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Schwärmerei

Hello, Freunde der Schwärmerei,

deutsche Schwärmer sind wieder unter uns. Nicht mehr als schwindsüchtige romantische Jünglinge, die nicht älter wurden als ihr gekreuzigter Herr und Heiland und spätestens mit 33 Jahren das Zeitliche segnen mussten. Sondern als quicke, weltläufige Edelschreiber, die zielgerichtet dorthin eilen, wo sie sich private Offenbarungserlebnisse erhoffen, mit denen sie all ihre bedrängenden Fragen nach der rechten Moral mit einem Schlag zu beantworten – und alle Einsprüche der Vernunft für immer niederzuschlagen gedenken. Urteilskraft, Nüchternheit, besonnene Politik bleiben auf der Strecke, der Impuls des reinen Herzens regiert absolutistisch. Heute spricht man vom Bauchgefühl, das allergisch wurde gegen das Klügeln und Vernünfteln des Kopfes.

Hans-Ulrich Jörges gehört zum wachsenden Kreis der neuromantischen Schwärmer, die mal schnell nach Slowenien jetten, um sich eine authentische Privatoffenbarung des Elends zu verschaffen. Nun weiß er Bescheid, das Rätsel Europa hat er gelöst. Revelatio locuta, causa finita, die Offenbarung hat gesprochen, die Chose ist beendet:

„Der „Stern“-Journalist Hans-Ulrich Jörges war zu Tränen aufgewühlt von einem frisch beendeten Reportagebesuch in einem Flüchtlingscamp in Slowenien. Die Schutzsuchenden würden dort ihren Status wechseln, vom Flüchtling zum Gefangenen. „Das ist die Vorhölle Europas. Eine Illusion sei die Wertegemeinschaft, die Flüchtlingskrise habe gezeigt, dass die Europäische Union schon fast keine politische Union mehr sei. „Wir erleben im Moment nur nationale Politik. Jeder gegen jeden und fast alle gegen Deutschland“, schimpfte Jörges, für den die Merkel-Flüchtlingspolitik „goldrichtig“ ist.“ (WELT.de)

Kairos ist die rechte Zeit und der rechte Ort, an dem Gott sich dem Auserwählten zu erkennen gibt. Die Philosophie des Journalismus ist Kairos-Theologie. Zwar ist

Gott omnipräsent, doch er offenbart sich nur an auserwählten Orten und in auserwählter Zeit: als die Zeit erfüllet ward.

„Ihr wisset nicht, wann es Zeit ist. Die Zeit ist nahe herbeigekommen. Es kommt die Zeit und ist jetzt schon da. Es gebührt euch nicht, zu wissen Zeit oder Stunde. Schicket euch in die Zeit. Darum richtet nicht vor der Zeit. Dass er euch erhöhe zu seiner Zeit. Es ist Zeit, dass anfange das Gericht. Dass hinfort keine Zeit mehr sein soll. Die Zeit seines Gerichts ist kommen. Die Zeit zu ernten ist gekommen. Sage deinem Bruder Aaron, dass er nicht zu jeder Zeit in das Heiligtum hineingehe. Ein jegliches hat seine Zeit“.

Jede journalistische Recherche beginnt mit dem stereotypen Satz: da machte ich mich auf … quer durch Deutschland, durch Europa, zu den Flüchtlingsströmen, zu den Ureinwohnern im brasilianischen Urwald, zu den Superreichen, den Hartz4-Empfängern, den Rechten in Sachsen, in eine Landkommune, ins Kanzleramt. Für Journalisten gibt es keine abstrakte, zeit- und ortsunabhängige Wahrheit. Alle Wahrheit muss konkret sein.

Konkret heißt zusammengewachsen. Das Ideelle, Abstrakte, Geistige muss mit dem Materiellen, Sinnlichen, empirisch Überprüfbaren zusammengewachsen sein – im Hier und Jetzt. Wer zu rechter Zeit sich am rechten Ort befindet, der allein ist würdig, die authentische Wahrheit mit seinen fünf Sinnen wahrzunehmen.

Der Sensualismus war die notwendige Korrektur einer alles aus dem Nichts beweisenden Theologie oder einer apriorischen Philosophie, die die Welt aus dem gottähnlichen Ich ableitet. Das Wahre muss logisch durchdacht und empirisch überprüfbar sein. Doch den Sensualismus des Überprüfbaren hat der moderne Journalismus – in Reaktionsbildung gegen das Schwafeln aus dem Kopf – zur Allergie gegen das Denken extremisiert und verfälscht.

