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Schuld

Hello, Freunde der Schuld,

„wir haben alle Dreck am Stecken“, erklärte der amerikanische Journalist Andrew Denison in der gestrigen Phoenix-Runde gereizt. Die ewigen Schuldvorwürfe gegen Amerika wolle er sich nicht länger anhören, herrschte er seinen deutschen Kollegen Michael Lüders an, der den Amerikanern die Hauptschuld am Inferno in Nahost gab. Noch nie war der Ton in deutschen Talkshows so zum Reißen gespannt.

Die westliche Politik der letzten Jahrhunderte, ihre Probleme durch externes Verlagern auf Kosten ungläubiger und „minderwertiger“ Völker zu lösen, erhält zurzeit ihre massenhafte Quittung. Die stellvertretenden Opfer ihrer imperialen Projektionen schlagen zurück – und überfluten Europa als Hilfesuchende.

Wie der gekränkte Jugendliche vor sich hinmurmelt: geschieht meinen Eltern ganz recht, wenn ich mir die Finger erfriere, hätten sie mir doch Handschuhe gekauft, ist die „Flüchtlingswelle“ selbstbewusst genug, nicht unterwürfig aufzutreten, sondern Forderungen zu erheben: geschieht dem Westen ganz recht, dass er uns auf dem Halse hat, hätte er seine Probleme nicht auf unserem Rücken ausagiert; Europa muss jetzt seine Schuld begleichen und uns zu einem menschenwürdigen Leben verhelfen.

Mit staunenswerter Entschlossenheit – dem Mut der Hoffenden und Verzweifelten – schultern Eltern ihre Kinder und marschieren in endlosen Kolonnen querfeldein durch Europa, überwinden Grenzen, Mauern und Zäune, kämpfen gegen Polizisten und feindselige Politiker, um ihr Grundrecht auf ein humanes Leben bei den Herrenvölkern Europas einzufordern.

In seinem Gedicht „Die Wanderratten“ hat Heinrich Heine ihre furchtlose Courage vorausbesungen:

Es gibt zwei Sorten Ratten:
Die hungrigen und satten.
Die satten bleiben vergnügt zu Haus,
Die hungrigen aber wandern aus.

Sie wandern viel tausend Meilen,
Ganz ohne Rasten und Weilen,
Gradaus in ihrem grimmigen Lauf,
Nicht Wind noch Wetter hält sie auf.

Sie klimmen wohl über die Höhen,
Sie schwimmen wohl durch die Seen;
Gar manche ersäuft oder bricht das Genick,
Die lebenden lassen die toten zurück.

Die Wanderratten, o wehe!
Sie sind schon in der Nähe.
Sie rücken heran, ich höre schon
Ihr Pfeifen – die Zahl ist Legion.

O wehe! wir sind verloren,
Sie sind schon vor den Toren!
Der Bürgermeister und Senat,
Sie schütteln die Köpfe, und keiner weiß Rat.

Heut helfen Euch nicht die Wortgespinste
Der abgelebten Redekünste.
Man fängt nicht Ratten mit Syllogismen,
Sie springen über die feinsten Sophismen. 

Früher waren es die internen Proleten, heute sind es die externalisierten Proleten aus der Fremde, die sich ihren Platz an der Sonne erkämpfen. Der arabische Frühling, vom Westen nicht ernst genommen, von eigenen Despoten gnadenlos an die Wand gefahren, hat ein neues Ventil gefunden und sucht seine Lebensrechte weit entfernt von der Heimat. Flüchtlingsströme sind die erneuten, nimmermüden Revolutionen derjenigen, die gegen die Brutalität der eigenen Tyrannen keine Chancen haben, doch den Versuch nicht aufgeben und auf migrantischen Umwegen Freiheit und Selbstbestimmung suchen.

