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Selbstbestimmung

Hello, Freunde der Selbstbestimmung,

allmählich geht es ans Eingemachte. Götz Aly ist gegen Selbstbestimmung. Selbstbestimmung – oder Autonomie – ist das Herzstück der Demokratie. Folglich müsste Götz Aly gegen Demokratie sein. Das würde er mit Entrüstung von sich weisen. Denn er ist nicht – noch nicht? – gegen Selbstbestimmung des Einzelnen, sondern gegen die Selbstbestimmung der Völker.

Was ist der Unterschied? Wer für Selbstbestimmung des Einzelnen ist, dürfte gegen Selbstbestimmung der Völker keine grundsätzlichen Einwände haben. Doch Götz Aly hat. Selbstbestimmung der Völker sei als nationalistische Kampfparole entstanden und mitverantwortlich für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Das klingt wie der Satz: an der Kriminalität in einer Demokratie ist die Freiheit schuld.

Auch die jetzige Abspaltung der Krim sei auf der Grundlage der Selbstbestimmung der Völker erfolgt. Nach diesem „können Bewohner einer Region über Unabhängigkeit, Autonomie oder Zugehörigkeit zu einem anderen Staat entscheiden. Als Kollektivrecht gehört es nicht zu den Allgemeinen Menschenrechten, weil es zutiefst vergiftet ist. Immer wieder zertraten Mehrheiten, die sich zum „Volk“ erklärten, unter dem Motto Selbstbestimmung die Rechte von Minderheiten und die das Individuum schützenden unveräußerlichen Grundrechte.“ (Götz Aly in der BLZ)

Wie fahrlässig deutsche Intellektuelle mit Begriffen umgehen, zeigt Aly mit dem Begriff Selbstbestimmungsrecht, der an den Katastrophen des

letzten Jahrhunderts mitschuldig gewesen sein soll. Halten zu Gnaden, Begriffe sind Begriffe sind Begriffe und immer unschuldig. Schuldig sind Menschen, die sich gewisser Begriffe bedienen, um mit ihnen ihre Unmenschlichkeiten zu rechtfertigen.

Eine Trivialität? Für Aly ist Selbstbestimmung identisch mit Hass gegen Fremde. Wenn das so wäre, müsste auch die Selbstbestimmung des Einzelnen ein Tarnbegriff für Fremdenhass sein. Wer sich selbst bestimmen will, beansprucht eigentlich – er sagt es nur nicht – das politische Recht, andere abzulehnen und zu bekämpfen. Selbstbestimmung wäre nichts als eine Lizenz zur Menschenfeindlichkeit. Wer demokratische Selbstbestimmung fordert, will demnach seinen inhumanen Triebregungen einen roten Teppich ausrollen.

Da Völker die Summe vieler Einzelner sind, müsste die Selbstbestimmung des Einzelnen die Selbstbestimmung der Völker nach sich ziehen.

Sollten Menschen und Völker ihre Selbstbestimmung nur zum Hass gegen andere nutzen, müsste man, so Aly, ihnen das Recht auf Selbstbestimmung absprechen. Zur Bestimmung über sich selbst wären sie noch nicht reif. Das war, bis zur Ablehnung der Demokratie durch die Eliten in der Weimarer Zeit, die Meinung der deutschen Bildungsbourgeoisie über den niederen Plebs, der zur Demokratie nicht fähig sei.

Für Kant ist Demokratie ein „Despotism, weil alles da Herr sein will.“ Wenn alles Herr sein will, will niemand gehorchen. Will niemand gehorchen, kann Demokratie für Deutsche keine Staatsform sein. Wenn jeder mit seiner Selbstbestimmung andere nur unterdrücken will, kann Selbstbestimmung nichts für Völker sein.

Alles, was nach Freiheit riecht, überfordert den Menschen in seiner Bosheit, der zur Freiheit nicht fähig ist. Freiheit ist nur ein Vorwand für Menschen, ihre bestialischen Qualitäten zu zeigen. Also müssen Menschen gehorchen, damit sie kein größeres Unheil anrichten. Das gilt für die Freiheit des Einzelnen und müsste auch für die Freiheit der Völker gelten.

Streicht die Selbstbestimmung, der Mensch ist zur Freiheit nicht geboren. Er muss von Klerus und Adel gelenkt werden, damit er sich nicht wie ein wildes Tier gebärdet.

