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Sonntag, 05. August 2012 – Sinngebung des Sinnlosen

Hello, Freunde der Aufklärung,

der jüdische Theatermacher Tuvia Tenenborn, Sohn eines Rabbiners, reiste monatelang für ein Buchprojekt durch Deutschland, das er als düsteren Ort voller Nazis und Antisemiten erlebte. „Alles Nazis over there.“ Aus juristischen Gründen wollte der Rowohlt-Verlag das Buch nicht veröffentlichen.

Es gab zwei Gutachten. In dem einen heißt es, Tenenborns Text sei „unverhältnismäßig verletzend, unseriös“ und schade dem Anliegen, den allgegenwärtigen deutschen Antisemitismus aufzuzeigen. Die Rede ist von einem „jüdischen Hysteriker“.

Das zweite Gutachten bemängelt die „willkürlich zusammengestellte Sammlung subjektiver Eindrücke“, den „gefühlten Antisemitismus“ und kommt zum Ergebnis, der Autor sei „weder witzig noch erhellend, sondern hämisch und sarkastisch“.

Tenenborns Fazit seiner Rundreise: „Dieses Land hat sich seit Hitlers Herrschaft nicht geändert. Ich hasse die Deutschen. Hasse sie, ihre großen Masken, ihre endlosen Diskussionen, ihre ständige Predigerei, ihren impliziten oder expliziten Judenhass, ihre Rückgratlosigkeit, ihre exakte Art, ihre exakten Lügen, ihre Starrsinnigkeit, ihren versteckten Rassismus, ihr ständiges Bedürfnis, geliebt und gelobt zu werden, und ihre Selbstgerechtigkeit.“

Am Ende, so die SZ, verlasse der Autor das Land mit „gemischten“ Gefühlen. Gemischt – oder eindeutig hasserfüllt? Würde ein Deutscher auf diese Art über Muslime reden, könnte ihm

nicht mal Sarrazin das Wasser reichen. Würde er in derselben Art über Juden reden, könnte er gleich in die Tundra auswandern.

Bei solchen Hassorgien müsste selbst Broder bleich werden, der Deutschland aus tief verborgener Hassliebe prügelt.

Suhrkamp veröffentlicht das Buch.    (Malte Herwig in der SZ über Tuvia Tenenborn)

Wenn Deutschland eine Religion wäre, müsste man von Blasphemie reden. Da Deutschland nur ein weltlich Volk ist, könnte antideutsche Volksverhetzung vorliegen. Wäre dieses Buch repräsentativ für die Befindlichkeit der israelischen Gesellschaft, müsste man sagen, dass von einer Freundschaft auf gleicher Augenhöhe keine Rede sein kann.

Ein israelischer Jude darf Deutschland zu einem Nazistaat erklären, als habe sich seit 70 Jahren nichts getan. Er darf mit Deutschland ein Problem haben, wirft aber den Deutschen vor, mit Juden hätten sie ein Problem. Beruhen bilaterale Probleme nicht grundsätzlich auf Gegenseitigkeit?

Versteht sich, dass es keine Kommentare zu diesem Buch gab. Die übergroße deutsche Schuld schweigt und schluckt. Mit welchen Spätfolgen, wird sich erweisen. Psychohygienisch kann das Schweigen nicht sein. Sollte das Buch „ehrlich“ aussprechen, was in der israelischen Gesellschaft rumorte, sollte man nicht mehr von Freundschaft, sondern von einem sado-masochistischen Zweckbündnis sprechen.

Der Zweck bestünde darin, auf deutscher Seite die Schuldgefühle zu ertragen, um sie durch vorbildliches Scham- und Reueverhalten zu minimieren. Auf jüdischer Seite, dieses Schuldreduktionsprogramm durch Hochhalten einer zeitlos-unverjährbaren Schuld zu vereiteln.

Die jüdische Seite ist ehrlicher. Sie zeigt offen ihren Hass, vielleicht in der provokativen Absicht, den Verpanzerten eine „menschliche und authentische“ Gefühlsreaktion zu entlocken. Bösartige würden sagen, den Antisemitismus der Deutschen dadurch zu beweisen, dass man ihn durch genau dosierte Giftspritzen stets reaktiviert – oder neu erzeugt.

Die reuige Vorbildlichkeitspose der Deutschen scheint die Juden auf die Palme zu bringen. Offenbar würden sie das Geständnis vorziehen: Ja, wir Deutschen hassen euch Juden von Ewigkeit zu Ewigkeit. War es Gott, war es der Teufel, der unverbrüchliche Feindschaft zwischen euch und uns setzte?

