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Samstag, 29. Dezember 2012 – Die unlösbaren Probleme der Demokratie

Hello, Freunde der Freiheit,

Jesselyn Radack war Anwältin im amerikanischen Justizministerium, zuständig für die Einhaltung ethischer Maßstäbe. Als sie ihrem Job nachkam und sich gegen die Verletzung ethischer Standards zur Wehr setzte, wurde sie von der eigenen Regierung verfolgt und bedroht.

Sie hatte gegen die Methoden des Staatsapparats protestiert, einen verdächtigen Mann – Charles Lindh, der als amerikanischer Taliban galt – ohne anwaltlichen Beistand zu verhören und zu foltern. Ihm drohte die Todesstrafe. Radack hatte Beweise, dass die Regierung gelogen und ihr unrechtmäßiges Handeln vertuscht hatte. Als alles nichts half, übergab sie die Papiere der Presse, sie wurde zur Whistleblowerin (= Informantin von rechtlosem Tun der Obrigkeit).

Es gibt in Amerika wohl ein Gesetz zum Schutz der Informanten, aber es taugt nichts. Auf Druck der Regierung verlor Radack zweimal ihren Job in einer Kanzlei. Weil gegen sie ermittelt wurde, bekam sie keinen anderen Job. Ihr Name wurde auf die No-Fly-Liste gesetzt, auf der Personen stehen, die entweder gar nicht mehr fliegen dürfen oder nur unter erheblichen Schikanen.

Gegen die Beschwerden gegen ihre Person vor der Anwaltskammer konnte sie sich nicht wehren, weil diese als geheim eingestuft waren. Ihr Wirken war dennoch nicht erfolglos. Charles Lindh sitzt zwar noch im Gefängnis, doch zum Tode wurde er nicht verurteilt.

Thomas Drake saß früher in Spionageflugzeugen der Regierung und diente auf diese Weise seinem Land, an das er glaubte. Doch nach 9/11 änderte sich alles.

„Drake berichtet, dass die NSA nach dem 11. September 2001 begann, ihre Augen und Ohren auf die eigenen Bürger zu richten. Unterstützt vom Weißen Haus habe der Geheimdienst die Verfassung gebrochen und begonnen, alles und jeden zu überwachen.“

Inzwischen fordern Politiker, dass der Staat alles wissen müsse. Nach dem 11. 9. hätten die USA begonnen, ohne Grund Bürgerrechte und Freiheit zu opfern. Ohne Grund wechselten sie zur „dunklen Seite“. Ohne irgendeine politische und gerichtliche Kontrolle soll die gesamte Kommunikation aller Bürger in den USA überwacht werden.

Dabei ginge es auch um Geld. Die neuen Überwachungsprogramme hätten „unzählige Unternehmer zu Millionären gemacht“. Alle Daten sollen für mindestens 100 Jahre gespeichert werden. Noch immer werden die Bemühungen der USA weiter ausgebaut, ihre Bevölkerung durch Aushebeln des Rechtsstaates zu schikanieren.

Thomas Drake will alles gegen diesen Trend unternehmen: „Ich möchte nicht in einem Land wie der DDR leben.“

(Patrick Beuth und Kai Biermann in der ZEIT über den Überwachungsstaat USA)

Die liberalste Gesellschaft der Welt wird bald die unfreieste sein, ohne dass sie das bemerken müsste. Unter den allsehenden Augen der NSA (der Nationalen Sicherheitsbehörde) können sie Geld scheffeln, solange sie die wahre Macht respektieren.

Bei Putin begann es ebenso. Zuerst schossen die Milliardäre wie Giftpilze aus dem Boden. Solange sie keine politischen Ambitionen hatten, ließ man sie gewähren. Als Chodorkowsky politischer Messias werden wollte, schlug die Staatsgewalt zu.

Warum ist es für religiöse Menschen kein Problem, rund um die Uhr beobachtet zu werden? Weil sie schon immer von ihrem allwissenden, allgegenwärtigen und allmächtigen Gott rund um die Uhr beobachtet wurden. Ob von Gott oder von einer gottähnlichen NSA, es kommt aufs Gleiche hinaus. Sieht Gott alles? fragte das Mädchen – und errötete.