Sinnliches und Abstraktes müssen verbunden werden, damit ich die Wirklichkeit erkenne. Zufällige Zeugnisse zufälliger Passanten auf der Straße sind – zufällig. Sie haben nur einen Aussagewert über diejenigen, die sich geäußert haben. Einen repräsentativen Überblick über die Stimmung im Dorf, in der Stadt oder im Land habe ich dadurch nicht gewonnen. Erst, wenn ich mir einen quantitativen Überblick und gedankliche Einsicht über das Thema erworben habe, bin ich urteilsfähig geworden.

Zur Urteilsbildung gehört die Erforschung der Vergangenheit. Gegenwart ist die Summa alles Vergangenen. Wer der Meinung huldigt, an jedem Tag, den Gott geschaffen hat, beginne die Schöpfung von vorne, der irrt. Vergangenheit hat kein aktuelles Hier und Jetzt. Sie muss erforscht werden in Büchern, Archiven und Ruinen der Vergangenheit. Das Verstehen der Gegenwart ähnelt dem Verstehen eines Patienten auf der Couch, dessen transparente Biographie erst zum Verständnis seines gegenwärtigen Verhaltens beiträgt.

Die heilsgeschichtliche Reduktion der Aufmerksamkeit auf das Ende der Zeiten hat den Blick auf das Gewesene verdunkelt. Wenn alles in die Zukunft starrt, muss die Erforschung des Tages im Dunklen bleiben. Wer nur nach vorne blickt und Vergangenheit verdrängt, wird weder Gegenwart noch Zukunft haben.

Es tut sich was. Erstarrtes kommt in Bewegung, Blockierungen werden weggeschwemmt, die Deutschen beginnen sich zu erhitzen. Man debattiert wieder über Moral, ein verheißungsvolles Zeichen. Nach vielen Jahren wirtschaftlicher Dominanz in egoistischer Verbohrtheit sind uralte moralische Regungen im Es der Gesellschaft wach geworden.

Die Kanzlerin, mit untrüglichem Sinn für elementare Bewegungen der Gesellschaft, ist auf den neuen Zug aufgesprungen. Die Debatte um das Gute hat sie geschickt auf ihre Person gelenkt. Pro und Contra Merkel ist fast zur Glaubensdebatte geworden. Sag an, wie hältst du es mit der neuen Samariterin der Barmherzigkeit? Merkel hat es geschafft, das Flüchtlingsproblem in einen Missionierungsaufruf zum christlichen Glauben zu verwandeln.

Hans-Ulrich Jörges hat dem Elend ins Auge geschaut und – ist zur Kanzlerin konvertiert. Auffällig, dass vor allem frühere Kritiker Merkels eine Bekehrung erlebt haben und ohne Wenn und Aber die Heldin der gläubigen Tugend umrunden und anbeten. Lange genug die Mutter gescholten. Wenn‘s ernst wird, muss man sich um sie scharen. Denn jetzt steht die nationale Ehre auf dem Spiel.

Warum musste Jörges sich ein persönliches Bild der Flüchtlingsmisere an Ort und Stelle machen? Hatte er vorher keinen lebendigen Eindruck? Ist es nicht vielmehr so, dass man kaum noch die TV-Bilder von frierenden durchnässten Kindern, schwangeren Frauen, Menschen im Rollstuhl, durch Schlamm watende Männer mit Säuglingen im Arm ertragen kann? Muss man das ungefilterte Original kennen, um zu wissen, was auf dem Balkan geschieht?

Ohne Kairos, ohne sensuelle Privatoffenbarung des Hier und Jetzt, bleiben Deutsche ungerührt. Ein Abbild der Realität ist oft eindrucksvoller als das dreidimensionale Original. Was macht das Bild mit dir, ist die häufigste Frage in Interviews. Über das Zeigen von Bildern wird in Redaktionskonferenzen heftiger debattiert als über die politische Bewertung der Taten und Fakten. Das Denken in Bildern ist eine nationale Eigenheit, auf die die denkschwachen Gegner der Vernunft besonders stolz sind.

