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Schlaf, Deutschland, schlaf

Hello, Freunde Sotschis,

natürlich werden die paralympischen Spiele in Sotschi nicht abgesagt. Ein bisschen Völkerverbrechen kann doch kein Vorwand sein, die Leistungen der Athleten unbelohnt zu lassen. Die Eliten aller Länder sind so miteinander verkettet, dass kleinere Unstimmigkeiten ihre herzlichen Geldbeziehungen nicht trennen können.

Christoph Becker hingegen plädiert in der FAZ für Boykott:

„Wer wegbleibt, macht es auch besser als westeuropäische Fußballfunktionäre, die sich ihren Spielbetrieb vom russischen Staat via Gazprom finanzieren lassen. Schalke 04 etwa oder die Europäische Fußball-Union, in deren Champions League auch dank der russischen Sponsorenrubel so viel zu verdienen ist. Und wann hat man von Franz Beckenbauer etwas zur Krimkrise gehört? Der Sport-Botschafter des Verbandes russischer Gasproduzenten war während Olympia zusammen mit Gerhard Schröder im Deutschen Haus in Sotschi. Schröder polterte bei der Gelegenheit wider die Putin-Kritiker.“

Die Bewunderung für den neuen Zaren ist nicht klammheimlich. Sie wird vor aller Augen zelebriert. Der deutsche und europäische Fußball ist ohne russisches Geld Provinzliga. Wen wundert es, dass rechte Kolonnen – die starke Männer anbeten – die Stadien dominieren? Was ist Sarrazin gegen das Duo infernale Beckenbauer & Schröder? Schröder denkt nicht daran, sich

von seinem russischen Freund zu distanzieren:

„Der frühere Bundeskanzler kann sich nicht dazu durchringen, die Völkerrechtsverletzungen durch Russland zu verurteilen. „Bringen Sie mich nicht in eine Situation, in der sich etwas sage, was ich nicht sagen will“, sagt er.“ (Michaela Wiegel in der FAZ)

Die Deutschen sollen nun zwischen Ost und West vermitteln? Mit welcher Haltung? Nicht einmal der Absage des nächsten G8-Gipfels stimmte Berlin spontan zu und musste dazu geschoben werden. Merkel telefonierte mit Putin und warf ihm angeblich Völkerverbrechen vor. Warum hören wir nicht, was Putin antwortete?

Sein Außenminister Lawrow begründet die Intervention der russischen Truppen mit Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine. Hat nicht umgekehrt der Westen den Irak und Afghanistan überwältigt, um die Länder mit Gewalt zu westlicher Demokratie zu bekehren? Karzai wirft den Amerikanern vor, sie hätten den Krieg in seinem Land nur aus geopolitischen Herrschaftsinteressen angezettelt.

Hätte der Westen Putin nicht von Anfang an mit doppelter Moral traktiert, gäbe es heute keinen „Fall Ukraine“.

Deutschland ist unfähig, gegenüber Putin eine klare Position einzunehmen und ihn dennoch nicht als Underdog vorzuführen. Eine feste Haltung und ein beweglicher Verhandlungsstil – das sind unüberbrückbare Widersprüche für Nachwuchsgermanen.

Der Westen lässt Russland nicht in seinen illustren Klub, weshalb das Riesenland sich anderswo nach Verbündeten umsehen muss. China unterstützt die russische Haltung im schlimmsten Ost-West-Konflikt seit langem.

Die Russen sind zu stark, um ignoriert zu werden. Gleichwohl sind sie Schmuddelkinder für den Westen, der sie nur kontaktiert, wenn’s nicht zu vermeiden ist. Deutschland hat keine Haltung und erarbeitet sich auch keine. Es nimmt stets die Diagonale zwischen Ost und West und ver-mittelt, als ob es keinen Standpunkt hätte.