Die Deutschen scheinen sich in Ataraxie zu gefallen: lasst die Juden sich bis zur Weißglut erregen, wir bleiben wohltemperiert philosemitisch. Wie‘s in unserem Innern aussieht, geht niemand was an. Vielleicht meint Tenenborn diese Haltung der Rückgratlosigkeit, Maskenhaftigkeit und Starrsinnigkeit der Deutschen, die er unerträglich findet.

Das Buch wäre nicht nur ein Schlag ins Gesicht der empirisch festgestellten 20% offizieller Antisemiten, sondern ins Gesicht der vorbildlich geläuterten Philosemiten – die sich nicht zu Worte melden. Wie immer fühlen sie sich nicht angesprochen oder halten das Buch für einen bedauerlichen, aber nachvollziehbaren Ausrutscher eines hitzigen jungen Mannes.

Was aber meint der Autor mit endlosen Diskussionen, mit der ständigen Predigerei der Deutschen? In der Romantik gab es das unendliche Gespräch, in den 68ern endlose Diskussionen. Seitdem sind beide unauffindbar ausgestorben. Niemand debattiert mit niemandem mehr. Es herrscht das kurze effiziente Kommandowort der Ökonomen oder das bedeutungsvolle Austauschen sportlicher Daten und medizinischer Höchstwerte.

Mit Predigerei meint Tenenborn vermutlich die lästige moralisierende Kritik an den israelischen Menschenrechtsverletzungen. Steht hochmütiges Predigen und moralisches Besserwissen den Nachfolgern der Täter zu? „Bei uns in Israel kritisieren wir uns selbst am schärfsten“, ist gewöhnlich die jüdische Reaktion auf die Kritik der Gojim, besonders der deutschen unter ihnen. Gemäß dem Wort, wer sich selbst richtet, wird nicht gerichtet werden.

Verwunderlich, dass ausgerechnet ein debattierfreudiger Jude – der sonst stolz ist auf das Wort: zwei Juden, drei Meinungen – den Deutschen das Palavern verübelt, das es hierzulande gar nicht mehr gibt. Sollte der Autor – Gott vergib – etwa den berühmten Selbsthass der Juden auf die Deutschen projiziert haben?

Kann es sein, dass die expressiven Anklagen gegen die Deutschen die untergründigen Anklagen des jungen Mannes gegen seine eigenen Landesleute sind? Was bedeuten würde, Deutsche und Juden müssten sich ziemlich ähnlich sein?

Vermutlich wäre das eine Riesenkränkung für Israelis, die sich, nehmt alles in allem, schuldlos fühlen. Zudem wäre es eine angemaßte Selbsterhöhung der Nachkommen der Täter. Täter und Opfer müssen bis ans Ende der Tage wesensmäßig geschieden sein. Da muss die Jüdin Anna Freud daneben gegriffen haben, als sie von der Identität des Opfers mit dem Aggressor sprach.

Doch halt. Fühlen sich Juden wirklich schuldlos? Bei Theodor Lessing lesen wir das Gegenteil. Das jüdische Volk, schreibt er in seinem Werk „Der jüdische Selbsthass“, sei das erste, ja vielleicht das einzige, „welches die Schuld am Weltgeschehen einzig in sich selber gesucht hat.“ Hat es gefunden, was es suchte?

Wie kommt ein Volk dazu, die ganze Schuld des Weltgeschehens auf seine schmalen Schultern zu nehmen? War das nicht die Leistung des Christus, der stellvertretend für alle Schuld der Welt starb? Ist das die geheime Rivalität zwischen Christen und Juden? Wer ist fähiger, die Schuld der Welt zu tragen: die Kinder Israels – oder der revoltierende Sohn des Zimmermanns, der sein Volk erneuern wollte und bei den Gojim als Messias landete?

Doch zu welchem Zweck? Um den Rest der Welt zu ent-schulden? Von welcher Schuld? Von einer göttlich verhängten Schuld, von der die Welt gar nichts weiß? Könnten die Völker nicht sagen, ihr befreit uns von einer Schuld, die wir gar nicht haben und die ihr uns einreden wollt? Kann es sein, dass dieses Be-schulden und Ent-schulden ganz allein ein jüdisch-christliches Problem ist?