Aly zitiert den amerikanischen Außenminister Lansing, der die Selbstbestimmung der Völker – damals vom amerikanischen Präsidenten Wilson den Völkern als neues Evangelium verkündet – für eine explosive Gefahr hielt:

„Das ganze Wort „Selbstbestimmung“ ist bis zum Rand mit Dynamit geladen. Welch ein Verhängnis, dass dies Wort je geprägt wurde! Welches Elend wird es über die Menschen bringen! Welche Wirkung wird diese Formel zum Beispiel auf die Iren, die Inder, die Ägypter und die Burennationalisten haben? Werden sich nicht die Mohammedaner in Syrien und Palästina und womöglich auch in Marokko und Tripolis darauf berufen? Wie lässt sich dieses Prinzip mit dem Zionismus in Einklang bringen?“

Was ist die von Aly bevorzugte Alternative? Er nennt sie nicht, wie es heute vornehmer Brauch ist. Man ist gegen etwas, wofür man ist, bleibt im Dunklen. Man muss die Logik benutzen, um das Dunkel zu lüften:

Wer nicht nach links will, muss nach rechts – wenn es nur zwei Möglichkeiten gibt. Wer keine Freiheit will, muss Unfreiheit wollen, ob ihm das klar ist oder nicht. Wer Selbstbestimmung der Völker als Gefahr betrachtet, will eine starke Hand über den Völkern, die besser weiß, was den Nationen ziemt als sie selbst.

So weit sind wir wieder gediehen. Wer die Selbstbestimmung der Völker ablehnt, wird die der Einzelnen auch bald ablehnen.

Als Wilson die Selbstbestimmung der Völker proklamierte, brachte er nur Elend über die Völker:

„Lansing befürchtete, die so freiheitlich anmutende Formel werde Völkerhass, Diskriminierung, ja Mord und Totschlag befeuern und viele Volksgruppen anstecken. Der Mann behielt recht. Präsident Woodrow Wilson hatte die Selbstbestimmung der Völker proklamiert, um die Pariser Friedensverhandlungen von 1919/20 zu erleichtern. Diese führten zur Gründung Polens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens, zu zahlreichen Abstimmungen über strittige Gebiete, begleitet von unzähligen Gewaltakten.“

Bei jeder Revolution, die den Völkern Demokratie brachte, gab es zumeist – wenn die verjagten Herren ihrer Entmächtigung nicht zustimmten – auch Aufruhr und Gewalt, bis die Völker gelernt hatten, ihren demokratischen Rechtsregeln friedlich zu folgen.

Jede Freiheit ist gefährlich. Der Mensch kann seine neue Freiheit benutzen, um Gutes zu tun – oder Verwerfliches. Keine Obrigkeit wird ihn prophylaktisch daran hindern, ein Unmensch zu sein. Götz Aly betont nur die schlimmen Folgen der Freiheit, andere Folgen scheint er nicht zu kennen.

Bestimmt ein Volk über sich selbst, hat es zwei Möglichkeiten: es kann mit seinen Nachbarn – die auch das Recht zur Selbstbestimmung haben – einen Krieg führen oder Verhandlungen über die neuen Grenzen führen. Wollte die Krim nur autonom sein, müsste sie die Ukraine mit ihrer neuen Unabhängigkeit nicht schädigen.

In Freiheit können Völker sich besser nützen, als wenn sie an der Kette herrschsüchtiger Despoten hängen. Freiheit ist nicht identisch mit Chaos und Verwüstung, sondern im Gegenteil. Freie Menschen haben ein größeres Selbstbewusstsein als unfreie. Also haben sie die größere innere Freiheit, auch anderen Menschen dieselbe Freiheit zuzugestehen und sie als gleichberechtigte Wesen zu akzeptieren.

Die Verwüstungen der Freiheit resultieren aus der anfänglichen Unfähigkeit, mit Freiheit sinnvoll umzugehen. Primäre, den Despoten abgekämpfte Freiheit, ist zumeist die Entfesselung aller Willensregungen, die lange geknechtet und unterdrückt waren und die neuen Freiheiten in wütendem Nachholbedarf als Berechtigung zu Chaos, Tumult und Gewalt ausagieren müssen. Sind die antiautoritären Wildwuchsregungen gestillt, kann die neue Freiheit zu friedlichem Miteinander reifen.

