ich meine, ein nie dagewesener Vorgang.“

Es genüge nicht, so Mirowski, diese oder jene aktuellen Vorgänge als Ursachen der Krise zu benennen. „Mit konventionellen Analysen ist diesem Computersystem nicht beizukommen. Aber auch ökonomisch ist etwas Tiefgreifendes im Gange, und die Leute ignorieren das einfach. Es gibt nur noch wenige von uns, die sich ernsthaft mit der Geschichte des ökonomischen Denkens beschäftigen und aus den Universitäten nicht vertrieben worden sind.

(FAZ-Interview von Jordan Mejias mit dem Ökonomen Philip Mirowski)

Mit anderen Worten, die Ökonomie denkt nicht. Sie rechnet nur und programmiert Computer. Was die Maschinen errechnen, verstehen die Zauberlehrlinge selbst nicht mehr. Schon in den späten 70er Jahren habe es unlösbare Probleme gegeben. Doch diejenigen, die einsahen, dass es an die Fundamente ging, wichen in andere wissenschaftliche Gebiete aus. „Wer blieb, war im alten Denken gefangen.“

(Schirrmachers Kapitalismus-Analyse geht nicht an die geistigen Wurzeln, sondern schiebt alle Übel den Spieltheoretikern in die Schuhe, die mit raffinierten Schachzügen den Kalten Krieg gewonnen hätten. Als die Physiker und Mathematiker für Kriegszwecke nicht mehr gebraucht wurden, eroberten sie die Wallstreet und wiederholten den Kalten Krieg mit ökonomischen Vernichtungswaffen im erbarmungslosen Wettkampf der Egoisten. Das mag richtig sein, dennoch springt Schirrmacher zu kurz. Er stellt keine Fragen nach den tiefen Wurzeln der Hassspieler im abendländischen Geist.

Woher kommt der Egoismus? Kommt das Unheil nur aus Amerika? Hat Amerika sich selbst erfunden oder ist es Erbe Europas? Welche praktischen Konsequenzen aus seinen Prämissen zu ziehen wären, lässt der FAZ-Herausgeber nach guter Art des Feuilletons offen. KULTURZEIT in 3-Sat lobte ausdrücklich den konservativen Denker, er habe die Probleme brillant analysiert, doch Gott sei Dank keine Lösungen vorgegeben.

Links will er nicht geworden sein, verändert habe er sich auf keinen Fall. Namen wie Adam Smith, Hayek, Friedman, Rüstow, Marx kommen bei ihm nicht vor. Er ignoriert die gesamte Geschichte der Ökonomie.)

Die ökonomische Krise sei eine intellektuelle Krise, so Mirowski. Noch immer halte sich die Wirtschaftswissenschaft für unangreifbar. „Die Theorie aber, die uns gegenwärtig zur Verfügung steht, erlaubt uns nicht zu begreifen, wie sich ein normal operierendes System so entwickeln kann, dass es sich selbst untergräbt. Keines der existierenden Modelle kann das nachzeichnen.“

Seit langer Zeit spricht ein Ökonom von der Originaltheorie des Neoliberalismus, wie sie vor allem in der MPS unter der Dominanz Hayeks ausgearbeitet wurde. Bis die deutschen Teilnehmer aus dem Umkreis Euckens, angeregt von Alexander von Rüstow, den angelsächsisch-österreichischen Hayekianern Ade sagten. Im heutigen VWL-Studium haben nicht mal Professoren die geringste Ahnung von diesen weltbewegenden und gut dokumentierten Ereignissen. Nicht nur Deutsche können keine Bücher mehr lesen. Die große Wende wird dadurch eingeleitet werden, dass Einser-Abiturienten mit ihren Dozenten das ABC zu entziffern beginnen.

„Die kulturelle Dominanz des Neoliberalismus, wie er von der Mont Pelerin Society seit den vierziger Jahren entwickelt wurde, macht die Annahme, ein Markt könne versagen, fast unmöglich. Im neoliberalen Denken wird der Markt als grandioser Informationsprozess verstanden. Die meisten Leute glauben daher, der Markt wisse mehr als sie selbst. Wenn das stimmt, dann sind wir nicht in der Lage, ein Marktversagen zu diagnostizieren.“

Hayek ist ein Gegenaufklärer, der nichts davon hält, dass der Mensch die Welt im Allgemeinen und die Wirtschaft im Besonderen versteht. Der Markt ist klüger als alle Menschen zusammen, der Einzelne muss seiner überlegenen Intelligenz blind vertrauen. Man vertausche den Begriff Markt mit Gott, dann erkennt man, woher der alte katholische KuK-Wind herbläst. Lasst Gott im Regiment und überlasst das Denken der Evolution, die hat die schnellsten Rechenmaschinen des Universums.