Der endlose Treck von Süden nach Norden bringt es an den Tag. Zeit der Schuldbegleichung. Zeit des verspäteten, minimalen Ausgleichs. Getrieben durch Verzweiflung, gehen die Opfer in die Offensive und machen aus Not eine Tugend. Die Weltgeschichte ist kein Weltgericht, doch gelegentlich werden Rechnungen präsentiert. Die Hilfe der Deutschen ist keine frei flottierende Gnadengabe, sondern eine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.

Die Schwachen unter den Völkern sind nicht länger zur Passivität verdammt. Wenn sie die geringste Chance des Entkommens sehen, quetschen sie sich in schwankende Boote oder marschieren tausende von Kilometern, um ihren Kindern eine passable Zukunft zu erkämpfen. Hier kommen keine ängstlichen Charaktere, die devot an die Türe klopfen. Hier kommen moderne Menschen, die wissen, was in den Manifesten der UN-Charta steht. Sie betteln nicht um ihr Leben, sie appellieren an die demokratische Pflicht der Europäer, zu tun, was sie in politischen Feiertagsreden schon immer propagierten: für die unverbrüchlichen Rechte jedes Menschen einzutreten.

Wir Europäer haben etwas gut zu machen, wir haben eine Kleinigkeit zurückzuzahlen. Das jahrhundertealte, vom Westen erzeugte, Elend der Welt ist durch nichts mehr zu kompensieren oder ungeschehen zu machen. Jetzt müssen wir unseren Wohlstand teilen, auch wenn die Reichtümer der eigenen Gesellschaft obszön ungleich verteilt sind.

Die Herausforderungen sind außerordentlich. Erste Hilfe ist notwendig, aber nicht ausreichend. Nach primärer Überlebenshilfe müsste unsere ganze Wirtschaftsphilosophie auf den Prüfstand. Die unbegrenzte Beute-Ökonomie des Westens – Hauptursache des Elends in der Welt – darf auf keinen Fall tun, als sei nichts geschehen.

EU-Parlamentschef Schulz beklagt den Egoismus europäischer Nationen, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Und wenn doch, nur Christen, damit die Borniertheit des eigenen Glaubens nicht gefährdet werde. Weiß SPD-Schulz nicht, dass Egoismus die vorgeschriebene Motivation des weltbeherrschenden Neoliberalismus ist? Weiß er nicht, dass er Schizophrenie predigt? Im wirtschaftlichen Alltag eiskalte Eigensüchtigkeit, im Falle der Flüchtlinge herzergreifende Empathie?

Kein einziger Kommentar in den Medien, der diese Gespaltenheit auch nur wahrgenommen hätte. Die Selbstverblendung der reichen Europäer ist grenzenlos. Im Namen unerbittlicher Wirtschaftsregeln wurde Griechenland zerschlagen, in der Flüchtlingsfrage aber soll das egoistische Europa vor Altruismus überfließen?

Der Zweck des westlichen Neoliberalismus ist Selektion von Menschen und Nationen in Starke und Schwache, Erwählte und Verworfene, Gute und Böse. Die globale Wirtschaft ist nichts als die Übersetzung der augustinischen Erwählungs- und Verwerfungstheologie ins Ökonomische.

„Die Welt ist jetzt wie eine Kelter: es wird ausgepresst. Bist Du Ölschaum, so fließt Du in die Kloake; bist Du Öl, so bleibst Du im Ölgefäß. Dass gepresst wird, ist unumgänglich. Nur beachte den Schaum, beachte das Öl. Pressung geht in der Welt vor sich: durch Hungersnot, Krieg, Armut, Teuerung, Not, Sterben, Raub, Geiz; das sind die Drangsale der Armen und die Mühsale der Staaten: wir erleben es … Da finden sich Leute, die in solchen Drangsalen murren und sagen: „Wie schlecht sind die christlichen Zeiten …“ Das ist der Schaum, der aus der Presse fließt und durch die Kloaken rinnt; sein Ausfluss ist schwarz, weil sie lästern; er glänzt nicht. Das Öl hat Glanz. Da findet sich nämlich ein anderer Mensch in derselben Presse und in der Reibung, die ihn zerreibt – war es denn keine Reibung, die ihn so blank rieb?“ (Augustin)