Beobachtet werden ist Belastung und Entlastung zugleich. Gott sieht alle Sünden, gleichzeitig unternimmt er nichts gegen das Böse, also kann der Mensch saubeuteln, wie er lustig ist. Hätte Gott etwas gegen sein unmoralisches Leben einzuwenden, könnte er ihn ja nach Belieben aus dem Verkehr ziehen. Der christliche Westen hat sich seit 1500 Jahren daran gewöhnt, bis auf die Knochen durchschaut zu werden. Lieber wollen sie einen strafenden Blick auf ihr Leben als überhaupt keinen.

„Sieht er nicht meine Wege und zählt alle meine Tritte?“ fragt Hiob.

Und die Bösen „zertreten das Volk und bedrücken Gottes Eigentum, erwürgen Witwen und Fremdlinge und denken: Der Herr sieht es nicht.“ Doch merkt‘s euch: „Der das Auge gebildet, der sollte nicht sehen?“

„HERR, Du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht alles wissest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Solche Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch; ich kann sie nicht begreifen.“ ( Altes Testament > Psalmen 139,1 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/psalm/139/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/psalm/139/“>Ps.139,1 ff)

„Und kein Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, vielmehr ist alles entblößt und aufgedeckt vor seinen Augen, dem wir zu Rede stehen haben.“ ( Neues Testament > Hebräer 4,13 / http://www.way2god.org/de/bibel/hebraeer/4/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/hebraeer/4/“>Hebr. 4,13)

Religion ist kein folgenloses Fürwahrhalten, sondern eine aktive Selbsterfüllung. Woran der Glaube glaubt, das stellt er her. Mehr als 1000 Jahre christlicher Besamung auf abendländisch-amerikanischem Boden und die Moderne wurde die irdische Erfüllung aller biblischen Verheißungen. Das Kind, das den nackten Kaiser sieht, hat den naiv-göttlichen Blick, dem nichts verborgen bleibt.

Ein Glaube handelt von der Erschaffung der Welt, der Geschichte der Welt und dem Ende der Welt – und all das sollte nur „privat“ und nicht politisch sein? Das ist so absurd, wie wenn Dschingis Khan seine ungeheuren Landeroberungen als private Prozessionen deklariert hätte.

Der Glaube gibt sich nur solange privat, solange er im Staat nicht genug Macht angesammelt hat, um seinen klerikalen Willen der weltlichen Gewalt aufzuzwingen. Ist er obenauf, bringt er den Völkern die Nächstenliebe auch mit inquisitorischer Gewalt bei, wobei er das ordinäre Hauen, Stechen und Foltern zumeist ihren weltlichen Knechten überlässt. Kleriker machen sich nicht gern die Finger mit dem Blut ihrer Opfern schuldig.

Hat es überhaupt Sinn, von Säkularisierung zu reden, als ob es eine Fehlform des Glaubens wäre? Von Verweltlichung im abschätzigen Sinn reden nur die diejenigen, die an einen Himmel glauben und die Erfüllung des Glaubens im Jenseits erwarten. Verbannen wir Jenseits ins Reich der Ammenmärchen und betrachten den Glauben als das, was er ist: als Versuch, die globale Macht und Herrlichkeit hienieden zu erobern.

Somit ist er Konkurrent aller anderen weltlichen Mächte und Gewalten, aber nicht in national-abgezirkelter Gestalt – wie Russland gegen die USA –, sondern vertrackter und raffinierter in wechselnden Kostümen. Meist überlässt die Geistlichkeit die Macht über die Leiber der Menschen den Polizisten und Soldaten der weltlichen Regierungen. Sie legen Wert auf die geistliche Macht, das ist die Macht übers Denken, Fühlen und Glauben ihrer Schäfchen. Wer Kopf und Gemüt besetzt hält, kontrolliert auch den physischen Rest.

Die Kirche ist ein Gegenstaat – natürlich ein idealer Staat –, der den weltlich unvollkommenen Staat solange benötigt und respektiert, solange das Ende der Dinge noch nicht herbei gekommen ist. Augustin nennt den Staat eine Räuberhorde – aber nützlich und sinnvoll, solange die Menschheit in Sünde lebt, raubt, mordet, lügt und stiehlt. Im status corruptionis brauchen wir Polizei, Militär und weltliche Gesetze, damit nicht zur Unzeit das Chaos auf Erden ausbricht.