Wäre es nicht besser, jeder Mensch, jede Familie, jeder Clan und jedes Volk nähme die persönliche Schuld auf die eigene Schulter? Auch Schuld ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Wer sich ständig Schuld zuspricht, kann vor Schuld bald nicht mehr aus den Augen schauen. Schuld vor Menschen ist zudem keine Schuld vor Gott.

Wäre es nicht humaner, wir würden unsere Schuld unter uns ausmachen und uns selbst vergeben, als einen ominösen Mittler einzuschalten, der als Mediator denkbar ungeeignet ist, weil er allzu gern die Rolle des Heilsdiktators spielt?

Nach Lessing ist die Urfrage der Juden: warum liebt man uns nicht? Das ist auch die Urfrage der Deutschen und der Amerikaner, womit wir das sado-masochistische Paar zu einem sado-masochistischen Tripelkonzert erweitert hätten.

Die Amerikaner antworten, weil wir in Gottes eigenem Land reich und mächtig sind und die Welt uns beneidet. Die Deutschen antworten, weil wir das auserwählte Volk sind, an unserem Wesen soll die Welt genesen. Sagen die Juden nicht dasselbe: weil wir das auserwählte Volk sind?

Unklar ist, ob Juden politisch auch der Meinung sind, an ihrem Wesen solle die Welt genesen? Oder meint Altes Testament > Jesaja 42,6 f / http://www.way2god.org/de/bibel/jesaja/42/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/jesaja/42/“>Jesaja genau dies? „Ich, der Herr, habe dich in Treuen berufen, und bei der Hand gefasst, ich habe dich gebildet und zum Bundesmittler für das Menschengeschlecht, zum Licht der Völker gemacht, blinde Augen aufzutun, Gebundene herauszuführen aus dem Gefängnis, und die in Finsternis sitzen, aus dem Kerker.“

Mussten die Israeliten zu diesem Zweck in die Diaspora? „Ich habe sie unter die Völker zerstreut, doch in der Ferne werden sie meiner gedenken, werden sie ihre Kinder aufziehen und heimkehren.“ ( Altes Testament > Sacharja 10,9 / http://www.way2god.org/de/bibel/sacharja/10/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/sacharja/10/“>Sach. 10,9)

Ist das ein weltpolitischer Auftrag? Ist das der subkutane Auftrag des jungen Staates Israel, der äußerlich säkular, aber im seelischen Urgrund von diesen gewaltigen Worten geprägt ist?

Wenn alle drei Staaten denselben Erwähltheitsstatus reklamieren, muss da nicht geklärt werden, wer das wahre auserwählte Volk ist und wer die Plagiatoren sind? Da liegt der Verdacht nahe, dass die Deutschen im 1000-jährigen Reich den Titel endgültig okkupieren wollten, indem sie die lästigen Originale aus dem Weg räumten.

Lessings Logik lässt zu wünschen übrig, wenn er den Hass der Welt auf das jüdische Volk dadurch erklärt, dass letzteres alle Schuld am Weltgeschehen in sich sucht. Müsste dann nicht alle Welt dem jüdischen Volk für seine Schuldentsorgung dankbar sein?

Oder müssen wir komplizierter denken: Erlösern muss man zwar dankbar sein, doch ihren nachträglichen Rechnungen sieht man mit Misstrauen entgegen? Welchen Rechnungen? Dass man für immer in der Schuld der Schuldenträger steht und ihnen ewig dankbar sein, ja sie sogar lieben muss – obgleich erzwungene Liebe nicht das Feinste ist, was man sich vorstellen kann. Führt erpresste Liebe nicht zu Hass und Ablehnung?

Dieses Schuldbekenntnis des jüdischen Volkes, so Lessing, sei auch der Schlüssel zur „Pathologik“ der jüdischen Volksseele, die eine fast 3000 Jahre alte Leidensgeschichte hervorgetrieben hätte. Dass Juden ein pathologisches Volk sind, davon hört man heute nichts. Liest man etwa eine Geschichte des Antisemitismus aus jüdischer Hand, sind die Pathologen immer die anderen, natürlich an erster Stelle die Deutschen.

Hat hier der Holocaust einen Paradigmenwechsel bewirkt, dass ab diesem Schreckensdrama die Juden nie mehr unschuldig-schuldig sein wollten? In der Tat, die jungen Zionisten, die Sabres, die aus aller Welt nach Israel strömenden Juden wollten nach Kriegsende nie mehr Opfer sein, die die Schuld der Welt freiwillig auf sich nehmen.