„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte? Worin gründet diese besondere »Sagkraft« der Bilder, wie sind epistemische Gehalte von Bildern denkbar, die sich einer sprachlichen Vermittlung entziehen, ja: ein genuin bildliches, nicht-sprachliches Erkenntnispotential für sich einfordern?“

Auch am Originalschauplatz wollte Jörges, der nach Echtheit und Authentizität hungernde Neuromantiker, sich nur ein Ab-Bild der Wirklichkeit machen. Wer nicht fragt, welche politischen Ursachen zu dieser Wirklichkeit führten, wer die Schuldigen des Elends sind, welche langfristige Politik mehr als nur spontane Nothilfe leisten kann, der bleibt ein Voyeur in Selbsterregung. Ein Schwärmer. Die Intensität seiner Gefühlsoffenbarung soll jedes Reflektieren überflüssig machen. Wer das Herz des Gekreuzigten bluten sah, hat keine Fragen mehr. Wir schaffen das unbegrenzte Gute, wenn wir das Schwärmen unserer Herzen am Sieden halten.

Woher die plötzlichen Schauer des Schwärmens? Marx hat den Tod des romantischen Schwärmens im beginnenden Kapitalismus erlebt. „Die heiligen Schauer der Schwärmer, die in den eiskalten Wassern egoistischer Berechnung ertränkt worden sind.“ So im Kommunistischen Manifest.

Es scheint, als ob die eiskalten Wasser unter der Sonnenglut der balkanischen Flüchtlingstrecks, übertragen in deutsche Wohnstuben, sich plötzlich erwärmt hätten. Deutschland litt unter moralischen Entzugserscheinungen. Die zur eiskalten Karriere konditionierten Einzelkämpfer der neoliberalen Nation empfanden das Bedürfnis, ihre Verpanzerung zu durchbrechen und den Mitmenschen die hilfreiche Hand zu reichen. Keine saure Pflicht, keine Imperative von Oben, sondern die Herzensregung, Nächstenliebe als Liebe zum Fernsten zu erweisen.

Hier darf man wahrhaft stolz sein auf seine Landsleute. Gerade deshalb aber muss die Hilfswelle kritisch gesehen werden, weil sie es nicht zu schaffen scheint, ihre Emotionen in langfristige Politik umzuwandeln. Die Helfer sind in Gefahr, sich zu Lückenfüllern und Handlangern einer entmündigenden Bürokratie degradieren zu lassen. Wer hilft, muss auch mitreden können, in welchem Maß und mit welchen Methoden die eigene Kommune zur Hilfe verpflichtet werden kann.

Helfen ist politisch. Und ist es nicht politisch, so bleibt es schwärmerische Barmherzigkeit. Es kann nicht sein, dass die Basisarbeit von Freiwilligen geleistet wird, die großen Entscheidungen aber von Bürgermeistern getroffen werden, die es nicht mal nötig haben, sich vor Ort blicken zu lassen.

Ein Ruhmesblatt für Berliner Helfer, die die unwürdige Einladung eines Herrn Müller zu Häppchen und schamlosen Lobreden ablehnten. Man solle, so der unbestechliche Philosoph Günther Anders, sich nur von Menschen loben lassen, die man selber loben kann.

Schwärmen ist gut sein wollen – ohne Politik. Wer Merkels Satz: wir schaffen das, uneingeschränkt lobt, ohne die Heuchelstrategie ihrer internationalen Politik in die Pfanne zu hauen, der ist ein sentimentaler Schwärmer.

Hegel verachtete die frommen Schwärmer seiner Zeit, die sich mit einzelnen Taten begnügten, aber das Ganze der Republik ignorierten. „Der große Geist der Republik wendet alle seine Kräfte, physische und moralische, an seine Idee, sein ganzer Wirkungskreis hat Einheit – der fromme Christ hingegen, der sich dem Dienst seines frommen Ideals weiht, ist ein mystischer Schwärmer. Die Idee des Republikaners ist von der Art, dass alle seine edelsten Kräfte ihre Befriedigung in wahrer Arbeit finden, da die des Schwärmers nur die Täuschung der Einbildungskraft ist.“

Der Republikaner wäre heute Demokrat, seine wahre Arbeit politische Arbeit.