Zwar ist die Kirche der vollendete Staat – civitas dei –, doch die Vollendung ist solange nicht sichtbar, solange der Herr nicht wiedergekommen ist. Es ist eine unsichtbare Perfektion, die geglaubt werden muss, weshalb Augustin von der Unsichtbaren Kirche spricht. Alles, was man äußerlich von der Kirche sieht – Pracht, Gepränge, Eitelkeit – ist noch der Sünde geschuldet und wird abfallen, wenn der himmlische Bräutigam kommt.

Vermutlich hat Adam Smith an die Perfektion der Unsichtbaren Kirche gedacht, als er seine Unsichtbare Hand aus dem Zylinder zauberte, um die Perfektion der wirtschaftlichen Vorgänge zu beschwören – die man auch glauben muss. Schon ein dicker Hund, wenn alle egoistisch drauflos wirtschaften können, aber am End kommt alles dem Gemeinwesen zugute.

Wäre das so, wäre der Egoismus kein bornierter Eigensinn, sondern die Synthese aus theologisch definiertem Egoismus und Altruismus. Ein wohl durchdachter Egoismus wäre ein wohl durchdachter Altruismus. Wer sich selber am meisten nützt, nützt am meisten der Gesellschaft und vice versa. Hätten einige biblische Schriftsteller den Heiden Aristoteles gelesen, wären sie gar nicht auf die Idee gekommen, Ego und Alter als absolute Gegensätze zu sehen.

Ist der Mensch ein politisches Wesen, so nicht, weil er es aus saurer Mühe sein muss, sondern weil es ihn in die Gemeinschaft drängt. Weil er Bedürfnisse nach Menschen hat. Weil er unter Menschen sich am besten als Mensch fühlen kann. Weil er Menschen braucht. Weil er Menschen etwas geben und etwas von ihnen erwarten kann. Weil nur in Gemeinschaft ein sozialer Stoffwechselkreislauf installiert werden kann, der allen Beteiligten ein stolzes Wir-Gefühl vermittelt, das nicht auf der Abwertung anderer beruhen muss. Hier ist der Mensch dem Menschen kein Wolf, sondern ein Genosse, ein Mitarbeiter an der Polis, ja, ein potentieller Freund.

Die beste Polis besteht aus Freunden. Ziel der Demokratie ist Freundschaft. Die besten Demokraten sind diejenigen, die Freundschaft miteinander einüben.

Freundschaft ist eine politische Tugend bei Aristoteles. Bei uns wie in allen Dingen: verkehrte Welt. Freundschaft ist bei uns etwas Privates und Sentimentales. Werde ich aus Karrieregründen nach Singapur versetzt, entsorge ich die alten Freunde wie Sperrmüll. Freunde sind im ubiquitären Wettbewerb zeitlich begrenzte, beliebig austauschbare, nützliche Tierchen.

Bei Kant ist die Würde des Menschen nur gewahrt, wenn ich ihn nicht als Mittel, sondern als Zweck an sich betrachte. Im Kapitalismus wird der Mensch dieser Würde beraubt und zum Instrument, zum Werkzeug degradiert. In dieser Hinsicht ist der Kapitalismus nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und müsste von Karlsruhe sofort verboten werden.

Juristen im Kapitalismus, die sich das Denken noch nicht völlig verboten haben, erkennt man an ihren traurigen Gesichtern, die sie oft hinter grimmigen Mienen verstecken. Sie wissen, dass Eigentum der Gemeinschaft verpflichtet ist. Sie wissen aber auch, dass in der Realität die Eigentümer immer mehr zur amerikanischen Position der Superreichen übergehen, die Gemeinschaft sei ihnen zu Dank und einem geringen Steuersatz verpflichtet.

Am besten sollte man sie dafür bezahlen, dass sie die Mühe auf sich genommen haben, reich zu sein. Das ist ein großes Opfer, das sie im Dienst der Gesellschaft bringen. Schon diesen Neid und diese Eifersucht der Vielzuvielen ertragen zu müssen, dazu braucht man ein großes Kreuz.

