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Sonntag, 10. Februar 2013 – Graumann contra Augstein

Hello, Freunde der Welt,

das Christentum ist eine dufte Sache, nur die Kirche entstellt unentwegt das Credo. Die meisten kritischen Christen halten das Urevangelium für das Nonplusultra der Religion und der Moral. Sie glauben an den unverfälschten Kern der Frohen Botschaft, den man nur wiedergewinnen müsste, um das Evangelium in seiner Reinheit zur Geltung zu bringen.

Fast alle Kirchenkritiker seit dem hohen Mittelalter über Luther bis zu den „linken Sekten“ in England hielten am Glauben an den guten Kern der Heilsbotschaft fest, der gegen die Verkrustung der Priester freigelegt werden muss, um seine wundersame Wirkungskraft zu entfalten. Die verdorbene Hülle muss zerbrochen werden, um die unverfälschte Substanz zu retten.

Der romantische Theologe Schleiermacher verwirft die Unterscheidung zwischen Hülle und Kern. Ein wiedergeborener Christ braucht weder externe Hülle noch historischen Kern, um selig zu werden. Erfüllt vom Heiligen Geist kann der mündige Jünger Jesu seine eigene heilige Schrift verfassen. Die Bibel ermächtigt die Frommen, sich von ihr zu lösen und die Wahrheit Gottes im subjektiven Innern zu finden. Wenn Ich und Gott in unio mystica verbunden sind, sind meine Gedanken die Gedanken Gottes.

Der angebliche Kern muss gegen die verderbliche Hülle nicht mehr ausgespielt werden, der Wiedergeborene benötigt keine äußere Autorität mehr in Form eines Buches. Er kann sein eigenes Inneres befragen, um Gottes Willen zu ermitteln.

Diese kühne Selbstvergötterung des Christen hat sich in den Gemeinden nicht

durchsetzen können. Moderne Kirchenredakteure sind kritische Christen, die an die Kirche appellieren, „Teil dieser Welt“ zu sein, wie Joachim Frank in der BLZ schreibt.

Das Christentum, so Frank, ist entstanden im Kontrast zur antik-heidnischen Umwelt. „«Bei euch aber soll es anders sein», sagt Jesus schon in der Bibel und meint damit den Ausstieg aus tradierten Logiken von Macht und Herrschaft. In diesem Sinn waren Christen immer wieder „Avantgarde“, ebenso wie mit dem Programm tätiger Nächstenliebe.“

Die Machtlosigkeit der Kirche, das kleine Jesulein, scheint die Deutschen zu beeindrucken. Seit dem Dritten Reich haben sie der Gewalt und der Macht abgeschworen. Es ist eine Projektion geläuterter Gewalttäter, die sie für den Inbegriff der Offenbarung halten. Im Grunde ihres Herzens wollen sie der Macht abschwören und ihre Nächsten lieben wie sich selbst.

Es sind humane Visionen, die sich aber nicht trauen, auf der Basis autonomer Entscheidungen zu stehen und sich an einer uralten Autorität festhalten müssen, von der sie nicht lassen können, auch wenn sie die kirchliche Hüllen für pervers halten. Das Vollendete ist in irdische Windeln gewickelt. Die Abendländer sind in ihrer moralischen Entwicklung längst über die Mischmoral der Heiligen Schrift hinausgewachsen, ohne dass sie ihre humane Überlegenheit wahrnehmen dürften.

Ihre Humanität müssen sie mit Sprüchen der Offenbarung begründen, von denen sie glauben, dass sie Extrakt des Heiligen sind: das Ideale, dem die Kirchen nicht genügen, weil sie der Sünde verfallen sind.

Der Sündenbegriff ist die große Rechtfertigung für den moralischen Stillstand der Kirchen, die das Lernen der Menschheit blockieren, um zu verdecken, dass sie selbst seit Jahrtausenden auf der Stelle treten – ihre „Fortschritte“ verdanken sie einzig ihrer postmodernen Wendigkeit, sich elegant dem jeweiligen Zeitgeist anzupassen. Sollte der Zeitgeist sich wieder ändern, werden die Kirchen zu ihrer alten Machtrolle zurückfinden, was man gegenwärtig immer deutlicher sieht.

Indes haben die humanen Projektionen der Menschen mit den heiligen Schriften nichts zu tun. Die Christen wissen über ihren Glauben so gut wie nichts. Sie wollen auch nichts wissen, weil sie ahnen, sie könnten furchtbar enttäuscht werden. Dann besäßen sie keine autoritative Stütze mehr für das Ideal der machtlosen Agape.