Bei Pastor Malthus setzt sich die augustinische Selektions- und Presswirkung unverändert fort:

„Das Leiden der Armen ist das Mittel zum Zweck der Perfektion der Menschheit – es bildet den Stachel, der sie vorantreibt. Die Armen haben selbst die Schuld an ihrem Elend zu tragen. Da sie ihren Sexualtrieb nicht beherrschen, zeugen sie mehr Kinder, als sie ernähren können. Elend, Hunger und Krankheit würden die Zahl der Kinder bald reduzieren. Laisser-mourir (sterben lassen) nannten philanthropische Zeitgenossen diesen marktwirtschaftlichen Vorschlag des anglikanischen Pfarrers. (Rolf Peter Sieferle, „Die Krise der menschlichen Natur“)

Nahtlos geht theologische Selektion über in die biologische, die biologische in die wirtschaftliche. Alexander Tille, deutscher Darwinist am Ende des 19. Jahrhunderts, kombinierte Darwin und Nietzsche, um den selektierenden arischen Rassismus im Kaiserreich zu begründen:

„Allüberall in der Natur sieht das Höhere über das Niedere, und darum ist es nur das Recht der stärkeren Rasse, die niederen zu vernichten. Wenn diese nicht die Fähigkeit des Widerstands haben, so haben sie auch kein Recht auf Dasein. Was sich nicht behaupten kann, muss sich gefallen lassen, dass es zu Grunde geht.“

Von Tille zur NS-Ideologie Alfred Rosenbergs ist es nur ein Nanosprung:

„Entweder steigen wir durch Neuerleben und Hochzucht des uralten Blutes, gepaart mit erhöhtem Kampfwillen, zu einer reinigenden Leistung empor, oder aber auch die letzten germanisch-abendländischen Werte der Gesittung und Staatenzucht versinken in den schmutzigen Menschenfluten der Weltstädte, verkrüppeln auf dem glühenden unfruchtbaren Asphalt einer bestialisierten Unmenschheit oder versickern als krankheitserregender Keim in Gestalt von sich bastardisierenden Auswanderern in Südamerika, China, Holländisch-Indien, Afrika.“ (Alfred Rosenberg)

Auch die NS-Schergen sahen sich – zu Recht – in der Tradition christlich-abendländischer Werte. Neoliberalismus ist eine bloße Variante der nationalsozialistischen Selektion, die – im Normalfall – auf direkte Gewalt verzichten kann, um die Menschheit in Erwählte und Verworfene zu spalten.

„Er antwortete und sprach zu ihnen: Des Menschen Sohn ist’s, der da Guten Samen sät. Der Acker ist die Welt. Der gute Same sind die Kinder des Reiches. Das Unkraut sind die Kinder der Bosheit. Der Feind, der sie sät, ist der Teufel. Die Ernte ist das Ende der Welt. Die Schnitter sind die Engel. Gleichwie man nun das Unkraut ausjätet und mit Feuer verbrennt, so wird’s auch am Ende dieser Welt gehen: des Menschen Sohn wird seine Engel senden; und sie werden sammeln aus seinem Reich alle Ärgernisse und die da unrecht tun, und werden sie in den Feuerofen werfen; da wird sein Heulen und Zähneklappen. Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich. Wer Ohren hat zu hören, der höre!“

Der aufkommende Antisemitismus im wilhelminischen Kaiserreich wurde biologisch begründet, doch Biologie und Rassenlehre waren nur die wissenschaftlich verbrämte Fortsetzung der Theologie. Es gibt keinen modernen Antisemitismus, der sich von dem traditionell christlichen um einen Deut unterschiede.

Was ist die Schuld des Westens? Dass er seit seiner theologischen Begründung im Mittelalter – und später durch alle ideologischen Ableger hindurch bis zum heutigen Kapitalismus – die Welt zum Labor seiner Selektion der Menschheit in Erwählte, Erfolgreiche, Starke – und Verworfene, Versager und Überflüssige mit allen Mitteln der Weltanschauung, Politik und Wirtschaft gemacht hat.

