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Sonntag, 12. Februar 2012 – Germanische Identitätssuche

Hello, Freunde Syriens,

wenn’s stimmt, beginnt Assads Untergang. Seine Eliten setzen sich ab und flüchten ins Ausland.

Niall Ferguson plädiert für einen Präventivkrieg gegen den Iran, den er für das kleinere Übel hält.

In Israel wird das Szenario eines Krieges schon konkret durchgespielt. Planspiele mit 50 000 oder 5000 Toten hält Ehud Barak für völlig übertrieben. „Wenn alle in ihren Häusern bleiben, gibt es nicht mal 500 Tote.“

In Auschwitz und den anderen Todesfabriken starb nur etwa die Hälfte der Juden, die andere starb durch „deutsche Handarbeit“ in einem Gebiet, das der amerikanische Historiker Timothy Snyder „Bloodlands“ nennt. Es erstreckt sich von den baltischen Staaten über Weißrussland bis in die Ukraine.

Hier starben Weißrussen, Ukrainer, Polen, Russen und Balten, Frauen, Kinder, Alte und Zivilisten: die Bewohner dieser Länder. Sie wurden die Opfer von Hitler und Stalin. Snyder spricht von 14 Millionen Toten.

Begonnen hatte das Morden mit sowjetischen Hungersnöten infolge erzwungener Kollektivierungen. Die Schuld gab Stalin den ukrainischen Bauern, weshalb sie kollektiv ermordet werden sollten. 3,3 Millionen Sowjetbürger starben an Hunger und Folgekrankheiten, dazu dieselbe Anzahl von Ukrainern in der ganzen Sowjetunion. Darauf folgte

die Vernichtung ganzer Volksgruppen wie die der Kulaken, dem der „Nationalitätenterror“ folgte: vornehmlich sowjetische Polen. Dann 21 Monate „gemeinsame“ deutsch-sowjetische Vernichtungspolitik. Darauf der Holocaust. Danach die Racheaktionen gegen die Deutschen mit Zwangsinternierungen und Vertreibungen. Das Zentrum des Abschlachtens lag im Osten.

Wie verhalten sich die Massenmorde zueinander? Der Historiker Ernst Nolte hatte einen kausalen Zusammenhang zwischen dem älteren „Klassenmord“ der Bolschewiki und dem „Rassenmord“ der Nazischergen hergestellt: ohne Stalins Verbrechen keine Hitler-Verbrechen. (Wie konnte man eine solch alberne Verharmlosung des Hitler-Debakels zur bloßen Reaktionsbewegung auf Stalin ernst nehmen?)

Snyder begebe sich auf revisionistisches Terrain, wenn er den Partisanenkrieg als Vorlage für den NS-Terror bezeichne, meint der Rezensent. Doch das „wird nicht recht klar“. Snyder vergleiche eher quantitativ. Bis 1938 hatten die Sowjets tausendmal so viele Menschen ermordet wie die die Deutschen. Danach holten die Deutschen mit dem „Unternehmen Barbarossa“ auf und ermordeten 10 Millionen Menschen, neben Juden auch drei Millionen Kriegsgefangene.

 

Während die Historiker früher intentionalistischen oder funktionalistischen Deutungen anhingen, bevorzugten sie heute die situationistische, die sich auf regionale Aspekte beschränke. Eine Situation mit sich selbst zu erklären, ist der endgültige Abschied von allem Erklären.

Die intentionalistische Deutung bedeutet, dass die Verbrechen das Ergebnis zielgerichteter Intentionen, also bewusster Absichten, waren.

Die funktionalistische: die Verbrechen waren keine direkte Absicht, sondern „ergaben sich“ auf Grund von Widersprüchen und organisatorischen Fehlleistungen, um mit „unvorhergesehenen, verschärften Notmaßnahmen“ dieselben ad hoc zu lösen. Wer das verstehen will, sollte an Paniksituationen denken. Niemand hatte in Duisburg die Absicht, bei einem Musikfestival junge Menschen zu Tode zu trampeln. Als die brenzlige Situation entstand, taten die Menschen, was sie bei normalem Verstand nicht mal hätten denken dürfen. Sie versuchten die Notlage zu lösen, indem sie sie unerträglich verschärften.

Wie immer ist der historische Streit wirr und hat sich längst in die Bibliotheken verflüchtet. Mit welchem Ergebnis? Dass über alles geschwiegen wird. Auch eine Form der Vergangenheitsbewältigung.

Wenn Wissenschaftler nicht fähig sind, die geringsten klaren Fragen zu stellen, was sollen Schulbuchautoren und Geschichtslehrer den Heranwachsenden als „gesicherte Ergebnisse“ vermitteln?