Auch der BLZ-Schreiber leidet an ecclesiogener Legasthenie. Was er schreibt, ist das Gegenteil der Wahrheit. In seine Familienbibel scheint er nicht hineinzuschauen, mit Schriftworten etwas belegen ist unter der Würde geistbegabter Edelschreiber. Seine Weisheiten bezieht er offenbar bei Theologen, die bei aller Kritik am lieben Jesulein die Kirche im Dorf lassen.

Dass es die griechische Antike war, die die tradierten Logiken von Macht und Herrschaft in einem streitbaren Dauerklima auflösten und so nebenbei die Demokratie erfanden, kann Frank noch nicht gehört haben. Dass das Jesulein in der Krippe in unerbittlicher Allmacht das Universum als Pantokrator (Allherscher) regiert, scheint ihm nicht aufgefallen zu sein.

Man schaue in der Konkordanz unter Macht und behaupte weiterhin, die Erlösungsbotschaft sei Inbegriff der Ohnmacht und Liebe. Deshalb ist der Sohn auf die Erde gekommen, um in scheinbarer Ohnmacht seine allerhöchste Macht zu demonstrieren. Seine beiden schärfsten Widersacher, den Tod und den Teufel, hat er im paradoxen Understatement aufs Kreuz gelegt. „Und Gott hat ihm Macht gegeben, Gericht zu halten.“

Er ist der oberste Scharfrichter der gesamten Geschichte, wird die einen in die ewige Seligkeit, die anderen in ewige Verdammnis schicken. Gibt es eine höhere Macht?

Die Trennung der Menschen in Erwählte und Verworfene ist von keiner Nächstenliebe zu überwinden. Im Gegenteil, die Agape ist die schärfste Waffe im Wettbewerb um Sein oder Nichtsein. Wer seinen Nächsten liebt, tut etwas für sich und will Pluspunkte für die Endabrechnung im Jüngsten Gericht sammeln. Die Erweisung von Liebe ist maximaler Heilsegoismus.

Irdische Machtstrukturen werden bereits im Alten Testament abgelehnt. Die Kinder Israels lehnen die direkte Theokratie Jahwes ab und wollen Könige wie andere Völker. Die Ältesten des Stammes erbitten vom damaligen theokratischen Stellvertreter Samuel: „So setze nun einen König über uns, wie es bei allen Völkern der Fall ist.“ ( Altes Testament > 1. Samuel 8,5 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/1_samuel/8/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/1_samuel/8/“>1.Sam. 8,5 ff)

Jahwe kann dem aufmüpfigen Willen des Volkes nicht widerstehen und befiehlt Samuel, den Aufsässigen einen König zu geben. Der erste wird der schöne Saul sein. Doch ihre Undankbarkeit müssen die Widerspenstigen teuer bezahlen. Erstens bleibt Jahwe doch der allmächtige Theokrat über den irdischen Herrschern, zweitens wird die Marionette Gottes sein Volk nach Strich und Faden bestrafen:

Und er sprach: Dies wird die Weise des Königs sein, der über euch regieren wird: Eure Söhne wird er nehmen und für sich bestellen auf seinen Wagen und unter seine Reiter, und daß sie vor seinem Wagen herlaufen; und er wird sie nehmen, um sich Oberste über tausend und Oberste über fünfzig zu machen, und daß sie seine Äcker pflügen und seine Ernte einbringen, und daß sie sein Kriegsgerät und sein Wagengerät machen. Und eure Töchter wird er nehmen zu Salbenmischerinnen und zu Köchinnen und zu Bäckerinnen. Und eure Felder und eure Weinberge und eure Olivengärten, die besten, wird er nehmen und sie seinen Knechten geben. Und von euren Saaten und euren Weinbergen wird er den Zehnten nehmen und ihn seinen Kämmerern und seinen Knechten geben. Und eure Knechte und eure Mägde und eure schönsten Jünglinge und eure Esel wird er nehmen und sie zu seinen Geschäften verwenden. Euer Kleinvieh wird er zehnten, und ihr, ihr werdet ihm zu Knechten sein. Und ihr werdet an jenem Tage schreien wegen eures Königs, den ihr euch erwählt habt; aber Jehova wird euch an jenem Tage nicht erhören.“

Wer diese Verse liest, kann sich über den Hass rechtgläubiger Christen auf den Staat nicht mehr wundern. Der irdische Staat ist ein Verrat an Gottes direkter Herrschaft und ein volksschädigender Behemot, wie Hobbes den Staat dämonisiert. Ab jetzt hat Israel ein doppeltes Bündel zu tragen: den sadistischen König und den Herrn der Heerscharen. Ab jetzt müssen die Kinder Israels ein doppelt gewalttätiges Regiment auf ihre Schultern nehmen. Jesus ist nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.