Die Geschichte ist eine Heilsgeschichte für siegreiche Lieblinge des Himmels, eine Unheilgeschichte für bösartige Versager. Schon möglich, dass die Endsieger zur Bewährung ihres Glaubens eine Leidenszeit auf Erden absolvieren müssen (durch Kreuz zur Krone), doch am Ende werden sie in paradiesische Freuden eingehen.

Der Unterschied zwischen ecclesia triumphans – der siegreichen Kirche – der puritanischen Amerikaner und ecclesia patiens – der leidenden Kirche – deutscher Lutheraner ist lediglich eine Zeitverschiebung. Die Amerikaner wollen die ewigen Freuden bereits auf Erden erleben, die zurückgebliebenen Deutschen müssen im irdischen Lazarett tüchtig jammern und leiden, bevor sie im Jenseits jubilieren dürfen. (Weshalb sie heute noch immer auf hohem Niveau jammern und wehklagen.)

Der Westen hat die ganze Welt dem Diktat seiner selektiven Heils- und Unheilsgeschichte unterworfen. Versteht sich, dass Christen auf der Seite der Gewinner, Heiden und Ungläubige auf der Seite der Verlierer stehen.

Zum ersten Mal in der Geschichte sind nicht mehr Sieger die Bestimmer des Geschehens, sondern die Verlierer machen sich auf den Weg, aus eigener Kraft ihr Schicksal zu wenden. Ausgerechnet in den Ländern ihrer bisherigen Drangsalierer wollen sie ihr Stigma der determinierten Verlierer ablegen und gleichberechtigte Citoyens einer Demokratie werden. Karl Löwith hat das Grundprinzip der religiösen Triumphgeschichte des Abendlands präzis zu Papier gebracht:

„Die Kirchenväter entwickelten aus der jüdischen Prophetie und der christlichen Eschatologie eine Theologie der Geschichte, die sich an dem überhistorischen Geschehen von Schöpfung, Inkarnation, Gericht und Erlösung orientiert; der moderne Mensch dachte eine Philosophie der Geschichte aus, indem er die theologischen Prinzipien im Sinne des Fortschritts zu einer Erfüllung säkularisierte und auf eine ständig wachsende Zahl von empirischen Kenntnissen anwendete, die sowohl die Einheit der Weltgeschichte wie ihren Fortschritt in Frage stellen. Es scheint, als ob die beiden großen Konzeptionen der Antike und des Christentums, zyklische Bewegung – und eschatologische Ausrichtung, die grundsätzlichen Möglichkeiten des Geschichtsverständnisses erschöpft hätten.“

Mit eschatologischer Selektion kann es keine Einheit der Weltgeschichte geben. Spreu und Weizen müssen auf ewig geschieden werden. Heute kommt die Spreu als hilfesuchende Masse in das Revier des Weizens. Nun wird sich zeigen, ob der Westen zur friedlichen Einheit des Menschengeschlechts fähig ist – oder ob er die Gattung noch immer mit wirtschaftlichen Methoden in Sieger und Verlierer spaltet.

Der Westen selbst ist in sich gespalten und bildet keine Einheit. Jede christliche Nation muss mit jeder anderen um die himmlische Auszeichnung der wahren Erwählung kämpfen. Letztlich kann es nur ein wahres erwähltes Lieblingsvolk des Herrn geben. Das war der Grund für Nationalsozialisten, sich der Juden endgültig zu entledigen, um vor Gott keine gefährliche Konkurrenz neben sich zu haben.

Zwischen den westlichen Einzelstaaten beginnt es immer mehr zu knirschen. Amerikaner haben es satt, die Europäer zu protegieren und im Falle einer Krise den ewigen Buhmann zu spielen. England will seine alte Sonderrolle zwischen Europa und Amerika zurückerobern. Die Oststaaten lassen sich vom führenden Duo Frankreich-Deutschland immer weniger sagen. Auch der Konflikt mit Putins Russland bleibt ohne die Rivalität der wahren Erwählung vor Gott unverständlich.