Wer war nun schuld am Verbrechen? Nur eine kleine Clique von Hitlervertrauten, die von Anfang an ihre Absichten hatten und sie mit mörderischer Konsequenz vollstreckten? Womit die meisten Deutschen ziemlich aus dem Schneider gewesen wären, so konnten sie sich als bloße Mitläufer, Verführte und Angepasste deklarieren, was in der Tat auch geschah.

Der Historiker Hans Mommsen, Vertreter des Funktionalismus, wirft der deutschen Öffentlichkeit vor, sie betreibe „verdeckte Apologetik“ (Apologie = Verteidigung), indem sie die Schuld auf wenige Nazi-Repräsentanten schiebe. Mommsen nennt Namen wie Günter Grass, Walter Jens, die ihre Mitgliedschaften in NS-Organisationen verschwiegen hätten. Die Nation, so Mommsen, sei nicht bereit, ihre eigene Verstrickung in die Verbrechen einzugestehen.

Ein gewaltiger Vorwurf, der, wenn er stimmte, das geschönte Bild einer selbstkritischen Nation weitgehend in Frage stellte. Kein nennenswertes Echo auf Mommsens These in der Öffentlichkeit. Weder in der Politik, noch in der Wissenschaft. Im Gegenteil, bei Auschwitzgedenktagen wird der Eindruck erweckt, als sei alles geklärt. Es ginge lediglich um die Frage der Vermittlung. Die ungeklärten Grundlagenstreitigkeiten werden nicht mal erwähnt.

Mommsen hat hier ein heißes Eisen aufgegriffen. Gleichwohl muss auch seine Position unter die Lupe genommen werden. Will er mit dem verwaschenen Begriff „Funktionalismus“ im Ernst behaupten, dass die Verbrechen „absichtslos“ geschahen und nur unbeabsichtigte Nebenfolgen kriegerischer Wirrnisse gewesen seien? Also Reibereien konkurrierender Stäbe und unvorhergesehener Kalamitäten? Dass ein kollabierendes System sich zu Ungeheuerlichkeiten genötigt sah, um sich selbst zu retten? Müsste das nicht bedeuten, dass Faktoren wie Antisemitismus so gut wie keine Rolle beim Massenmord spielen konnten?

Wir stehen vor einem typisch deutschen Pest- und Choleraproblem. Während die Intentionalisten klar die bösen Absichten in den Mittelpunkt stellen, aber (wenn Mommsen Recht hätte) nur die Absichten weniger Oberschurken, will Funktionalist Mommsen die Verstrickung der ganzen Nation betonen, doch so, dass die ganze Nation absichtslos in die Verbrechen geschliddert wäre.

Die ersten sehen die Schuld in zielgerichteten bösen Taten, dummerweise nur von wenigen, sodass die Nation insgesamt glimpflich davonkommt. Die andern beschuldigen die ganze Nation – die aber gar keine böse Absicht hatte, sondern nur im Schlamassel der Ereignisse ungewollt ins Böse rutschte: Freispruch für die ganze Nation, der Mommsen gleichwohl im selben Moment vorwirft, sie drücke sich vor der Verantwortung.

Das Debakel beginnt nicht in Schulen bei verzweifelten Lehrern, die ihre Schüler nicht mit Holocaustgrauen überfüttern, dennoch dem grauenhaften Stoff nicht ausweichen wollen. Er beginnt und endet in einer desaströsen Wissenschaft, die nicht fähig ist, ihren Gegenstand so zu klären, dass er vermittelbar wäre.

War das Verbrechen die Sache weniger Alphatiere, oder war die ganze Nation daran beteiligt? Wenn letzteres, müsste man von Kollektivschuld sprechen. Doch da sei Karl Jaspers vor, der den Begriff ablehnt und nur von Einzelschuld und individueller Verantwortung sprechen will.

Meist wird unter einem Kollektiv 100% einer Großgruppe verstanden, was statistischer Unfug ist. Ein Kollektiv ist die repräsentative Mehrheit einer Population, belanglose Ausnahmen inbegriffen. Sage ich, das ganze deutsche Volk beteiligte sich an den Untaten, aktiv oder durch Gewährenlassen, weiß ich sehr wohl, dass es kleinere Minderheiten gab, die sich offen oder versteckt widersetzten. Aber unwesentliche Minderheiten, die nie in der Lage waren, den Karren in eine andere Richtung zu zerren.