Würde man lesen, was eindeutig geschrieben steht und nicht alles Unerquickliche mit metaphorischen Zauberkunststücken ins Gegenteil verkehren, könnte man im härtesten Machtbuch der Welt keinen machtlosen Pazifismus mehr finden.

Dass Frank die Gefahren eines Glaubens an eine jenseitige Welt nicht verstanden hat, beweisen seine Worte: „Erhebt euch nicht in falscher Arroganz über jene, für die diese Welt nicht das letzte und höchste Maß aller Dinge ist!“ Wenn jene Überwelt das Ende dieser Welt bedeutet, ist der transzendente Glaube der selbsterfüllende Tod dieser Welt. Hier hülfe nur Zarathustra: „Und noch mal sage ich euch, bleibet der Erde treu“. Wäre der Glaube an ein Jenseits eine Stabilisierung des Irdischen, wäre er hoch willkommen.

 

Augstein ist für Graumann kein Antisemit, hier distanziert er sich erfreulicherweise von Simon Wiesenthal-Funktionären. (DER SPIEGEL 3, 2013 Streitgespräch zwischen Jakob Augstein und Dieter Graumann)

Was ist nach Graumann Antisemitismus?

a) wer überall eine jüdische Weltverschwörung wittert, b) die Juden für alle Übel der Völker verantwortlich macht, c) wer Israel das Existenzrecht abspricht, es verteufelt oder seine Vernichtung in Kauf nimmt oder d) wer grobschlächtige Nazivergleiche verwendet, um israelische Politik zu verdammen.

Diese Definitionen sind fast wertlos, auch wenn Augstein ihnen zustimmt.

Zu a) Was eine Weltverschwörung ist, kann niemand erklären. Wäre damit die überragende Macht der Israelis – auch über die amerikanische Regierung – gemeint, wäre es ein Fall absurder Realitätsverleugnung, wenn man diesen Umstand dementierte. Alle Erlöserreligionen wollen Macht über die Welt. Die israelische Gesellschaft steht im Einflussbereich der Ultras, die keinen Hehl aus ihren Allmachtsoptionen machen: natürlich stets als Werkzeuge des Allmächtigen.

Es ist ein Skandal, wie deutsche Antisemitismus-Wächter nicht nur israelische Selbstkritiker wie Uri Avnery nicht zur Kenntnis nehmen, sondern auch den ehemaligen Regierungschef Sharon, der unmissverständlich den Satz sagte: Wir regieren Amerika. Dass es eine jüdische Lobby und Seilschaften in Amerika gibt, die erheblichen Einfluss auf das Weiße Haus haben, hat man hundertfältig im letzten amerikanischen Wahlkampf gesehen, als es Netanjahu des öfteren gelang, den mächtigsten Mann der Welt wie einen dummen Buben aussehen zu lassen. Dass die Geldgeber Mitt Romneys die besten jüdischen Freunde Netanjahus waren, war kein Zufall. Wenn alles Verschwörung ist, was kein Zufall ist, gibt’s in der Politik nur Verschwörungen.

Es ist eine Beleidigung menschlicher Intelligenz, diese offensichtlichen Faktoren der Macht zu leugnen. Wie lang gibt’s in Deutschland schon das Kasperlspiel um die Verleugnung der jüdischen Macht?

Zu b) Wer Juden für alle Übel dieser Welt verantwortlich macht, sind, nach Theodor Lessing, die Juden selbst. Somit wären sie selbst die schlimmsten Antisemiten.

„Es ist nun eine der tiefsten und sichersten Erkenntnisse der Völkerpsychologie, daß das jüdische Volk unter allen Völkern das erste, ja vielleicht das einzige Volk war, welches die Schuld am Weltgeschehen einzig in sich selber gesucht hat. Auf die Frage: „Warum liebt man uns nicht?“ antwortete seit alters die jüdische Lehre: „Weil wir schuldig sind.“ Es hat große jüdische Denker gegeben, die in dieser Formel: „Weil wir schuldig sind“ und in dem Erlebnis der Kollektiv-Verschuldung und Kollektiv-Verantwortung des Volkes Israel den innersten Kern der jüdischen Lehre erblickten.“ (Der Jüdische Selbsthass)

Nach Lessing ist das ganze jüdische Volk ein Volk der Selbsthasser, denn es ist schuld am gesamten Übel der Weltgeschichte.

Zu c) Wer, außer Vollidioten, die man nicht ernst nehmen kann, spricht Israel das Existenzrecht ab?