Diese Möglichkeiten sind bei Aly nicht vorgesehen. Sein Menschenbild ist so schlicht wie das der Konservativen Revolution, die die Weimarer Demokratie bekämpfte. Der Mensch ist eine Bestie, die angepflockt werden muss. Das gilt auch für die Selbstbestimmung der Völker. Hindert die Menschen, dass sie ihre Grenzen selbst bestimmen – die die Geschichte ihnen eingezeichnet hat –, sonst richten sie nur Unheil an.

Dass zur Freiheit der Gebrauch der Vernunft gehört, ist bei Aly nicht vorgesehen. Wer seine Vernunft selbstbestimmt benutzen darf, kann mit seinem Nachbarn vernünftig reden. Er kann sich friedlich mit ihm auseinandersetzen und sinnvolle Kompromisse schließen. Wären Kiew und Moskau Freunde nationaler und demokratischer Selbstbestimmung, hätten sie problemlos mit der Krim Verhandlungen über deren Autonomiestatus führen können, der im Einklang mit dem Willen ihrer Nachbarn hätte sein können.

Die Verachtung der Vernunft scheint heute zur Grundausstattung deutscher Ideologen zu gehören. Was nicht mit dem großen Hammer bestimmt wird, betrachten sie als Gutmenschengesäusel. Mit dieser misanthropen und vernunftfeindlichen Einstellung werden wir es schon noch schaffen, die letzten Reste unserer Demokratie zu atomisieren. Vorsicht vor deutschen Gelehrten, die zuviel über Geschichte wissen. Sie wissen nur das Falsche.

Die deutsche Intellektuellenelite nähert sich immer mehr den Gedanken der Konservativen Revolution, die Hugo von Hofmannsthal 1927 in seiner Rede „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ so in Worte fasste:

„Der Prozess, von dem ich rede, ist nichts anderes als eine konservative Revolution von einem Umfange, wie die europäische Geschichte ihn nicht kennt.“

Der Dichter nennt zwei grundlegende Vorgänge dieser Revolution: das Suchen nach Bindung, welches das Suchen nach Freiheit ablöst, und das Suchen nach Ganzheit, Einheit, welches von allen Zweiteilungen und Teilungen wegstrebt. (Armin Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918 bis 1932)

In einer Anmerkung notiert Mohler:

„Als Synonym für das, was wir „Konservative Revolution“ nennen, wird heut oft – und zwar meist in Polemiken – das Wort Faschismus verwendet.“

Die Ähnlichkeiten zwischen Alys Äußerungen und den Prinzipien der Konservativen Revolution sind besorgniserregend. Wer die Selbstbestimmung der Völker ablehnt, lehnt Freiheit der Völker ab. Wer den Willen der Völker ablehnt, jene Grenzen, die man ihnen einst mit Gewalt auferlegte, in Freiheit neu zu bestimmen, der will die Ganzheit und Einheit der Gewalttraditionen.

Eine nationale Teilung ist wie die Ehescheidung zweier Menschen, die besser auseinandergehen als dass sie ein Leben lang miteinander wüten.

Es gibt zu viele mit Blut gezogene Grenzen in der Welt, als dass die Völker sie erdulden müssten. Wenn die Völker sich zur Freiheit erheben, haben sie das Recht, in selbstbestimmter Vernunft und in Übereinkunft mit den Nachbarn ihre eigenen Grenzen zu ziehen.

Eröffn’ ich Räume vielen Millionen,
Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen …

Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.

Die Neuziehung der Grenzen missachtet das Bedürfnis der Alphanationen, ihre globalen Machtreviere abzusichern – doch die Vorteile lägen auf der Hand. Denn das Claimdenken der großen Nationen unterdrückt die Selbstbestimmung der Völker und sorgt für permanente Spannung und Unzufriedenheit unter den Völkern und wird zur potentiellen Ursache immer neuer Zerwürfnisse und Kriege.

Die Welt muss sich neu sortieren und sich territorial so organisieren, wie die Gruppen, Clans und Nationen es für richtig halten, damit sie sich auf Erden heimisch fühlen.

Woher rühren die endlosen Flüchtlingsströme? Aus der Unfähigkeit, sich im Einvernehmen voneinander zu lösen, alte Feindschaften zu entschärfen und neue Freundschaften zu schließen. Den syrischen Konflikt hätte es nie geben, wenn Assads Gegner und Anhänger die Freiheit gehabt hätten, sich schiedlich-friedlich das Terrain aufzuteilen.