Offiziell werden Menschen- und Völkerrechte geachtet, inoffiziell dominiert immer mehr die Abneigung gegen Tugendterror. Recht ist Moral, Moral ist Tugend, also Feuer frei. Es steckt noch in ihnen, dass Moralisten Schwächlinge und Weicheier sind. Also nicht zu sehr das Maul aufreißen bei internationalen Rechten. Wir wollen nicht unangenehm mit Moral auffallen, wir wollen mit Wirtschaftszahlen und Präzisionsmaschinen imponieren.

Die unmittelbare Vorlaufphase des Nationalsozialismus war die Bewunderung für den fremden starken Mann in Italien mit Namen Mussolini. Heute haben wir wieder deutsche Fern-Bewunderer eines fremden Despoten. Geschichte wird sich doch nicht wiederholen?

Das Bürgertum bewunderte den italienischen Kraftprotzen und Nietzsche-Fan:

„Weithin vergessen aber ist hierzulande nicht nur die deutsch-italienische Waffenbrüderschaft, sondern auch die Vorgeschichte der deutsch-italienischen Allianz. Sie handelt von der großen Popularität, die Italiens faschistischer Weg nicht nur bei extremen völkischen Rechten wie Adolf Hitler genoss, sondern auch in bürgerlich-nationalen Kreisen. Der Großteil des weltanschaulichen Transfers fand denn auch zunächst außerhalb der NSDAP statt, in den „besseren Kreisen“ der deutschen Rechten. Auch hier galt Mussolini als politischer Visionär und Macher“, schreibt der Historiker Volker Weiß in der ZEIT:

Die deutschen Mitglieder der Konservativen Revolution bewunderten das Futuristische Manifest Marinettis, das unmittelbar in den Faschismus der Schwarzhemden führte. Die Kunst hatte das Lied von der Gewalt und dem Großen Mann vorbereitet:

„1. Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit.

2. Mut, Kühnheit und Auflehnung werden die Wesenselemente unserer Dichtung sein.

5. Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt. Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein. Die Dichtung muß aufgefaßt werden als ein heftiger Angriff auf die unbekannten Kräfte, um sie zu zwingen, sich vor dem Menschen zu beugen.

9. Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt –, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“

Übersetzen wir die Begriffe Marinettis in moderne Sprache, erhalten wir passgenau die Ideologie der Gegenwart:

Liebe zur Gefahr = Risikobereitschaft.

Vertrautheit mit Energie und Geschwindigkeit = die moderne Anbetung der Hetze und Beschleunigung.

Der Mann, der das Steuer hält = der Leistungsträger an der Spitze des Konzerns, die EINPROZENT der Plutokraten.

Kampf = permanente Konkurrenz. Jede Nation kämpft ökonomisch gegen jede.

Verherrlichung des Krieges = Deutschland muss sich der Welt öffnen, um militärisch den Nachschub seiner dringend benötigten Rohstoffe zu garantieren.

Verachtung des Weibes = die Frau soll sich im Dienst der Industrie verbrauchen, pardon: „emanzipieren“.

Zu den Bewunderern Mussolinis und des Futuristischen Manifests gehörten illustre Namen wie Arthur Moeller van den Bruck, der mit seinem Buch „Das Dritte Reich“ dem Regime der Nationalsozialisten einen Namen gab. Er schrieb: „Deutsche Jugend horcht auf. Italienische Jugend setzt sich in Marsch, eilt auf allen Straßen gen Rom und erzwingt im Quirinal von dem Könige die Änderung des Staatsgeistes.“ Italia docet! lautete die Parole, Italien lehrt.“

Oswald Spengler sah in Mussolini die ersehnte Cäsarengestalt, der den Untergang Europas in eine neue Auferstehung verwandeln sollte.