Zu d) Grobschlächtige Nazivergleiche sind expressis verbis höchst selten und stammen wieder von obigen Vollidioten – oder sie sind emotional verständliche Momentübertreibungen derer, die das Elend der israelischen Opfer unmittelbar erlebt haben. Hier geht’s nicht um wissenschaftlich unangreifbare Sätze, sondern um Versuche, den eigenen verheerenden Eindruck vor Ort in Worte zu gießen, die die Verantwortlichen aufrütteln sollen – allerdings stets ohne den geringsten Erfolg. Im Gegenteil. Das Elend der palästinensischen Opfer wird unter dem Hickhack sinnloser Antisemitismus-Scharmützel vollends untergepflügt.

Warum fragt Graumann sich nicht, was die Ursache dieser Entsetzensrufe sein könnte? Diese – wissenschaftlich nicht haltbaren, aber emotional verständlichen – Sätze als willkommene Legitimation zu nehmen, um von den Schandtaten der Besatzer abzulenken, ist unerträglich. Es ist kein unrühmlicher Nazivergleich, zu sagen: Juden waren Opfer der Deutschen. Doch inzwischen sind sie zu Tätern geworden, die andere zu Opfern genommen haben. Nicht auf der Stufe nationalsozialistischer, sondern menschenrechtlicher Schreckenstaten.

Ein Riesenfehler von Augstein, die Antisemitismus-Definitionen Graumanns abzusegnen, anstatt säuberlich zu analysieren. Überhaupt führt er nur ein defensives Gespräch, um die Attacken Graumanns professionell kühl an sich abtropfen zu lassen. Anstatt das Gespräch produktiv zu führen und die Grundgedanken Graumanns en Detail zu analysieren. So wenig Graumann seinen Streitpartner versteht, so wenig bemüht sich Augstein, Graumanns emotionale und ideelle Hintergründe zu erfassen.

Graumann gibt sich unleidlich wie ein strenger Vater, der seinen Sohn oft, aber vergeblich ermahnte und sich leider gezwungen sieht, seine Vorwürfe in grantigem Ton zu wiederholen. Augstein, sagt Graumann, würde in seiner Israelkritik „laufend Grenzen überschreiten“. Wo er selbst die Grenzen zwischen legitimer Kritik und verwerflicher Schmähkritik sieht, darüber erfahren wir kein Wort.

Selbstverständlich könne das Heilige Land kritisiert werden, aber bitte sachlich. Seltsam, dass sachliche Kritik immer identisch sein muss mit der Alibikritik der übereifrigen Israelverteidiger, die durch ihre überzogene Apologetik den Staat eher in schlechtes Licht rücken als die Angriffe der Kritiker. Wenn Israel souveräner wäre, würde es auf externe Kritik souverän reagieren.

Dass es bei den deutschen Kritikern um „Täter“ ginge, verfängt nicht mehr. Echte Täter gibt’s nicht mehr. Deren Nachkommen haben ihre Meinung zu sagen, wie sie es für richtig halten. Die Zeit der Gouvernanten ist vorbei.

Die Schonzeit der Juden in diesem Lande sei vorüber, sagte Salomon Korn. Das ist Unsinn. Juden müssen „geschont und pfleglich“ behandelt werden durch das Sagen der Wahrheit, die – nach Bachmann – dem Menschen zumutbar ist. Das mag bei Juden zornige Ressentiments auslösen, allein die deutsch-jüdischen Verhältnisse werden nur dann demokratisch, wenn demokratische Grundsätze der Gleichheit eingeübt werden. Wir müssen so tun, als ob wir Vernunft walten lassen im Streit um Recht und Unrecht, damit Vernunft Einzug halten kann in die Debatte.

Warum würde Augstein nicht Assad in gleichem Maße kritisieren, wie er über Israel herfällt? Wenn Kritik Wertschätzung und Freundschaft bedeutet – was es tut – muss sie zwischen nahen und fernen, wichtigen und unwichtigen Adressaten unterscheiden. Verglichen mit Israel ist Assad ein Nobody für Deutschland. Gerade die historische Verstrickung der Deutschen mit den Juden beweist, dass zwischen ihnen wesentlich mehr aufzuklären wäre als in anderen Beziehungen. Eigentlich eine Trivialität. Auch Graumann wird seine engsten Freunde schärfer an die Brust nehmen als andere, wenn er glaubt, sie vor dem Verderben schützen zu können.