Nur so ist vermutlich die rüde Politik des jungen Staates zu verstehen. Bevor man uns eine verpasst, schlagen wir vorsichtshalber selbst zu. Folgen wir Lessings religiöser Psychologie, würden moderne Israelis sich dadurch schuldig machen, dass sie als Täter nicht mehr in der Lage wären, schuldlos alle Schuld der Welt auf sich zu nehmen.

Das neue Paradigma könnte aber auch ein Rückfall in ein uraltes religiös bedingtes Zelotentum sein. Im Alten Testament verpflichtet Jahwe sein Volk nicht unbedingt zu allesduldendem Pazifismus. Von der Ethik des Alten Testaments ist in diesen Zusammenhängen erstaunlich wenig die Rede. Religionskritische Stimmen aus Israel kritisieren zwar die konkreten Taten der Ultras, nie aber ihren dogmatischen Hintergrund. So gut wie nie wird die Frage gestellt: welchem Kanon folgen die Extremisten?

Die Juden berufen sich gern auf die pazifistische Vergangenheit ihrer Diasporazeiten und wundern sich, wenn ein Jude seinen Nachbarn tötet, dies sei ein untypisches jüdisches Verhalten. Das mag so sein, ein Wunder aber ist es nicht unbedingt. Mitten unter allen Völkern als „Gäste“ zu leben, wäre ohne pragmatische Friedfertigkeit undenkbar gewesen.

Die von Lessing konstatierte Schuldsüchtigkeit des jüdischen Volkes scheint nach dem Krieg ins pure Gegenteil gekippt zu sein. Die modernen Juden lehnen die geringste psychologische Verstrickung in die hasserfüllten deutsch-jüdischen Beziehungen – die sie nicht Ursache, sondern Schuld nennen – vollständig ab.

Die These, der christlich erzogene Hitler könnte in seinen ruchlosen Taten vom jüdisch-christlichen Geist animiert worden sein, wird mit Empörung zurückgewiesen. Dann wären die Juden nämlich an ihrem Schicksal selber schuld, wird behauptet. Diese Behauptung ist bevormundend und anmaßend. Wie alle Völker haben die Deutschen vor der eigenen Türe zu kehren und ihre historische Schuld ohne Einschränkung zu übernehmen.

Zudem: welche Juden? Sind alle Juden in Vergangenheit und Gegenwart eine monolithische Masse? Fromme und Nichtfromme, zionistische Atheisten und säkulare Demokraten – alle müssen identisch sein mit archaischen Verfassern heiliger Schriften?

Kann es sein, dass die Deutschen erwachsene Menschen waren, die selbst schuldfähig sind und sich ihre Schuld von niemandem abnehmen lassen dürfen?

Das Schuldproblem wird derart maßlos überdehnt, dass jede Kritik an unheilvollen Elementen der beiden Testamente in eins gesetzt wird mit ungebremstem Judenhass.

Sonst heißt es, wer die Juden sagt, ist antisemitisch, doch hier soll es eine absurde Sippenhaftung aller Juden bis zurück zu Adam und Eva geben. Sinnvoll ist dieses doppelstandardige Verhalten nicht, aber wirksam. So kann jede Religionskritik am Christentum mit der Aussage verhindert werden, auch das christliche Dogma sei nur ein Ableger der jüdischen Glaubenslehre.

Dasselbe geschieht mittlerweile mit der muslimischen Lehre. Wer eine Erlöserreligion angreift, kriegt es mit allen dreien zu tun. Der Holzhammer der Antisemitismus-Anklage soll jede Religionskritik im Keim ersticken.

Von daher ist auch der pauschale Vorwurf zu verstehen, dass die religionskritischen Aufklärer durchweg Antisemiten gewesen seien. Voltaires Aussagen sind von hemmungsloser Angriffswut, gleichwohl darf man nicht vergessen, dass er Christen und Mohammedaner mit ähnlich expressiven Worten traktierte.

Vor allem wird unter den Tisch gekehrt, dass es Aufklärer waren, denen Juden und diffamierte Minderheiten ihre Emanzipation verdankten. Fairerweise müsste man sagen: Voltaire hatte Hassgefühle auf die gesamte biblische Tradition. Doch er sorgte mit Leidenschaft dafür, dass in den folgenden Epochen die Prinzipien Toleranz und Demokratie sich durchsetzen konnten.

Nicht auf dem Boden einer alleinseligmachenden Offenbarungsreligion werden die Völker der Welt zusammenkommen, sondern nur auf dem Boden einer allgemeinen Vernunft, wo jeder Mensch die gleichen Rechte besitzt.