„Ein weiterer uneingeschränkter Bewunderer Mussolinis war der deutsche Jurist Carl Schmitt. Als Theoretiker des autoritären Staates suchte er nach politischen Modellen, die dem staatlichen Souverän größtmögliche Handlungsfreiheit boten. Schmitt kam aus den Kreisen des Rechtskatholizismus um Franz von Papen, der von Juni bis Anfang Dezember 1932 als Reichskanzler amtierte und Vizekanzler unter Hitler war. Die Vorgänge in Italien wurden in diesem Milieu aufmerksam beobachtet.“

Man ersetze den Namen Mussolini durch Putin – und wir sehen die drohende Wiederholung der verdrängten Geschichte. Deutsche Intellektuelle mögen keine Moral, kein Naturrecht der Schwachen. Moral ist für Kinder und Heimchen am Herd. Männer bevorzugen die Freiheit, zu tun, was ihnen gefällt.

Dieser Freiheitsbegriff ist der herrschende Begriff der Wirtschaftseliten, die sich von Vorschriften des Staates und des moralischen Pöbels nicht einengen lassen. Wer das Naturrecht der Schwachen ablehnt, dem bleibt nur die Verherrlichung der starken Männer, die nur Gott über sich haben und sonst nichts – und nicht mal den.

Man muss gesehen haben, wie der deutsche IOC-Bach seinen Diener vor Putin machte. Dagegen kritisierte er scharf die Pussy-Riots, weil sie gegen Putin demonstrierten. Beckenbauer weiß, was ein Strafstoß ist, das Wort Demokratie hat er längst vergessen. Als er Katar besuchte, hat er keine toten Bauarbeiter gesehen. Dieser Mann wird in Deutschland als Kaiser apostrophiert. Wir wollen unseren alten Kaiser Willem wieder hamm.

Faschismus ist die unausweichliche Konsequenz der Erfolgsideologie. Wer nur äußeren Erfolg als Erwählungskriterium gelten lässt, muss ihn so lange steigern, bis dieser alle rechtlichen oder moralischen Grenzen überschritten und gesprengt hat. Nur Gewalt kann am Ende den Erfolg aller Erfolge garantieren: die Herrschaft über die Welt.

Wer immer nur Erfolg haben will, will Macht. Wer Macht haben will, will Allmacht. Wer Allmacht haben will, will Gott sein. Gott gleich zu werden, ist die heilige Pflicht jedes gläubigen Anhängers der Erlösungsreligion.

Die Deutschen haben keine Moral. Sie imitieren die Moral ihrer Befreier, jener Starken, die sie besiegt haben. Was gesiegt hat, kann nicht falsch sein. Da Amerika immer mehr den Kurs einer über allem Recht stehenden Supermacht einschlägt, werden die Deutschen der Weltmacht auch auf diesem Weg getreulich folgen.

Demokratie war gestern. Heute sind NSA und Guantanamo angesagt: beide stehen über dem Recht.

Es mag merkwürdig klingen, doch auch Amerika lernt von Deutschland. Die Helden der Konservativen Revolution sind auch die Helden der amerikanischen Machteliten. Bei den Neocons – den Schülern von Leo Strauss – stehen Oswald Spengler und Carl Schmitt hoch im Kurs. Der „Konservativen Revolution ist eine Bewertung nach gut und böse unmöglich“, so Armin Mohler in seinem Buch über „Die Konservative Revolution in Deutschland“.

Zum harten Kern der Bewegung gehörten die Nihilisten. Der Begriff Nihilismus ist heute verschwunden, obgleich er dasselbe meint wie die „fruchtbare Zerstörung“ des Kapitalismus. Nihilismus ist der „Glaube an die unbedingte Zerstörung, die in unbedingte Schöpfung umschlägt“.

In diesem Sinn ist die Heilsgeschichte eine nihilistische Geschichte. Gott schlägt am Ende alles in Trümmer, um eine neue Erde und einen neuen Himmel zu erschaffen. Die Heilsgeschichte ist eine einzige fruchtbare Zerstörung.

