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Tagesmail

Sonntag, 01. Januar 2012 – Mitte und Mittelmäßigkeit

Hello, Freunde des Rauschs,

berauscht ins neue Jahr, die Zeiten sind unerträglich. Ein Räuschlein am Tag, ein Räuschlein zur Nacht? Oder das Sein als solches nicht mehr zur Sorge, sondern zum planetarischen Delirium?

Wie nennt man die, die nicht berauscht sind? Die Nüchternen? Nüchternheit ist kalter Rausch, wenn die Zeiten selbst besoffen sind, die uns mit sich treiben wie in reißenden Gewässern, kein Halt, kein Geländer, kein Überblick.

ES geschieht mit uns, ICH ist machtlos, versteckt sich hinter vielen Ichen, die es nicht gewesen sein wollen. ÜBER-ICH ist ES geworden, segnet alles, indem es alles verflucht. Die Giganten des Seins sind Getriebene, zur Zukunft verbannt, die sich in Nichts auflöst, wenn sie sich nähert; Gegenwart zerbricht uns unter den Füßen; verflucht die Vergangenheit, die nicht vergehen will.

Wissen wir, was wir tun? Können wir innehalten? Haben wir den Überblick? Was heißt, sich im Denken orientieren, fragte der Königsberger: zu spät. Wenn alles flüssig wird, gehen feste Orientierungen verloren. Ex oriente lux, aus dem Osten das Licht? Aus welchem Osten? Längst ist der Osten verwestlicht. Ist Vernunft eine geographische Ortsangabe? Gibt es privilegierte Himmelsrichtungen?

Wie harmlos und idyllisch bei Platon die Rolle der Vernunft als Wagenlenkerin, zwei dampfende Rosse vorgespannt. 2000 Jahre nach ihm klingt es bei Goethe schon wie auf dem Nürburgring. Viele Pferdestärken machen die Männlein am Steuer zu Marionetten. „Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksal leichtem Wagen durch; und

uns bleibt nichts, als mutig gefasst die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine her, vom Sturze da, die Räder wegzulenken.“ (Egmont)

Sollte es die Zeit sein, die da mit uns rast, wären wir verloren. Wo wären die Zügel, mit denen wir sie an die Kandare nehmen könnten? Wenn Zeit uns nicht mehr trägt, hat Raum uns bereits verlassen. Beide sind siamesische Zwillinge.

Wenn objektiv bedeutet, wir halten uns fest am Objekt, sind Raum und Zeit seit Kant und Goethe keine verlässlichen Gebilde mehr. Bei jenem sind sie subjektive Prägungen des objektiven Dings, bei diesem ist Zeit selbst rasend geworden und schleift uns hinterher, die wir noch glauben, die Zügel in Händen zu halten.

War es nicht schon immer ein Fall für den Psychiater, den Menschen als Stifter von Raum und Zeit zu sehen? Ohne unsere naturprägenden Fähigkeiten wäre Realität – das seltsame Ding an sich – ohne Raum und Zeit? Es ist nicht anders: deutsche Pietisten- und Pfarrersöhne im Glaubenswahn haben ihre Gottebenbildlichkeit in Philosophie verwandelt. Wie viele gelehrte Plagiatoren haben religiösen Aberwitz-in-Denkerpose als germanischen Tiefsinn verbrämt?

Wenn Zeit und Raum nicht mehr der Natur gehören, sondern gottaufgeblasenen Subjekten, die sie subjektiv der Natur im Leasingverfahren überlassen, dann ist Mutter Natur von unseren inzestuösen Infiltrierungen abhängig – und nicht wir von ihren überreichen Gaben.

Die Natur braucht uns nicht, wir aber die Natur? Da muss jemand den deutschen Idealismus übersehen haben, den legitimen Erben des Christentums in der Toga athenischer Denker. Die Pose ist philosophisch, der Inhalt ein Rausch aus dem Jenseits.

Wäre deutsche Aufklärung wirklich zur Vernunft gekommen, hätte man Kant ins Irrenhaus einliefern müssen. Ohnehin hatte er die Grenzen der bloßen Vernunft so weit gedehnt, dass fast das ganze Neue Testament darin Platz hatte.