Insofern kann niemand leugnen, dass es sich um eine deutsche Kollektivschuld handelt. Hätte es einen nennenswerten Widerstand der Guten gegeben, die die Macht der Bösen ins Straucheln gebracht hätten, könnte man mit Fug sagen: Deutschland war gespalten, schizophren, zerrissen.

Davon kann keine Rede sein, das Land der Mitte lag zu 95, 5% im Fieber des Vorsehungsgeistes. Deutschland muss vor der ganzen Welt als nationales Kollektiv für seine Schandtaten haften. Da beißt keine Maus einen Faden ab.

Womit wir bei Daniel Goldhagen angekommen wären, der zwar den Begriff, nicht aber die Sache ablehnt, was auch ein Widerspruch ist. „Eine Gesellschaft, die sich (wie Deutschland zwischen 1933 und 1945) mit Herz und Seele zum Antisemitismus bekennt, wird wohl auch antisemitisch sein“, schreibt er in seinem umstrittenen Buch „Hitlers willige Vollstrecker“.

„Meine These ist, dass sich der Wille zu töten, sowohl bei Hitler als auch bei denen, die seine mörderischen Pläne in die Taten umsetzten, vorrangig aus einer einzigen gemeinsamen Quelle speiste: aus einem bösartigen Antisemitismus.“ Hätte das keine triviale Aussage sein müssen, denn aus welchen Gründen sollten die Deutschen die Juden denn sonst bestialisch umbringen, wenn nicht aus bestialischem Judenhass, von Goldhagen eliminatorischer Antisemitismus genannt?

Der Widerstand der deutschen Intelligentsia gegen das Buch eines Autors, dessen Vater Überlebender des Holocaust war, (und der es deshalb gewagt hatte, in seinem Schreibstil Betroffenheit zu zeigen! Ein Sündenfall für coole Professoren) stempelte alle feiertägliche Schuldrhetorik zur Makulatur.

Die intellektuelle Elite wollte zwar schuldig sein, aber mit reinen Händen. Lippenbekenntnisse einer Nation, die vor ihrem Herrn in Dauerschuld lebt, doch stets im Erbarmen des Sohnes, der alle Schuld stellvertretend auf sich nimmt, auf dass sie Frieden hätten.

Mommsen bringt die Leistung zuwege, in bestechender Logik die Generalthese vom eliminatorischen Antisemitismus vom Tisch zu wischen, indem er Goldhagen den Vorwurf macht, er habe die wichtigsten Antisemiten wie Houston Chamberlain und de Lagarde vergessen.

Hatte es in anderen Ländern nicht auch Antisemitismus gegeben? Natürlich, andere Nationen aber hatten nicht dieselbe glühende Eifersucht auf das auserwählte Volk, im festen Glauben, selbst das wahre auserwählte Volk zu sein.

Die Historiker hatten die Kleinigkeit übersehen, dass Deutschland ein durch und durch theologisiertes Volk war. Die wenigen Bücher über den Schuldanteil des christlichen Dogmas am Aufkommen der Schergen werden bis heute aus Gründen der Schonung der Kirchen ignoriert. Darunter Friedrich Heers „Der Glaube Adolf Hitlers“, Michael Leys „Genozid und Heilserwartung“ oder C.E. Bärschs „Die politische Religion des Nationalsozialismus“ und andere mehr.

In seinem Vorwort zu Theodor Lessings Buch „Der jüdische Selbsthass“ wirft Boris Groys den Deutschen vor, sie hassten die Juden, weil sie deren Religion – in der Variante des Christentums – übernommen hätten, somit ihren eigenen germanischen Wurzeln untreu geworden wären. „Die jüdische Geistestradition wurde zur Grundlage der europäischen Kultur, eine andere Kultur hat Europa nicht“.

Das klingt nicht wenig triumphierend und ignoriert nur die Kleinigkeit, dass alle europäischen Aufklärungsbewegungen, die gesamte Wissenschaft, Demokratie und Menschenrechte dem Humus der Griechen entstammen.

Doch in der Tat, diese Bewegungen haben bis heute im emotionalen Untergrund der deutschen Seele noch keine Wurzeln gezogen. Tief im Innern ahnt und spürt der Deutsche „den Juden“, dem er „aufgesessen ist“. „Natürlich war Europa sich bis dato in tiefster Seele stets bewusst, dass es seine Kultur aus zweiter Hand hatte, übernommen von einem anderen Volk. Daher rührt auch der hysterische Antisemitismus der Europäer. … Aus den Tiefen der europäischen Seele steigt der Antisemitismus stets dann auf, wenn diese Seele in sich selbst nicht den geistigen Ursprung jener Kultur findet, zu der sie sich bekennt und die sie nur deshalb ihr eigen nennt, weil sie keine andere Kultur hat.“

Eine treffliche Analyse des Antisemitismus-Problems, das nirgendwo angesprochen wird. Die Deutschen lehnen die Juden ab, weil sie ihrer religiösen Verführungskraft nicht widerstehen konnten. Ausgerechnet mit ihnen müssen sie um das Prädikat „wahres auserwähltes Volk“ konkurrieren, die sie hassen wie Pest und Cholera.