„Der weltliche Messianismus der abendländischen Nationen steht in jedem Fall im Zusammenhang mit dem Bewusstsein einer nationalen Berufung, die in dem religiösen Glauben wurzelt, von Gott für eine besondere Aufgabe von universaler Bedeutung ausersehen zu sein. Dies gilt für England und die Vereinigten Staaten, wie auch für Frankreich, Italien, Deutschland und Russland. Welche Gestalt die Verkehrung religiöser Berufung in einen weltlichen Anspruch immer annehmen mag, so bleibt doch die religiöse Überzeugung grundlegend, dass die Welt im Argen liegt und erneuert werden müsse.“ (Löwith)

Dass die Welt im Argen liegt, ist auch Merkels tiefster Glaube. Das Erneuern aber überlässt sie ihrem himmlischen Vater. Merkels fromme Politik wird von den Deutschen latent ästimiert, aber nicht bewusst wahrgenommen oder gar verstanden. Die deutschen Medien und Intellektuellen haben das Christentum so vollständig verdrängt, dass sie gar nicht wissen, was eine christliche Politik sein könnte.

Selbst, wenn man das christliche Credo zu einer bloßen Morallehre reduzierte, würde kein Bundesbürger von den beiden C-Parteien eine lupenreine Moralpolitik erwarten. Der Vorwurf der Heuchelei ist seit Jahren verstummt. Niemand erwartet, dass Merkel die rechte Backe hinhält, wenn Putin ihr auf die linke schlägt. Oder dass die Kanzlerin dem wirtschaftlichen Prinzip: Geben ist seliger denn Nehmen, folgen sollte. Die Heuchelei ist so endemisch geworden, dass niemand mehr sie zur Kenntnis nimmt.

(Genau genommen ist es keine Heuchelei, wenn Merkel tut, was sie will. Ihre Moral ist antinomisch, sie steht über allen wortwörtlichen Befolgungen der 10 Gebote. Das Phänomen der beliebigen Antinomie allerdings ist deutschen Durchschnittschristen und Edelschreibern unbekannt.)

Merkels Politik ist abendländisch-eschatologisch. Die irdisch-sündige Zeit muss sie in Gehorsam abwickeln. Gleichgültig, mit welcher politischen Leitidee. Demokratie, Theokratie, Mamakratie, Plutokratie, Oligarchie: alles einerlei. Hat sie das Irdisch-Unvollkommene abgesegnet, ist es heilig und gut. Die Berliner Demokratie höhlt Merkel bis zur allmählichen Unkenntlichkeit aus.

Debattieren ist ihr ein Greuel. Wenn Gysi sie frontal attackiert, greift sie ostentativ zum Handy oder liest Akten. Auf seine Kritikpunkte geht sie so gut wie nicht ein. „Wir brauchen uns doch keine gegenseitigen Schuldvorwürfe machen“, so Angie in der gestrigen Bundestags“debatte“, die keine war. Merkel locuta, causa finita (Merkel hat gesprochen, die Chose ist beendet): die päpstliche Unfehlbarkeit exekutiert die Kanzlerin in vollendeter Höflichkeit, mit der sie das machiavellistische Muskelspiel der Männer als postpubertäres Machotum lächerlich macht.

Warum liebt sie den Papst? Weil sie das ökumenische Pendant des Papstes darstellen will. Hat sie sich einen „persönlichen Eindruck“ vor Ort gebildet hat, wirkt ihr Wort zur rechten Zeit wie das Amen in der Kirche. Ihre aufreizende Contenance und perfekt gespielte Aufgeräumtheit ist die autoritärste Waffe, die je in der deutschen Nachkriegspolitik zur Anwendung kam. Sprich sanft, habe aber immer ein Messer im Rücken? Ein Messer braucht sie nicht. Ihre harmlos klingende, aber apodiktische Sprache wirkt wie ein Vorschlaghammer, gegen den ihre männlichen Rivalen chancenlos sind.