Die ARD sollte nicht immer diese schrecklichen Spendensendungen für weit entfernte Menschen machen, denen man auf der einen Seite Almosen zuschiebt und auf der anderen die Rohstoffe des Landes wegstibitzt und deren Landwirtschaft durch europäische Subventionitis platt schlägt.

Stattdessen sollte sie Sympathiesendungen für unsere Großen, Starken und Kühnen veranstalten. Obermann, du bist der Größte, warum gehst du? Ackermann, wir vermissen dich, komm stante pede nach Deutschland zurück. Wenn wir nicht einsehen, dass auch Finanzlöwen, Kredithaie und Hedge-Fonds-Heuschrecken nicht nur von Knete leben, sondern von der Anerkennung der Gesellschaft, laufen wir Gefahr, dass sie nach Belgien abwandern und mit Gerard Depardieu zusammen in geschlossenen Vierteln ihr jämmerliches Leben betrauern.

Man könnte die grundsätzliche Frage stellen, ob wirtschaftliche Beziehungen und Würdeverhältnisse sich nicht gegenseitig ausschließen. Denn jede wirtschaftliche Connection beruht auf Gegenseitigkeit. Do ut des: ich nütze dir, damit du mir nützt. Der Mensch an sich kommt hier nicht vor. Jeder ist jedem ein Mittel zum Zweck. Wenn Wirtschaft das gesellschaftliche Leben dominiert, gibt’s keine Menschen an sich mehr.

Man vergleiche die zwei Bücher von Adam Smith – überhaupt ein ungehobener Schatz zur Analyse der Gegenwart. In seinem ersten Ethikbuch schreibt er weit ausholend vom „Wohlgefallen, welches durch gegenseitige Sympathie erzeugt wird“. Im zweiten ein Klimasturz. Im Verhältnis zwischen Metzger und Bäcker geht’s zu wie auf einem Pferdemarkt: wie weit kann ich diesem Burschen vertrauen?

Es herrscht kein Grundvertrauen, sondern eine von Misstrauen genährte Vorsicht. Der Andere wird nicht wegen seiner Menschlichkeit, sondern seiner Expertenfähigkeit wegen geschätzt. Jeder kennt die weltberühmten Sätze:

„Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil. Niemand möchte weitgehend vom Wohlwollen seiner Mitmenschen abhängen, außer einem Bettler, und selbst der verlässt sich nicht allein darauf.“

Das sind schon empfohlene Schlitzohrigkeiten, vorgetragen von einem behüteten Muttersöhnchen, das in der Welt den abgebrühten Bazarhändler mimen will. Was hat sich zwischen den beiden Büchern ereignet? Die Fachleute sagen durchweg: nichts. Es handele sich nur um die verschiedenen Seiten derselben Medaille.

(Nebenbei zur Qualität dieser Fachleute: Im Register des Wohlstandbuchs stehen unter Freiheit drei Einträge, die nicht im Originaltext zu finden sind, sondern – im Vorwort des Herausgebers. Da muss einer gemerkt haben, wie absurd es ist, Adam Smith zum Vater der wirtschaftlichen Freiheit oder des neuzeitlichen Liberalismus zu ernennen, doch über Freiheit hatte dieser offenbar nichts zu sagen. Im ersten Buch übrigens auch nicht. Hier sind deutsche Schlaumeier am Werk, die ein so wichtiges Werk wie das des braven Schotten nicht verstehen wollen, sondern als Propagandawerk missbrauchen.)

