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Sonntag, 03. März 2013 – Das Böse, das gut ist

Hello, Freunde der ZEIT,

die ZEIT ist eine freundliche ältere Dame und mag keine überreizten Debatten. Schnell ist sie zur Stelle und entspannt die verhärteten Fronten. Der Kapitalismus wird immer mehr frontal angegriffen. Dabei ist er das erfolgreichste Wirtschaftssystem aller Zeiten und wird seine Krisen mit Sicherheit überwinden. Das ist ja das Geheimnis seines Erfolgs, dass er durch Krisen immer stärker wird.

„Gewiss, die gesellschaftlichen Verwerfungen durch den finanzmarktgetriebenen, globalen Kapitalismus kann niemand leugnen, ebenso ihre sozialen Folgekosten. Doch simpler Plot und Fixierung auf die Negativbilanz verstellt das Verständnis für seine ungebrochene Akzeptanz.“

Was ist ein sinnvoller Erfolg? Wenn die ganze Welt in Gütern schwimmt, viele Menschen aber unter die Räder kommen?

Jeder Fortschritt muss bezahlt werden, ist das Credo der abendländischen Entwicklung. Wenn die Kosten die Vorteile überwiegen, kann es keinen nachhaltigen Erfolg geben. Wenn die Kosten in Form der Menschen- und Naturzerstörung jeden Fortschritt gefährden, ist das System krank.

Wie immer geht’s um erstarrte Strukturen, die von der fruchtbaren Zerstörung des Kapitalismus aufgepflügt werden. Wenn es den Menschen einigermaßen gut geht, sind sie selbstzufrieden und müssen zu neunen Ufern aufgescheucht werden. Unterwegs sein ist alles, das Ziel ist nichts. Der Kapitalismus ist ein permanenter

Unruheherd, um die Pilger ins Reich Gottes vorwärts zu peitschen. Stillstand ist Rückschritt, wachsen oder zugrunde gehen. (Alexander Cammann in der ZEIT)

Für den Verfasser gibt’s keine ernsthafte Alternative zum Kapitalismus. Insofern sollte man es mit der Kritik nicht übertreiben. Wenn man den Systembegriff weit nimmt, kann man alle Reformen als Erneuerungsbewegung des Systems verstehen. Selbst einen totalitären Sozialismus könnte man als Abkömmling des Kapitalismus bezeichnen. Nimmt man ihn aber so eng wie möglich, ist es ausgeschlossen, ihn zu verändern, ohne das Gehäuse zu zerbrechen.

In seiner langen Geschichte habe der Kapitalismus immer dazu gelernt. Das wird er auch weiterhin tun. Gewiss, aber ohne seine Grundprinzipien zu verändern?

„Wie stark die kapitalistische Moderne auch ist, verschwinden wird die Kritik an ihr niemals. Sie erhellt den ewigen Schatten, der moralisch auf dem Ganzen liegt. Denn der Erfolg des Kapitalismus beruht bekanntlich nicht nur, aber eben auch auf dem Egoismus zum Nachteil anderer.“ Ist es sicher, dass der Egoismus zum Nachteil anderer der wirkliche Erfolgsfaktor ist?

Bei Adam Smith gibt’s den Egoismus als treibendes Moment der Wirtschaft. Doch die vielen Egoismen werden durch die Unsichtbare Hand gezügelt und zum Gesamterfolg einer Gesellschaft zusammengefügt. Egoismus war das Motiv des Wettbewerbs, mit dem die nachkolonialen Westländer ohne obligate militärische Eingriffe ihre Dominanz in der Weltpolitik verstärken konnten.

Der Westen konnte sich auf naturwissenschaftliche Gesetze berufen, die er entdeckt und am besten in technischen und ökonomischen Fortschritt verwandelt hatte. Insofern war er nur ein Mandatar der Natur und kein böser Ausbeuter.

Dieses Motiv des Übertrumpfens mag damals noch in bestimmter Hinsicht legitim gewesen sein, heute ist vorsätzliches Beschädigen der anderen ein absoluter Verstoß gegen die gleichberechtigte Würde des Einzelnen.

Wer die Fortschritte des Kapitalismus nicht schätzen könne, sollte sich daran erinnern, wie es früher war. Um mit Mandevilles Biebenfabel zu reden: »Wer will, dass eine goldne Zeit / zurückkehrt / sollte nicht vergessen / man musste damals Eicheln fressen.«

Eine typische Milchmädchenrechnung, um den Glanz des Fortschritts nicht zu mindern. Kann es eine goldene Zeit gewesen sein, wenn es jeden Tag nur Eicheln zu fressen gab? Und das Selbstgefühl der Menschen selbst. Wenn sie alle Epochen der Menschheit experimentell überprüfen könnten, für welche Epoche würden sie sich entscheiden?

Sie haben gar keine Wahl. Ihre Freiheit ist der Zwang zum Immerweiter und Immergrößer. Auch Mandevilles Ethik war alles andere als ein bedingungsloser Egoismus. Egoismus war nur ein Instrument, um allgemeinen Wohlstand herbeizuführen. Private Laster sind öffentliche Tugenden. Wie Gott seinen teuflischen Widersacher als Werkzeug benutzt, um eine bequeme und träge Gesellschaft zu motivieren und anzupeitschen, so ist das Böse immer Werkzeug Gottes, um seine geschichtlichen Zwecke voranzubringen.

Goethes Mephisto sprach es aus: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will, und stets das Gute schafft.“ Das Böse ist nicht das Gegenteil des Guten, sondern dessen Instrument. Es kann gar keinen böse-ausschließenden Fortschritt geben. Die Menschheit fühlt sich nicht fähig, das Böse zu überwinden. Also muss es als Instrument Gottes zur Schaffung des Guten idealisiert werden.

Das ist der Grund, warum wir nur einen materiellen Fortschritt haben und keinen ethischen. Niemand sagt, überwindet den bösen Egoismus, um den Kapitalismus zu überwinden. Das Böse ist gerade das Hauptstimulans, um den unaufhörlichen Fortschritt anzukurbeln.

Wer ein solches Böses braucht, um das Gute zu schaffen, darf sich nicht wundern, dass das Böse in der Gesellschaft unausrottbar bleibt.