Noch strenger urteilt Kant, für den ein Schwärmer „eigentlich ein Verrückter von einer vermeinten unmittelbaren Eingebung ist. Moralische Schwärmerei ist die Verlegung der moralischen Triebfeder in das Gefühl für edle, erhabene Taten – statt in das moralische Gesetz selbst. Religiöse Schwärmerei ist die Einbildung, durch Gnadenwirkungen sittliche Effekte hervorbringen zu können, der Wahn, durch Streben mach einem vermeintlichen Umgang mit Gott sich vor ihm zu rechtfertigen.“

Moral ist ein allgemeines Gesetz, das immer gilt. Gleichgültig, ob man unter Reizüberflutungen steht, die man für Offenbarungen hält, unter authentischen Gefühlen und der Aura schreckenerregender Bilder – oder nicht. Das Gesetz gilt immer, denn es ist die Stimme der Vernunft.

Vernunft ist weder der Despot noch der Feind der Gefühle. In einem reifen Menschen sind Emotionen und Gedanken miteinander befreundet. Sie ergänzen und korrigieren sich gegenseitig. Sie passen aufeinander auf.

Die schlimmste Schwärmerei aber ist der „Wahn“, sich mit tugendhaften Werken bei bestechlichen Göttern einzuschmeicheln, um ewigen Lohn zu erhalten oder ewige Strafen zu vermeiden. Eine Moral im Dienste des Heiligen ist unwürdiger Afterdienst.

Genau dies geschieht unter Merkel – und ihrer medialen Leibgarde, die es ach so peinlich findet, ihren Glauben zu bekennen. Denn er soll ein aufgeklärter und weltoffener Glaube sein, weit entfernt von allen Machenschaften buchstabengläubiger Fundamentalisten. Es ist ja nicht wie bei armen Leuten: Christsein gehört zur Grundmöblierung der deutschen Seele, die man hat, ohne darüber schwatzen zu müssen. Schwärmen ist Moral in gottergebener Trunkenheit. Heute ist man stiller Alkoholiker in Sachen Frömmigkeit.

Christliche Moral hat mit irdischer Vernunftmoral nichts gemein. Der markante Unterschied steht im Evangelium des Lieblingsjüngers. „Der Geist ist es, der das Leben schafft, das Fleisch nützt nichts.“ Geist ist der Geist Gottes, „Fleisch“ steht für alles sündige Wesen der Ungläubigen. Mag der Heide noch so tugendhaft gewesen sein: macht nichts, er kommt ins Feuer. Seine Emotionen waren die falschen, seine Motivation autonome Hybris.

Tugenden der Heiden sind fromme Laster, verfluchte der sanftmütige Kirchenvater Augustin selbst den Sokrates in die Hölle. Umgekehrt kommen alle Christen in den Himmel – und hätten sie ganze Völker ausgelöscht: Sündige tapfer – wenn du nur glaubst.

Warnung vor Schwärmerei ist kein Verbot eines vernunftgeleiteten Enthusiasmus. Lust und Liebe sind die Fittiche zu großen Taten. Schwärmen ist Enthusiasmus mit ausgebauter Ratio.

Moral ist die notwendige Grundlage aller demokratischen Fähigkeiten – die aber mehr sein müssen als private Nächstenliebe.

Der Christ macht keine Politik für das ganze Volk. Er begnügt sich mit situativen Einzeltaten, um beim himmlischen Casting auf dem obersten Treppchen zu stehen. Die Casting-Seuche in allen TV-Kanälen ist das fromme Spiel: wer wird Erster im Himmelreich? Denn nur der Erste wird den himmlischen Preis erringen. Das ist nicht nur das Motto der Familie Kennedy, das steht schon bei Paulus:

„Wisset ihr nicht, daß die, so in den Schranken laufen, die laufen alle, aber nur einer erlangt das Kleinod? Laufet nun also, daß ihr es ergreifet!“

Christlicher Glaube ist Ausscheidungswettbewerb, Selektion, unbarmherzige Rivalität. Das Gegenteil demokratischer Solidarität. Die Grundlage der europäischen Werte ist neoliberale Brutalität, verkoppelt mit gnadenhafter Ausnahme-Barmherzigkeit bei ausgewählten Einzelnen. Denn Gott und Merkel sehen den Einzelnen an.