Auch der Schöpfer braucht ständig etwas Neues. Ihn ekelt das Alte, das er in die Welt gesetzt hat. „Ich will die Menschen vom Erdboden vertilgen, die ich geschaffen habe, dazu das Vieh, die kriechenden Tiere und die Vögel des Himmels. Es reut mich, dass ich sie gemacht habe.“

Das war der Produktionsplan des jungen Start-up-Unternehmens Schöpfung. Er gilt bis heute. Gott ist das große Vorbild aller kreativen Firmengründer in der Welt. Wer fällt, muss wieder aufstehen. Wer mit der einen Idee scheitert, braucht eine neue.

Im Kern sind Deutschland und Amerika wesensähnlich, nur ihre Methoden sind bislang verschieden. Das könnte sich auch noch ändern.

Deutschland wollte die Welt beherrschen und erlösen, Amerika will dasselbe. Amerika macht es aber weitaus geschickter als die Deutschen. Es bietet den Völkern Wirtschaft und Wohlstand an – auf den ersten Blick. Auf den zweiten werden die Völker mit Hilfe der Wirtschaft an die Leine gelegt und rund um die Uhr überwacht.

Die Deutschen waren grausame Barbaren. Ihre messianische Borniertheit konnte nur an Gewalt denken, um die Welt zu beeindrucken. Ihr Drittes Reich allerdings war nichts anderes als die Idee des amerikanischen Weltimperiums. Wäre der Begriff nicht verbrannt, würden die USA sich heute Drittes Reich nennen.

Moeller van den Bruck übernahm den Begriff einer gloriosen europäischen Traditionslinie, die bis auf den mittelalterlichen Mönch Joachim di Fiore zurückging und über Lessing, Fichte, Schelling, Arndt, Jahn bis in die Gegenwart reichte. Das Dritte Reich war das Bild eines Endreichs, „in welchem die Gegensätze von Sozialismus und Nationalismus, von Links und Rechts ihre Aufhebung und zusammenfassende Einheit fand“. (Mohler)

Sind das nicht akkurat die Stichworte der Gegenwart? Links und Rechts gibt es nicht mehr, die Epoche der Ideologien ist vorbei. Alles trifft sich in der Mitte. Merkel hat keine Überzeugungen. Die Parteien ähneln sich immer mehr. Alternativen haben sich in Luft aufgelöst. Jede Partei kann mit jeder koalieren. Die da oben reden doch alle dasselbe! Aufklärung ist totalitär, Moral und Menschenrechte sind nur Vorlagen für Tugendterror.

Völlig konform die Ideen der Konservativen Revolution – manche sprechen auch von der Deutschen Bewegung –, die sich als „Kampf gegen die Ideen der Französischen Revolution und der europäischen Aufklärung versteht“.

Doch jetzt kommt eine wichtige Unterscheidung. Die Deutsche Bewegung verstand sich als Kampf gegen eine von außen kommende Überfremdung, der der Wiedergewinnung einer längst verschütteten deutschen Originalität dienen sollte. Heute sehen wir eine Reaktionsbewegung am Werk. Nicht deutsche Ursprünge werden gesucht – die sind durch die Verbrechen des Dritten Reiches tabuisiert –, sondern fremde Über-Ich-Anleihen, vornehmlich aus den USA, die blind und taub nachgeahmt werden.

Wie kann Deutschland zu sich kommen? Indem es seine eigenen historischen Wurzeln ausgräbt – doch deren pathologisches Gift radikal ausbrennt und nur das Humane und Menschheitsverbindende entnimmt.

Die Biografie einer Nation ist ihre Geschichte. Wer zu sich kommen will, muss seine Biografie begriffen haben. Deutschland hat nicht mal das Problem verstanden. Von somnambulen Intellektuellen lässt es sich bescheinigen, dass es seine Kriegsverbrechen im Status bewusstseinsloser Schlafwandler und unschuldiger Nachahmungstäter begangen hat.

Schlaf Deutschland, schlaf und blök nicht wie ein Schaf,

Sonst kommt das amerikanische Hündelein, und beißt mein böses Kindelein.

Schlaf, Deutschland, schlaf.