Aus der Therapie kennt man die Tatsache, dass ungehemmtes Hinausbrüllen feindlicher Gefühle feindselige Taten verhindern kann. Die NS-Bewegung war stolz darauf, ihre schrecklichen Mordtaten als gefühllose Moralroboter zu exekutieren. Hätten die Schergen ihre unterdrückten Menschenfeindlichkeiten „herausgebrüllt“, wären sie möglicherweise nicht zu Massenkillern geworden.

Wie konnte das jüdische Volk mit der riesigen Schuld der Welt fertig werden? Nach Lessing nur mit dem Glauben, „dass das Schicksal mit ihm eine besondere Absicht habe. Wen Gott liebt, den züchtigt er. Mit dieser Auffassung der Leiden als einer Strafe ist dann freilich schon der Ansatz zu dem Phänomen „Selbsthass“ gegeben.“

Merkwürdig, Broder beruft sich beim jüdischen Selbsthass stets auf Lessing, doch dessen Verankerung des pathologischen Gefühls im Alten Testament erwähnt er nie. Auch Lessing nennt nicht den Namen des heiligen Buches. Ist es auch säkularen Juden verboten, das Buch der Bücher zu kritisieren?

Im Übrigen reduziert Broder den Selbsthass auf israelkritische Juden, womit er sagen will, man müsse wohl pathologisch sein, wenn man als Jude sein neues Vaterland schnöde abmeiert.

Bei glücklichen und siegreichen Völkern sei es ganz anders zugegangen, so Lessing. Sie hatten keinen Anlass, sich das gesunde Lebensgefühl selbstquälerisch zu gefährden. Wenn sie sich fragten, warum das Unglück sie getroffen habe, antworteten sie ganz selbstverständlich, dass es Völker wie die Juden gibt, die das Unglück zu bringen pflegten. Die gesunden Völker sagten also genau dasselbe wie die selbstquälerischen Kinder Israels: die Juden sagen doch selbst, dass sie Unglück bringen, also wird’s wahr sein.

Damals sei das antike Wort vom jüdischen Hass auf das Menschengeschlecht (odium generis humani) entstanden. Heute gilt dieses Wort als Urwort des antiken Antisemitismus, das sich bis in die Moderne fortgepflanzt hat.

Lessing macht den – heute völlig unmöglichen – Versuch, das Phänomen des Antisemitismus historisch herzuleiten und zu verstehen, indem er sich auch auf jüdische Pathologien bezieht. Hinter dem Antisemitismus stehe „nicht allein der böse Wille, der nationale Egoismus, oder der Neid und Hass des völkischen Wettbewerbs. Es steht ein Gesetz dahinter. Ein Gesetz der „Sinngebung des Sinnlosen“. Und dieses Geschichtsgesetz steigt aus einer letzten Tiefe.“

Der Geschichte kann Lessing keinen Sinn entnehmen, die Heilsgeschichte ist für ihn vorbei.

Wenn es keinen religiösen Sinn mehr gibt, könnte es ja einen menschlichen Sinn geben. Den Sinn nämlich, den wir selbst unserer Geschichte aufprägen wollen: die friedliche Einheit der Menschheit herzustellen.

Lessings Fazit ist, dass alle Völker, die glücklichen wie die unglücklichen „in sich selber hinabsteigen“, ihr eigenes Verschulden bekennen und nicht die eigene Schuld mit der Schuld der anderen erklären sollten. Mit dieser Erkenntnis hätte Lessing heute alle westlichen Nationen gegen sich.

Die Deutschen haben bislang nur Alibi-Schuld bearbeitet, die christlichen Wurzeln ihres messianischen Reiches haben sie noch nicht mal angerührt und mausern sich bereits wieder zu einem Staat christlicher Identität.

Amerikaner, Engländer, Franzosen, Spanier und Italiener denken nicht daran, ihren Anteil an den Verwüstungen in der ganzen Welt, die Ermordung und Versklavung vieler „heidnischer“ Völker anzuerkennen und zuzugeben.

Auch die Israelis weigern sich, ihre unfriedfertige Politik gegen schwächere Nachbarvölker zu benennen, aus dem Ungeist heiliger Schriften abzuleiten und zu verstehen.

Die humane Sinngebung des Sinnlosen wird nicht durch göttliche Erleuchtungen geschehen, sondern durch die verachtete menschliche Vernunft.