Durch die lutherische Variante ihrer päpstlichen Unfehlbarkeit gewinnt sie jenes ökumenische Format, das alle harmoniesüchtigen Deutschen, gleich welcher Konfession, schätzen und bewundern. Aufklärung und religionsunabhängige Vernunft sind ihr unbekannt. Die Frage eines besorgten Eingeborenen: wie man gegen die steigende Flut der Muslime abendländische Grundwerte verteidigen könne, beantwortet sie im schnippischen Ton einer christlichen Fundamentalistin: wie wär‘s mit sonntäglichem Besuch von Gottesdiensten und fleißigem Lesen der Heiligen Schrift?

Nicht demokratische Ratio und Streiten auf gleicher Augenhöhe sind wirksame Gegenmittel gegen religiöse Intoleranz, sondern Regredieren in den Ungeist religiöser Unduldsamkeit, der einst zu den Religionskriegen der frühen Neuzeit führte.

Was rationale Schuldzuweisungen sind, ist Merkel – wie der gesamten Journaille – unbekannt. Es geht nicht um Schuld vor Gott. Schuld ist in diesem Zusammenhang ein ander Wort für Ursache. Wer einen Fehler verursacht hat, müsste nach präziser Analyse der Ursachen die Verantwortung übernehmen.

Über solche Kindereien lacht die ganze Elite der BRD, die nicht daran denkt, Verantwortung für ihr Tun abzulegen. Gibt es keine Schuld, gibt es weder eine Ursachenforschung noch die Pflicht, Rechenschaft über sein Tun abzulegen. Wer sich täglich neu erfindet, hat alles Alte und Sündhafte abgestreift.

Tägliche Reue und Buße sind Erinnerungen an die Taufe, in der der alte Adam vollständig ersäuft wird – das ist der traditionelle Sinn des Ausdrucks vom täglichen Neuerfinden.

Da die Medien jegliche Kritik durch Ächtung des Rechthabens verhindern, gibt es keine anerkannte und wirksame Form der Kritik. Die TAZ verhöhnt Gregor Gysi wegen notorischen Rechthabenwollens:

„Gregor Gysi hat gerne recht, daraus macht er keinen Hehl. Gerade mal seit einer Minute steht der Linken-Fraktionschef am Rednerpult, schon schmiert er seinen Zuhörern unter die Nase, wo er mal wieder richtig lag und alle anderen falsch.“ (TAZ.de)

Seltsam nur, dass Kritiker des Rechthabenwollens – selbst Recht haben wollen. Natürlich sind Rechthabenwollen und Rechthaben nicht identisch. Die Differenz könnte nur ein strenges Streitgespräch erbringen.

Gegen bornierte Sturheit allerdings ist so wenig ein Kraut gewachsen wie gegen infallible Feigheit und Meinungslosigkeit. In deutschen Talkshows wird nicht gestritten. Dort werden autistische Monologe geführt. Konträre und aufrührerische Meinungen sollen sich im Wärmetod öffentlichen Plapperns gegenseitig vernichten. Sieger sind diejenigen, die ohnehin die Macht haben, die Begriffe nach Belieben zu besetzen. Wenn Streiten zur Farce wird, obsiegt die größte Macht am Platz.

Wie kann man kritisieren, ohne Recht haben zu wollen? Wer nicht Recht haben will, sollte in Demut verstummen oder sich entschuldigen, wenn er sich frech zu Worte meldet.

Längst ist Schwester Angela allen irdischen Streitigkeiten entrückt und befindet sich jenseits von Gut und Böse. Schuld und Sühne hat sie hinter sich gelassen. Wohlig sitzt sie im Schoße Abrahams, jenes uralten Patriarchen, der das Wort Demokratie kein einziges Mal hören musste.