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Samstag, 25. Februar 2012 – Hitler und Stalin

Hello, Freunde des Stanislaw Petrow,

den kennen Sie nicht? Er war Oberstleutnant der Sowjetarmee, der am 26. September 1983 einen von seinen Computern gemeldeten Raketenangriff der USA auf die UDSSR als Fehlalarm einstufte und damit den Beginn eines Atomkrieges, des Dritten Weltkrieges, verhinderte. Das wurde erst 1998 bekannt. Nun wird er dafür geehrt.

Erinnern wir uns, Petrow kommt aus einem Land, das von Ronald Reagan als Reich des Bösen bezeichnet wurde. Eine ähnlich brenzlige Situation gab es in der Kubakrise, als ebenfalls ein sowjetischer Offizier einlenkte und mit seiner Flotte nach Hause fuhr. Kennedy war wild entschlossen, einen Weltkrieg zu führen, wenn die russischen Schiffe, beladen mit Raketen für Kuba, ihren Kurs fortgesetzt hätten.

Ein gewisser Gorbatschow legte den Kalten Krieg endgültig ad acta, auch er ein Sprössling des Bösen.

Putin macht inzwischen Wahlkampf mit dem Slogan, Russen seien geborene Sieger. Das liege in ihren Genen. Rein zufällig haben amerikanische Wissenschaftler nichts weniger als Gott in den Genen der Bewohner von Gods own country gefunden.

Und was haben Deutsche in ihren Genen? Weder Gott noch Siegermentalität, sondern die Erkenntnis: der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus. Er ist ferngelenkt von – seinem Gehirn. Von wem

das Gehirn der Gehirnforscher ferngelenkt wird, kann nur von experimentellen Parapsychologen festgestellt werden.

Deutsche, lasst fahren die Illusionen, mit Wahrnehmungen oder Verstand die Welt zu erfassen. „Wenn wir glauben, dass wir von Liebe reden, dann sollten wir uns überlegen, wie frei wir überhaupt sind in unseren Entscheidungen.“ Wie sagte jener? Liebe ist die Illusion, mit der listige Frauen gute Männer an die Leine legen, damit ihre Altersrente gesichert ist.

Dass der Mensch nicht Herr im eigenen Hause ist, sagten bereits die renommierten Gehirn- und Seelenforscher Augustin, Luther und Calvin. Unsere Gehirnforschung ist einsame theologische Weltspitze.

Überhaupt sind unsere Grundlagenwissenschaftler voll dabei, das Universum endgültig zu entschlüsseln. Nach dem nicht ganz unbekannten Motto: schneller, höher, weiter. Weg mit Einstein, der keine höhere Geschwindigkeit als die des Lichtes zulassen wollte. Das wäre doch gelacht. Und schon entdeckten sie „überlichtschnelle Neutrinos.“

Dumm nur, dass ein loses Kabel zu vorwitzig war und überlichtschnelle Dummheiten verbreitete. Kann es sein, dass bei Gehirnforschern auch einige Kabel zu locker sitzen?

50 Milliarden sollen reiche Griechen ihrem Staat schulden, die sie ins Ausland verschoben haben. Die Schweiz ist äußerst fürsorglich zu armen Reichen aus aller Welt, die nicht wissen, wohin sie ihren gerechten Mammon vor dem gefräßigen Staat retten sollen. Nun hat die Regierung in Athen zum ersten Mal das Auslandsguthaben eines Unternehmers sperren lassen.

War es nicht ein Grieche namens Aristoteles, der den Menschen als gesellschaftliches Wesen definierte? Der keine Demokratie für funktionsfähig hielt, die von abgehobenen Magnaten oder von ausgehungerten Armen beherrscht würde?

Eine stabile Demokratie brauche einen starken Mittelstand mit minimalen Ausschlägen nach oben oder unten! Bei uns wird jeder Begriff, der mit Mitte beginnt, in die Kategorie Mittelmäßigkeit gerückt.

War die DDR ein totalitäres Regime? War sie unmenschlich wie das Naziregime? Darf man Nationalsozialismus dem Stalinismus gleichsetzen?

Bislang war die Gleichsetzung nicht „erlaubt“, Hitler hatte böser zu sein als Stalin. Begründung: Hitler wollte das Böse als Böses, Stalin wollte das Gute, tat aber das Böse.

Die Kategorien sind demnach folgende: 1. Das absolut Böse: man will das Böse, tut das Böse: Hitler. 2. Man will das Gute, tut das Böse: Stalin. 3. Man will das Böse, tut das Gute: Mephisto. 4. Man will das Gute, tut das Gute: fällt aus wegen Nebel und utopischer Naivität.