Im ersten Buch wird gut aristotelisch über Freundschaft geschrieben: „Freundschaften können nur unter tugendhaften Menschen bestehen. Nur tugendhafte Menschen können gegenseitig jenes völlige Vertrauen in das Verhalten und Benehmen des anderen empfinden, welches ihnen allezeit die Versicherung zu geben vermag, dass sie niemals den anderen beleidigen, noch von ihm beleidigt werden können. Das Laster ist immer launenhaft, die Tugend hält sich an Regel und Ordnung.“

Mensch Adam, wenn du unser geregeltes und absolut unlaunenhaftes Lastersystem erleben würdest, was würdest du heute dazu sagen? Geht’s mit einem Betrieb abwärts, werden die Leute hinausgeworfen: das ist Naturgesetz geworden. Was, wenn ein Freund einen Freund werfen müsste? Muss der Geworfene so fair sein, dass sein Freund ihn nur aus übermoralischen Gründen geworfen hat? Zerbricht die Freundschaft? Sollte sie von ökonomischen Gesetzen unberührbar sein? Darf ich mich nicht beleidigt und gekränkt fühlen, wenn ich meinem bisherigen Leben entrissen werde? Soll es ein Trost sein, wenn dies allen passieren kann?

Heute können Existenzen bis auf den Grund vernichtet werden, in Amerika werden die Leute von heut auf morgen aus ihren Häusern geworfen, bei uns wird zahlungsschwachen Familien einfach der Strom abgestellt und sie sitzen wochenlang im Dunkeln und Kalten – muss man dies, weil es überall und gesetzmäßig vorkommt, als tugendhafte Naturgesetze betrachten?

Oder müssen wir sagen: das Laster der Unmenschlichkeit ist zur Regel und Ordnung geworden? Menschlichkeit hingegen in der Form von Super-Charity gibt sich als launenhafte und willkürliche Gnade und Barmherzigkeit?

Die Kirche als Gottesstaat denkt gar nicht daran, den staatlichen Sauhaufen zu reformieren. Weil es unmöglich sei. Der weltliche Staat muss untergehen am Ende der Geschichte, dann kommt die offizielle Inthronisation des Gottesstaates, der aus einer unsichtbaren zu einer sichtbaren Kirche wird.

Die Protestanten geben sich heißblütiger – und unehrlicher – als die katholischen Kaltfische, die wenigstens nicht so tun, als wollten sie das Paradies auf Erden etablieren. Zwar haben sie – erst nachdem ihnen Marx schon die große Masse der Gläubigen weggeschnappt hatte – ihre katholische Soziallehre zusammengestoppelt, allein es sollen nur Pflästerchen sein auf den unheilbaren Wunden der sündigen Kreatur.

Der linke Katholik Geißler, ein bulliger Lutheraner, erweckt permanent den trügerischen Eindruck, als ob die versammelte Christenheit, wenn sie sich nur an die Geißler‘schen Maximen hielte, den Garten Eden auf Erden zurückerobern würde.

Im Judentum geschahen ähnliche Dinge, als die Ultras den neuen Staat Israel ablehnten und den gottlosen Zionisten vorwarfen, ein eschatologisches Gebilde zu entwerfen, dessen Wiedererrichtung dem Messias vorbehalten sein sollte. Heute beherrschen die Ultras den Staat, den sie ablehnten.

In Deutschland kaum anders. Zuerst bekämpften die Kirchen Demokratie und Menschenrechte bis aufs Messer, jetzt tun sie, als hätten sie alles erfunden.

Im Duell zwischen civitas dei und civitas terrena – Kirche und Staat – sitzen die Kleriker immer am längern Hebel. Für nichts fühlen sie sich verantwortlich – die Sünde verdirbt alles – aber in alles mischen sie sich ein, weil ohne Gottes Segen der Staat vor die Hunde ginge.

Den Streit zwischen Kaiser und Papst haben die Deutschen schon mal verloren und dabei ihre mittelalterliche Macht und Bedeutung bis auf den Grund eingebüßt. Indem sie tun, als wollten sie verbessern und reformieren, warten sie nur darauf, dass die „große Not“ ausbricht, wo sie als große Nothelfer wieder gebraucht werden. Das wird die Demokratie teuer bezahlen müssen.

Seitdem das Christentum die Bühne der Weltgeschichte betrat, hat es alles mit seinem Schwarzweißdenken durchsäuert. Entweder-Oder. Entweder Ich oder Du. Entweder Egoismus oder Altruismus, Feind oder Bruder. Man soll seinen Feind lieben, aber Feind bleibt er. Man soll den Fremden im Lande nicht bedrücken, doch Fremder bleibt er. Man soll gute Werke tun, aber die Welt wird nicht besser. Man soll seinen Nächsten lieben, doch zum Glaubensgenossen wird er nicht.