Wie kann man etwas analysieren, wenn man es nicht versteht? Diesen einfachen Gedanken spricht Mirowski als erster aus. Das ist ein enormer Fortschritt in der Anamnese einer Konkurs-Wissenschaft. Bei Adam Smith war die Überlegenheit des Marktes durch die Unsichtbare Hand schon vorprogrammiert.

Die Neoliberalen wollten den Staat dazu bringen, dass er sich raushalte um die Macht der Ökonomen nicht zu schwächen. „Es ist das Ziel der Neoliberalen, den Staat in ihrem Sinne zu veranlassen, bestimmte Strukturen zu schaffen und eine Welt herzustellen, die für ihre Marktrevolution geeignet ist. Das wollten sie tun, das haben sie getan, und das zu verstehen heißt, die Geschichte des Neoliberalismus von den siebziger Jahren an zu verstehen.“

Wie hintertrieben sie agierten, könne man an ihrer Doppelzüngigkeit beim Klimaproblem ablesen. Einerseits leugnen sie die Klimaerwärmung, andererseits befürworten sie fahrlässiges Geoengineering.

Die Linke könne hier nicht mithalten. „Sie verfügt über keine vergleichbare ökonomische Theorie, auf die sich ein politisches Langzeitprogramm stützen könnte. Was sie vorschlägt, ist immer nur kurzfristig gedacht. Sie weiß nicht, was sie sich unter einem Markt vorstellen soll. Ich kenne so viele Leute auf der Linken, die auf bizarre Weise das neoliberale Konzept eines Marktes übernommen haben.“

Die Linken beten noch immer den irrtumslosen Marx an oder übernehmen in postmoderner Mitläuferei das neoliberale Konzept. Elite-Universitäten würden von Ökonomen beherrscht, die keine Gegenmeinungen zum Neoliberalismus aufkommen ließen.

Nun kommen die entscheidenden Sätze, die sich jeder Kapitalismuskritiker hinter die Ohren schreiben sollte: „Wir haben es nicht nur mit einem ökonomischen, sondern einem kulturellen Problem zu tun. Es geht darum, wie wir uns selbst verstehen. Und was Märkte sind und welche Rolle wir in Märkten spielen und wie ein gutes Leben aussieht. Nur mit solchen Erzählungen sind die Leute zu aktivieren. Darum hat mich die Occupy-Bewegung so schmerzlich enttäuscht, die von der Vorstellung ausging, Ideen würden irgendwo von unten hochsprudeln. Eine irrsinnig naive Ansicht.“

Aktionismus ohne gedankliche Arbeit muss letztlich scheitern. Das sah man an vielen Stellen, wo guter Wille vorhanden war, doch alle Aktionen spurlos verschwunden sind. Bleibt nur eine Konsequenz: Wir müssen uns ändern. Jeder Einzelne für sich und wir miteinander. Dann können wir auch das System am Kragen packen. Mit Muskelspielen allein wird keine Wende gelingen.

Die Deutschen sind inzwischen gegen Denken allergisch geworden. Sie wollen den actus purus, die entscheidende Tat, die die neue Welt aus dem Nichts gebiert. Was wäre zu machen? Mirowski: „Wir wollen Mont Pelerin nicht imitieren, aber einige Aspekte davon sollten wir ins Auge fassen. Vor allem den: Mont Pelerin war eine Zeitlang eine „debating society“, ein Diskussionsclub am Rande der Gesellschaft. Heute sehe ich nirgendwo auf der Linken einen solchen Club. Mont Pelerin war ganz ungewöhnlich insofern, als niemand dort wusste, wohin die Reise gehen sollte. Alle Teilnehmer aber waren bereit, über Grenzen hinauszudenken und neue Möglichkeiten zu entdecken.“

Das ist ein bisschen geschönt, denn Hayek & Co wussten sehr wohl, was sie wollten. Bestimmt keine mündigen Bürger, die eine rationale Wirtschaft im Dienst der ganzen Menschheit betreiben könnten. Doch die Richtung stimmt, in die Miroski weist.

Wir brauchen die Wende, die Wende wird kommen. Entweder freiwillig durch Denken und Tun einer selbstkritischen Menschheit. Oder unfreiwillig, wenn das ganze Lügengebäude über uns zusammenbricht und uns nötigen wird, ein neues Kapitel der Gattung aufzuschlagen.