Weil Selbstbestimmung der Menschen aber gegen die Verherrlichung der Macht verstößt, muss das Freiheitsstreben der Menschen mit Hekatomben von Toten, Verletzten und Vertriebenen bezahlt werden. Die Heiligkeit der – einst von den Westmächten willkürlich mit Lineal gezogenen – Grenzen fordert grausame Opfer, ein Ende der Schlächterei ist nicht abzusehen.

Wenn Nationen sich nicht als befriedete Nationen empfinden, sind sie jederzeit entzündbare Sprengsätze, die eines Tages explodieren werden.

Götz Aly stellt die absurde Frage:

„Hinsichtlich der Krim beruft sich die russische Regierung auf ein höchst fragwürdig gewordenes Recht. Was wird sie sagen, wenn eines Tages die Leute der Region Kaliningrad (Königsberg) für den Beitritt zur Europäischen Union stimmen, weil sie die Moskauer Korruption, Ineffizienz, Wurstigkeit und freiheitsfeindliche Bevormundung nicht länger erdulden wollen?“

Offensichtlich kann Aly nicht zwischen Prinzipientreue und machiavellistischer Heuchelei unterscheiden. Sollte Moskau das Selbstbestimmungsrecht der Völker wirklich achten, wird es im Falle Königsberg nicht anders denken als im Falle Krim und den Königsbergern von sich aus die Möglichkeit der Selbstbestimmung anbieten. Wenn Russland den Königsbergern das Selbstbestimmungsrecht verweigern sollte – was niemanden überraschen wird –, zeigt das nur die machiavellistische Doppelrede Putins.

Dasselbe gilt für den Westen. Wer die Selbstbestimmung Kosovos mit Raketen gegen Belgrad verteidigt, kann sie der Krim nicht verweigern. Man komme nicht mit der zynischen Begründung, in Kosovo galt es, einen Völkermord zu verhindern. Muss ein Volk sich seinen Besatzern erst als kollektives Gesamtopfer anbieten, damit es sich das Recht auf eigene Grenzen erkämpfen darf? Das wäre eine christliche Märtyrer-Politik. Wer sich nicht ans Kreuz nageln lässt, hat nicht das Recht zur Auferstehung.

Wie viele Opfer musste Sarajewo vor allen Kameras dieser Welt bringen, bis der Westen ein Einsehen hatte? Die notwendige Verhinderung des Völkermords war eine sekundäre Folge der Verweigerung der nationalen Selbstbestimmung der balkanischen Völker. Hätten Kosovaren, Bosnier und Kroaten das selbstverständliche Recht auf eigene Grenzen gehabt, hätten sie sich nicht abschlachten lassen müssen.

Eine freie Welt wird nicht aus wenigen Machtblöcken bestehen, sondern aus so vielen selbstbestimmten Regionen und föderalen Gruppierungen, wie es eine freie Menschheit in vernünftiger Übereinkunft für richtig hält. Nur selbstbestimmte Völker haben die innere und äußere Freiheit, mit allen anderen in friedlicher Kooperation auszukommen, Handel miteinander zu treiben, voneinander zu lernen und sich ihres Lebens im Wohlwollen ihrer Nachbarn zu erfreuen.

Warum ist der Krim-Konflikt nicht lösbar? Weil die Gesamtstruktur der Welt keine Lösungen anbietet und nicht auf der Selbstbestimmung der Völker beruht, sondern die Altlasten imperialer Kolonisationen und Weltherrschaftsansprüche bis ans Ende der Tage tragen muss.

Alle territorialen Konflikte auf der Welt lassen sich nur lösen, wenn die Völkergemeinschaft friedliche Utopien entwickelt, in deren Rahmen die jetzigen Eiterbeulen ausheilen können. Von solch befriedeten Zukunftsvisionen sind wir weltenweit entfernt.

Wer die Selbstbestimmung der Völker leugnet, ist darwinistischer Parteigänger der Macht und Gewalt.

Warum haben wir den Eindruck, dass die Weltpolitik stagniert, ja, dass wir zurückfallen in das selbstherrliche Denken starrer Machtblöcke, das wir längst überwunden glaubten? Weil wir noch immer an das erbsündige Leben in satanischer Natur glauben und die Lösung unserer Konflikte von einem irrealen Jenseits erwarten.

Also harret und betet: ihr werdet das Paradies schauen, wenn euch Hören und Sehen vergangen sein werden.