Die guten Werke dienen nur dem Punktesammeln für die eigene Seligkeit. Der andere bleibt Mittel zum Zweck, Objekt vorgeschriebener Liebestaten, die ihm nicht zum Heil gereichen. Ob er von mir eine warme Suppe erhält oder nicht: wenn er nicht zur Schar vorausbestimmter Erwählter gehört, wird er der Hölle nicht entkommen.

Die griechische Philosophie war keine dualistische. Da gab es ein Kontinuum gemeinsamen Lernens in der Polis. Bombastische Nächstenliebe war nicht nötig, ja kontraproduktiv wie die heutige Entwicklungshilfe, weil die Polis selbst dazu erfunden wurde, um das menschliche Miteinander durch demokratische Regeln und irdische Weisheit zu gestalten.

Deshalb gab es heftige Streitigkeiten um Gerechtigkeit und Gleichheit, damit jeder Polisgenosse gar nicht erst in eine Notsituation fällt, die eine willkürliche Liebesintervention notwendig macht.

Ein Staat, ein politisches Gebilde, eine globale Menschheit, in welcher Nächstenliebe nötig ist, hat versagt. Welche Mutter lässt ihre Kinder so verelenden, dass nur noch Sanitäter mit Notmaßnahmen sie retten können?

Eine humane Demokratie muss das Ziel haben, alle ihre Bürger so verlässlich zu behandeln, dass sie in Ordnung und Regel – und nicht zufällig oder launenhaft – ein Leben nach ihrem Wohlgefallen führen können.

Zum Dualismus des westlich-christlichen Staates gehört der unüberbrückbare Gegensatz von Darwin‘scher Auslese im wirtschaftlichen Bereich und der generellen Vorsorge der Polis für alle Mitglieder. Auch die Haupttugenden der Demokratie sollen au fond unverträglich sein: Entweder Freiheit oder Gerechtigkeit. Risiko oder Sicherheit. Individuum oder Gesellschaft. Wachstum oder Untergang. Hierarchische Leistung oder Mitsprache am Arbeitsplatz. Entweder Maloche rund um die Uhr oder – ein unnützes Leben in Muße.

Immer muss, was uns lieb und teuer ist, mit Kosten bezahlt werden, sodass wir gleich wieder abwinken. Lohnerhöhungen? Auf keinen Fall, sonst fallen wir im nationalen Wettbewerb zurück. Mehr Freizeit? Auf keinen Fall, sonst überholen uns die andern. In allen Dingen soll es uns besser gehen, bloß wirklich besser gehen kann es uns nie. Die Bratwurst, die uns vor der Nase baumelt, riecht immer verlockender – allein, wir erreichen sie nie.

Der Althistoriker Pöhlmann hat das christliche mit dem griechischen Denken verglichen. Über das Neue Testament schreibt er: „Die Idee der Erlösung und die Botschaft von dem Anbruch einer neuen Weltperiode in jener seit Jahrhunderten bei den Völkern des Orients und besonders bei den Juden verbreiteten Erlösungssehnsucht, der die gegenwärtige Welt so sehr der Herrschaft einer finstern widergöttlichen Macht ausgeliefert erschien, dass man eine Rettung nur noch von einem wunderbaren übernatürlichen Eingriff, von einem Erlösergott oder himmlischen Heiland erhoffte.“

Damit wäre erklärt, warum die Moderne nur unlösbare und überkomplexe Probleme und Antagonismen produziert, niemand versteht sie und niemand wird sie lösen: der Heiland muss auch noch was zu tun haben.

Demgegenüber Pöhlmanns Vergleich der griechischen mit der modernen Demokratie. Die athenische Demokratie war beherrscht von Ideen der Freiheit und Gleichheit, die weit „radikaler verwirklicht waren als in irgendeinem demokratischen Gemeinwesen der Neuzeit. Selbst das „freie“ Amerika hat sich bisher noch nicht zur Höhe der Demokratisierung erhoben, wie sie Athen schon im 5. Jahrhundert erreicht hatte.“

Vorwärts, Kameraden, wir müssen zurück.