Wenn man bei heutigen Auschwitz-Gedenkfeiern die Beiträge der Medien verfolgt, werden stereotyp die Ergebnisse der Antisemitismus-Forschung präsentiert. Noch immer seien 20% aller Deutschen Antisemiten. Unwidersprochen wird eine Korrelation zwischen Holocaust und Antisemitismus hergestellt.

Gleichzeitig wird in der historischen Wissenschaft der Faktor eliminatorischer Antisemitismus als unerhörte Provokation empfunden und abgelehnt. Als Beispiel für Antisemitismus gilt schematisch die Frage nach der – weit überschätzten – Machteinschätzung Israels, das Vorhandensein von Klischees oder sonstige Dämlichkeiten.

An die wahren Ursachen des Judenhasses in den Tiefen der religiösen deutschen Seele – die sich von der „jüdischen Kultur“ befreien will, doch ohne Erfolg – darf nicht gerührt werden.

Die Deutschen spüren, dass sie sich bis heute keine authentische Identität erarbeitet haben. Das Griechische als Vernunft, Demokratie und Rationalität haben sie nur zur Hälfte verinnerlicht. Gleichzeitig lehnen sie die Ratio als kalt und gefühllos ab.

Demokratie war ihnen noch nie eine Herzensangelegenheit, schon faseln sie ungerührt von postdemokratischen Verhältnissen.

Schmidt-Salomon, Agnostiker seines Zeichens, der viel auf Vernunft hält, warnt gleichzeitig davor, mit der Lektüre von Kant nicht zu übertreiben. Was wäre das Leben ohne irrationale gefühlsmäßige Sättigungsbeilagen? Offensichtlich können selbst Rationalisten sich nicht vorstellen, dass Logos und Eros, Einsicht und Leidenschaft identisch sind. Dass ein gewisser Sokrates eine ganze Nacht auf einer Stelle verharrte, versunken in ein Erkenntnisproblem, muss Herrn Schmidt-Salomon entgangen sein.

Die Graecomanie war ein Versuch der Neugermanen, dem Einfluss der jüdisch-christlichen Kultur zu entkommen. Er scheiterte, weil er alles Demokratische und Sokratische ausblendete und Lernen von anderen überhaupt als Fremdbestimmung betrachtete, dem man sich eigentlich entziehen müsste, wenn man sich denn nur traute.

Für unsere Klassiker zählten allein das Schöne, das Mythologische und das Heldenhafte. Bei den Weimaranern kommt der Begriff der urgriechischen Aufklärung mit keiner Silbe vor. Kant war noch nicht gestorben, da galt das Projekt Aufklärung bei Hegel und den romantischen Bubis schon als lächerlicher Ladenhüter.

Ja, es war eine tiefe Leidenschaft zu den Griechen bei den deutschen Grüblern und Denkern gewesen, die Hellas benutzten, um der theologischen Kutte zu entfliehen. Doch die Leidenschaft war von zu vielen Missverständnissen geprägt. Zwar suchten sie – wie Hyperion – das Land der Griechen mit der Seele, doch die Sache der frei denkenden Mäeutiker, Peripatetiker, Epikuräer, Kyniker und Stoiker konnten sie mit Energie nicht festhalten.

Am Ende ihres kurzen Lebens knieten sie kollektiv am katholischen Altar. Das war die Rückkehr der Verlorenen Söhne zum Vater, den sie jetzt noch intensiver ablehnten – doch ER sollte es auf keinen Fall bemerken –, weil er das Zurückkriechen der Söhne unverhohlen als Fest feierte.

In diesem Zustand befinden wir uns heute. Die Deutschen wissen nicht, woher sie kommen und nicht, wohin sie gehen. Wer sie geprägt hat, ignorieren sie vollständig, sonst müssten sie beginnen, aus allen Angeboten der Welt jene Inhalte auszuwählen, die von ihrem kritischen Kopf gebilligt werden.

Alles prüfet, das Beste behaltet. Zu diesem Selbstdenken sind sie zu gebrochen und zu feige. Einfacher und besser ist es, sich ins Bruttosozialprodukt zu stürzen. Da weiß man am Abend, was man geleistet hat.