Bloße Vernunft ist nackte Vernunft, die konnte so reizend-verführerisch nicht in Raum und Zeit stehen bleiben. Die musste verhüllt und zwangsbekleidet werden. Seit Eva ist das Nackte das Verführerische ins Verderben, also schnell die schwarzen Soutanen und Talare her; philosophische Seminare sind keine Filialen der Freikörperkultur.

Die nackte Vernunft wurde mit Religion verhüllt, wie der Erlöser zum Feigenblatt der Sünder wurde. Aufklärung der Aufklärung nannten sie es, die Kirchenväterchen der Moderne. Damit war’s um die Aufklärung in Deutschland geschehen.

Kant war noch zögerlich mit der Entwertung der Natur, immerhin ließ er ihren Kern als Ding an sich bestehen. Natur, du schnödes Ding, such dir einen Menschensinn; allein kannst du nicht bestehen. Du brauchst den Menschen, der Mensch braucht dich nicht. Wenn du krepierst – dafür wird der Mensch sorgen –, gibt’s eine neue und bessere.

War der Mensch bei Kant noch apriorischer Creator mit angezogenen Bremsen, wird er bei Hegel zu einem Gott an sich, der das Ding an sich fressen und vernichten muss, um es ex nihilo aus Geist wiederauferstehen zu lassen. „Über diesem Tode der Natur geht eine schönere Natur, der Geist, hervor.“ (Wissenschaft der Logik)

Geist ist Tod und Auferstehung der Natur zu einem völlig neuen Gebilde am Ende der Zeiten. Natur, von christlichen Denkern zum Ding verdinglicht, wird von denselben durch Tod am Kreuz, identisch mit dem Tod durch Kultur und Zivilisation, zur geistigen Natur transsubstantiiert, wie Brot und Wein durch priesterliche Magie in Leib und Blut Jesu verwandelt werden.

Der junge Schelling, Antipode seines Freundes Hegel, stellte dieser naturfeindlichen Philosophie seine eigene gegenüber, die dem Geist die selbständige Natur vorordnete. Vergebens, je älter er wurde, je mehr regredierte er zur bewährten Omnipotenz des menschlich-gottebenbildlichen Geistes. Seine frühe Philosophie wurde von Marx als aufrichtiger Jugendgedanke gerühmt, dann verschwand sie in der Versenkung.

Kein Ökologe von heute kennt den Namen Schelling. Im Rachen der deutschen Philosophie ging Natur total-totalitär verschütt. Auf diesem Fundament der entbeinten und skelettierten Natur konnte der Siegeszug der Technik und des Fortschritts Triumphe feiern.

Wenn Natur aus dem Zentrum des Geschehens rückt und der gottähnliche Mensch ihre Position einnimmt, geht die Mitte des Universums verloren. Nicht weil ein nichtexistenter Gott verschwände, sondern der Schoss aller Dinge, die Natur, aus dem Mittelpunkt entfernt wird, droht Verlust der kosmologischen Mitte. Ohne zentralen Schnittpunkt kann der Mensch sich nicht mehr orientieren, sein Kompass verliert das Koordinatensystem.

Die Verrückung begann mit der Erfindung eines anmaßenden Gottes, der sich zum selbsternannten Schöpfer aller Dinge erklärte. Ein illusionäres Wesen vertrieb die reale Natur und gab sie frei zum Abrieb durch einen naturzerstörenden Geist. Geist wurde zum Widersacher der Natur.

Die einst naturverbundene Menschheit gewöhnte sich an einen allmächtigen Gott als Zentrum ihres Lebens und Webens. Als dieses Zentrum durch den Tod Gottes verloren ging, verlor der moderne Mensch seinen letzten – imaginären – Haltepunkt und irrte vater- und mutterlos im Universum herum:

„Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben oder Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“ (Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 125)

Wenn Natur verrückt worden ist, kann weder Gott noch Mensch ihre Position übernehmen. Der Mensch selbst wird verrückt oder ex-zentrisch. Er sucht seine Mitte, findet und findet sie nicht.