Zu Recht kann Graumann nicht nur ein Mindestmaß an Mitgefühl für die Lage der deutschen Juden erwarten. Mitgefühl darf aber nicht als Legitimation für mangelnde Kritik dienen. Augstein scheint mit Empathieäußerungen Probleme zu haben. Sein doppeltes Rollenspiel als Deutscher und als Journalist trifft den Punkt nicht. Jeder wache Deutsche hat als Journalist zu denken, jeder wache Journalist als Deutscher.

Was Kritik ist und wie sie sich zur Freundschaft verhält, wird von beiden Disputanten nicht erörtert. Scharfe und aufrechte Kritik mag weh tun, ist aber nicht das Gegenteil von Mitgefühl, sondern Inbegriff der Betroffenheit, die die Sache dennoch so schnörkellos zur Sprache bringen will, wie sie es für richtig hält.

Deplaziert sind die Äußerungen Graumanns, von Deutschland aus sei es leicht, über Israel zu urteilen. Jeder muss die Weltläufte von dem Platz aus beurteilen, auf dem er steht. Hat Graumann verstanden, was die Pflichten autonomer Bürger sind: zu sagen, was man zu sagen hat? Niemand muss diese Meinung teilen, jeder kann beliebig dagegen halten. Das nennt man Streit auf der Agora. Andersdenkenden ständig die freie Meinungsäußerung madig zu machen, ist unzumutbar.

Noch unzumutbarer, sich auf Eli Wiesels Satz zu beziehen, Juden hätten keine Antennen für Antisemitismus, sie seien die Antennen. Wie können Unfehlbare sich mit sündigen Wirrköpfen an einen Tisch setzen? Als Augstein Ähnliches formuliert, geht die inkompetente Gesprächsleitung dazwischen, um Graumann zu schonen. (Aberwitzig, ein Streitgespräch, an dem ein SPIEGEL-Kolumnist beteiligt ist, von SPIEGEL-Moderatoren leiten zu lassen.)

Dass Augstein nichts zur Beschneidung geschrieben hat, wird von Graumann mit der Note Eins plus bewertet: gut geschwiegen. Das ist anmaßend und hat mit demokratischen Spielregeln nichts mehr zu tun.

Augstein will nicht der Kälte bezichtigt werden. Kälte entspreche nicht seinem „Wesen“. Solche Wesenschau bleibt unergiebig, wenn das Wesen sich nicht in Taten äußert. Das Wesen einer Persönlichkeit muss sich beweisen und kann sich nicht durch eine unfehlbare „Wesenschau“ immunisieren.

Das deutsch-jüdische Verhältnis kann man nicht erhellen, ohne die theologische und philosophische Verstrickung der beiden Nationen zu erörtern. Diese Dimensionen blieben in dem ganzen Gespräch völlig im Dunkeln.

Graumann fordert Augstein auf, seine Israelkritik in einem anderen Ton zu äußern als eine Kritik über Merkel. Gefühle kann man niemandem vorschreiben. Zu allererst geht es um sachgemäße Kritik und Sachgemäßheit ist in allen Bereichen gefragt. Der Ton der Kritik ist subjektive Temperamentssache. Ob der Ton einer Kritik angemessen ist, darüber lässt sich unendlich streiten. Doch wenn die Kritik am Ton von der Sachkritik ablenken soll, ist etwas faul im Staate Dänemark.

Im Übrigen ist der heftige Ton in der Israeldebatte ein sicheres Indiz für den immer geleugneten Umstand: dass kritische Töne gegenüber Israel bei uns tatsächlich unter einem Tabu stehen. Natürlich kein offiziell ausgesprochenes Tabu – das wäre noch schöner –, sondern ein subkutanes mit eminenten Berufs- und Imagefolgen für diejenigen, die sich nicht daran halten.

Fazit: ein wesentlicher Grund für die Heftigkeit der Antisemitismus-Debatte liegt an der Reduzierung der Problematik auf die schmalbrüstige Kritik an Israel. Die ganze Breite und Tiefe der Wurzeln des deutsch-jüdischen Streits werden systematisch ausgeklammert. Es gibt keinen Dialog zwischen Juden und Deutschen. Man prügelt aufeinander ein.

Die beiden beteiligten Religionen werden vollständig verschont. Das Thema wird nur gelegentlich und monolithisch erörtert, wenn in Nahost erneut ein Krieg oder der unsägliche Ausbau der illegalen Siedlungen bevorstehen.

Wer mit Wenigem zufrieden ist, könnte sagen: immerhin mal der Versuch einer öffentlichen Auseinandersetzung. Sofern aber keine weiteren Gespräche erfolgen, die tiefer graben, müsste man bilanzieren: ein Gespräch ist kein Gespräch.