Die Flüchtlingsströme sind keine anonymen Massen, sondern Einzelpersönlichkeiten, betont die Kanzlerin immer wieder. Weshalb sie Politik immer mehr zu Privataudienzen verfälscht, bei denen Erwählte ihre familiären Probleme vortragen dürfen. Die huldvolle Madonna der Herzen entscheidet spontan, ob und in welcher Art und Weise sie auf die unterwürfige Bettelei eingeht. Das ganze Schleimtheater folgt dem Motto: wenn das der Kaiser wüsste. Oder der Führer. Erlösungsreligion hat es nur mit atomisierten Einzelnen zu tun. Demokratie hingegen ist eine Polis Gleicher und Freier.

Eine Torheit, die Probleme moderner Demokratien nach dem theokratischen Schema situativer Willkür lösen zu wollen. Was, wenn der Mensch im Gleichnis nicht zufällig halbtot am Straßenrand gelegen hätte? Soll Hilfe ein ungerechtes, selektiv-zufälliges moralisches Handeln sein? Was hätte der Samariter getan, wenn auf der Straße ein riesiger Flüchtlingstreck auf ihn zugekommen wäre? Ist Masse keine Summe von Einzelnen? Gott sieht den Einzelnen an? Und die Masse lässt er verkommen? Im Gleichnis ist die gute Tat nur ein austauschbares Mittel, um hartherzige Priester und Leviten im Kampf um die wenigen Plätze im Himmelreich zu übertrumpfen. Das Opfer war nur Mittel zum Zweck. Der Mensch wird erniedrigt zum Hilfs-Objekt berechnender Karrierewünsche fürs Himmelreich. Das Opfer der Mildtätigkeit war bloßer Anonymus, ein Mensch ohne Eigenschaften.  

Im christlichen Glauben herrscht Ekel davor, als Mensch das bloße Exemplar einer Gattung zu sein. Einer ist so gut wie der andere. Und auf keinem ruht der Gnadenschein der Erwählung. Die Deutsche Bewegung, nationale Selbstermächtigung der Deutschen als Regression in den Glauben, sprach vom unvergleichlichen Individuum (individuum est ineffabile). Der christliche Westen erkühnt sich, den Einzelnen aus der anonymen Masse hervorzuheben, indem er alle zu einerlei Konsumvieh degradiert. Kein Test, der den Getesteten als unvergleichliches Individuum behandeln würde. Alles wird über einen Kamm geschert. Qualitätsunterschiede gibt es ohnehin nicht. Nur quantitativ unterscheiden sich die uniformen Ameisen des Kapitalismus.

Georg Diez lobt Merkels gutes Herz. Über ihre Politik verliert er kein einziges Wörtchen:

„Yes, we can: Etwas anderes hat Angela Merkel nicht gesagt, es war eine Aufforderung, die Gesellschaft gemeinschaftlich und positiv zu denken – der Satz war nach innen gerichtet, an die Menschen, als notwendige Motivation, aus der erst die Energie entstehen kann, mit der man Schwierigkeiten meistert.“

Diez hätte den Kommentar von Eric Bonse in der TAZ lesen sollen, mit welch erbärmlichen Tricks die Kanzlerin die Lasten der Mildtätigkeit an ihre europäischen Nachbarn weiterreichen will.

„Der Balkan soll zur Transitzone werden, in der „berechtigte“ und „chancenlose“ Flüchtlinge registriert, aussortiert und abgeschoben werden. Was Merkel in Deutschland nicht umsetzen kann, soll nun in Kroatien, Bulgarien oder Griechenland Wirklichkeit werden.“ (TAZ.de)

Andreas Zumach verweist auf die steigenden Waffenverkäufe Merkels an Saudi Arabien, einer demokratiefeindlichen Macht, die sich am stellvertretenden Krieg in Syrien beteiligt. Anstatt den syrischen Konflikt energisch auszutrocknen, um die Ursachen der Flüchtlingsströme einzudämmen, verschärft Merkel die Gefahren für das ohnmächtige Volk. Dann wundert sie sich über steigende Fluten der Hilfesuchenden. (TAZ.de)

Rudolf Walther preist in höchsten Tönen das ursprüngliche deutsche Asylgesetz als „Leuchtfeuer der Verfassung.“ Die Linken, im Sog der Marx‘schen Verachtung autonomer Moral, entdecken über Nacht das unbegrenzte Gute. Walther kann nicht unterscheiden zwischen dem Ziel eines Grundrechtes und der praktischen Art und Weise, dieses Ziel zu erreichen.