Seine existentielle Verrücktheit erträgt er nicht und sucht sich elementare Betäubungen, um seinen Verlust der Mitte auszugleichen. Er flieht in den Rausch, in den Exzess.

Die Geschichte des Abendlandes ist die Geschichte konkurrierender Räusche. Solange das Opium fürs Volk die Massen benebelte, konnten sie ruhig und apathisch gehalten werden. Seitdem Gott tot ist, sind die auf Entzug stehenden Exgläubigen auf Ersatzdrogen angewiesen.

War schon die Gottesdroge virtueller Ersatz für die Natur, werden alle weiteren Ersatzdrogen für den toten Gott immer wirkungsloser und minderwertiger. Natur bleibt das einzige Original, das von nichts und niemandem ersetzt werden kann. Dann kommen in absteigender Form: Gott, Geist, Kultur, Technik und Naturwissenschaft, Fortschritt, Geschichte, das Neue, die Zukunft. Jedes Plagiat erzeugt neue Plagiate, bis die Wirkung der Droge aufgebraucht ist. Bleiben Workaholic, Konsum- und Reichtumsdroge. Auch deren Wirkungen verblassen in Zeiten der Finanzkrisen. Wenn nichts mehr hilft, helfen zeitlos-biologische Drogen wie Alkohol, Rauchen und Rauschgift die unerträgliche Realität bestehen. Oder nicht.

Die TAZ hat den Braten gerochen und sich in ihrer letzten Ausgabe des verflossenen Jahres um den Rausch verdient gemacht. Bewusstseinserweiternder Rausch werde von den Herrschenden nicht gewollt, weil er die Leute zum Selbstdenken und zur kapitalistischen Nichtverfügbarkeit verleiten würde. Alkohol macht dumpf und untertänig, also wird Alkohol erlaubt und gefördert. Das Fazit des Rauschexperten: „Alles ist in Ordnung. Es wird kein Weltuntergang kommen. Es wird nichts passieren, außer ihr tut es.“ Klingt wie eine Beruhigungsdroge.

Das westliche Drogenverbot zerstöre die südamerikanischen Demokratien, es muss aufgehoben werden.

Frauen nehmen weniger Drogen. Sind sie der Natur durch Gebären und Kindererziehen näher und realitätsbewusster? Wenn alle bekifft und besoffen sind, muss es einige geben, die den Kopf oben behalten.

Wenn alle exzentrisch sind, darf Literatur nicht hintanstehen. Ist sie nicht in besonderer Weise auf Exzess und Ekstase angewiesen, um ihre kreativen Kräfte ex nihilo zu aktivieren? Kreative stehen dem Creator an Ebenbildlichkeit am nächsten.

Der Schriftsteller Matthias Politycki greift den Willen zum Mittelmaß an, der die heutige Kultur terrorisiere. Für Naturdenker Aristoteles war die Fähigkeit zur Mitte identisch mit Wahrheit und Tugend. Die vom Geist der unbegrenzten Maßlosigkeit beherrschte Moderne verachtet Mitte als Mittelmaß.

Das Extraordinäre hat seinen Maßstab in sich, es unterwirft sich keinen zeitlosen und allgemeinen Kriterien. Jeder will als Individuum das einzige Exemplar einer einzigartigen Gattung sein. Individuum est ineffabile. Das Unvergleichliche gilt nur unter Menschen, das Genie misst sich einzig an Gott. Es ist Gott.

Da die gesamte religiös dominierte Kultur aus dem Ruder gelaufen, ekstatisch und exzentrisch ist, muss der Geniale noch eine Schippe drauflegen. Je unvergleichlicher er wird, je mehr bleibt er Mittelmaß in einer einmalig unvergleichlichen, exzentrischen Kultur. Einer Kultur ohne menschliches Maß und natürliche Mitte.

Je uniformer und ordinärer die Menschheit wird, je extraordinärer beschreibt sie sich. „Sie sind voll süßen Weines“, sagten heidnische Beobachter über die ersten geisterfüllten Christen, die alle Sprachen dieser Welt lallten. Warum nur verstand sie niemand?