Das Ziel jedes Rechts muss utopisch sein, die Realisierung aber sich pragmatisch nach den Möglichkeiten richten, die ein Staat zur Verfügung hat. Sonst gefährdet hohles Schwärmen die geringste Verwirklichung des Rechtes. Mittel und Zweck müssen koordiniert werden, wenn sie es mit einem Grundrecht ernst meinen. Das ist politisches Einmaleins. Ein Herr Kretschmann ist nicht zu tadeln, dass er sich nach der Decke streckt, sondern dass er eine zu kurze Decke gewählt und sich Frau Merkel unterworfen hat.

„Verglichen mit der schnörkellosen Diktion des Grundgesetzartikels wirkt der geschäftsmäßige Jargon, mit dem der politisch herrschende Konformismus heute das Asylrecht im Namen von „pragmatischem Humanismus“ aushebelt, nur peinlich und provinziell: „Alles in der Welt ist ja relativ“, lautet der steinern-behäbige Gemeinplatz des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Wer ihn kritisiert, bekommt seine hausgemachten „Realitäten“ aufgetischt, die er mit wohlfeilen Versprechungen ohne Datum und Substanz wie dem „Beschäftigungskorridor“ für Balkanflüchtlinge garniert.“ (Rudolf Walther in TAZ.de)

Die Rechten verstecken ihre Fremdenfeindschaft hinter Gesetzesvorbehalten, die an sich nicht falsch sind. Ihre Gesetzestreue ist die Rationalisierung dunkler Motivationen.

Die Linken, postmarxistische Moralverächter, entdecken das Gute und übertreiben nun ins Gegenteil: das Gute machen sie zu einem unrealisierbaren Phantom und unterscheiden nicht zwischen ideellen Zielen und pragmatischen Methoden. Moral wird bei ihnen – nicht anders als im Neuen Testament – zu einer Norm, die niemand erfüllen kann und jeden zum moralischen Bankrotteur erklärt, der das Vollkommene nicht mit Fingerschnipsen verwirklicht.

Die dialektische Nation, gewohnt, das Unvereinbare zu vereinbaren, das Zusammengehörige aber zu zertrennen, ist nicht in der Lage, ideelle Gesetze zu koordinieren mit den Möglichkeiten einer begrenzten Menschheit und sei diese noch so willig, edel und gut.

Merkel & Co wollen nicht das Gute, sondern das Heilige. Das Heilige ist unerfüllbar, das Gute muss sich nach der Decke strecken. Das Gute will für alle Menschen Frieden und ein erfülltes Leben. Doch es muss seinen demokratischen Verstand bemühen, in welchen Schritten es das Ziel erreichen kann.

Poppers Nüchternheit sollte rechten und linken Deutschen zum Vorbild dienen. Gut sein geht nicht durch einen Akt. Schon gar nicht durch einen wunderbaren oder gewaltsamen. Das wäre zwangsbeglückender Faschismus.

In einer Demokratie ist „Sozialtechnik der kleinen Schritte“ gefragt. Popper nennt sie Stückwerk-Technologie. Das ehrlich eingestandene Maß unserer Möglichkeiten, die kritische Einsicht in unsere Begrenztheit, wären die einzigen Alternativen, mit denen wir deutscher Schwärmerei entgehen könnten.

Ideelles Wollen darf durch unmäßiges Vollbringen nicht gefährdet werden. Stückweises Vollbringen darf sich nicht mit weniger begnügen als mit dem Menschlichen, das wir pragmatisch lernend realisieren wollen. Göttliche Normen sollen den Menschen zerschmettern, das Maß des Menschlichen ist bereits von unendlich vielen Menschen überall auf der Welt verwirklicht worden.

Wenn Merkel Außerordentliches will, muss sie die Gesellschaft durch Argumentieren überzeugen und ihr nicht durch pathetisches Suggerieren das Gute vorschreiben. Die europäischen Nachbarn wollen durch geduldiges Reden gewonnen und nicht durch Nötigen überfahren werden.

Deutschland ist im Begriff, sich in der Epoche Merkel zu einer Theokratie maßloser Schwärmer zu verunstalten. Europa ist noch lange nicht verloren. Die EU kommt erst in die Pubertät. Jetzt kann sie beweisen, dass sie gelernt hat, Konflikte nicht unter den Teppich zu kehren. Sondern Verständigung im fairen Streit zu erarbeiten.