Sokrates fiele am ehesten in die letzte Kategorie, aber nur unter der Voraussetzung, dass der Mensch sich täglich überprüft, ob seine Motive mit seinem Tun übereinstimmen. Einen Automatismus des Guten gibt es nicht. Aber auch keinen des Schlechten. Wer sich nicht kennt, könnte besser sein, als er sich fälschlicherweise selbst einschätzt.

Heute gibt es viele Menschen, die besser handeln, als ihnen bewusst sein darf. Da man ihnen als Kinder einredete, unerziehbare und schreckliche Bälger zu sein, verharren sie in negativem Selbstbild, obwohl sie durch Taten längst bewiesen, dass sie dem Fluch ihrer Kindheit hochgradig entronnen sind.

Den umgekehrten Fall erleben wir in wiedergeborenen Kreisen, die sich über alles Böse erhaben fühlen. Gleichgültig, ob sie fremde Länder mit Krieg überziehen, ihre Feinde foltern, die Natur schänden und mit ihrem Reichtum andere Menschen ruinieren.

Bei Sokrates muss man ein Leben lang lernen, streiten und nachdenken, was das Gute ist. Nur, wenn Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung aufeinanderprallen und ihre Differenzen durchfechten können, kann der Suchende sich der Wahrheit annähern.

Das Gute, die Ausmerzung des „Bösen“, ist die Frucht permanenter demokratischer Auseinandersetzungen. Der Mensch mit sich allein kann nur dogmatisch-borniert werden.

Wahrheit ist die langsam reifende Frucht des einzig sinnvollen Wettstreits unter den Menschen: dem Wettstreit um Einsicht und Erkenntnis.

Halten wir zwischendurch fest: in der Moderne gibt es nur Wettbewerb um Zaster und Macht. Das ist die einzige Wahrheit, die bombensicher ist. Daneben gibt’s keine Wahrheiten, also auch keinen Wettstreit der Edlen um die beste und humanste unter ihnen.

Entweder ist die Moderne die verkehrte Welt oder die Griechen standen auf dem Kopf. Diese notwendige Debatte kann nicht geführt werden, denn die Problemlage ist weithin unbekannt.

Wo sortieren wir Paulus ein? Der Mensch ist gut, wenn er nichts mehr will – außer den Willen Gottes tun. Er ist abgrundtief böse, solange er selber etwas will; auch, wenn es das Gute wäre. Außerhalb von Gott gibt’s nichts Gutes. Nicht, was ich will, Herr, geschehe, sondern was du willst. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.

Alles hängt von der richtigen oder falschen Motivation ab, vom richtigen oder falschen Glauben. Ist die Motivation heilig und göttlich, kann der Mensch gar nichts mehr Böses tun. Er ist zur Sünde unfähig (non posse peccare). Ist die Motivation widergöttlich autonom, kann er nichts Gutes tun – selbst, wenn er Sokrates hieße (non posse non peccare).

Die Tugenden der Heiden sind goldene Laster: sie scheinen tugendhaft, sind aber innerlich zerrüttet. Ja, sie sind am bösesten und verstocktesten, denn sie maßen sich an, aufgrund eigener Kompetenz gut zu sein. Und das ist die Sünde wider den Geist, die niemals vergeben wird.

Es klingt selbstkritisch, ja, sokratisch, wenn Paulus schreibt: „denn ich bin mir nichts bewusst, aber darum bin ich nicht gerechtgesprochen.“ (Doch wie geht der Satz weiter? „Vielmehr ist es der Herr, der mich richtet.“ Da der Herr allwissend ist, habe ich kein Mitspracherecht mehr. Mein eigenes Urteilsvermögen ist weggewischt.

Doch wie passt diese Vernichtung der Selbst-gerechtigkeit zu jenem berühmten Satz: „Wer sich selbst richtet, wird nicht gerichtet werden“? Ist das nicht pure Selbst-Justiz und Selbst-Gerechtigkeit? Ich allein bestimme über meine Schuld oder Unschuld?

Sind das nicht Schwankungen zwischen absoluter moralischer Inkompetenz und Omnipotenz? So ist es. Der Mensch als Ungläubiger ist völlig unfähig zur Selbstbeurteilung. Nur der Gläubige, der mit Gott identisch ist, besitzt die unfehlbare Lizenz zur Beurteilung seiner Person und aller Personen.

Verbunden mit Gottes Geist prüft er die Welt. Was „du bindest, das wird in den Himmeln gebunden sein, was du auf Erden lösen wirst, das wird in den Himmel gelöst sein.“ ( „Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und hindurchdringend bis zur Scheidung von Gelenken und Mark der Seele und des Geistes und ein Richter der Gedanken und der Gesinnung des Herzens; und kein Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, vielmehr ist alles entblößt und aufgedeckt vor seinen Augen, dem wir Rede zu stehen haben.“ (Hitler und Stalin wuchsen in diesem Geist allmächtigen und unfehlbaren Richtens auf. Ihr totalitäres Tun war die Vorwegnahme des ultimativen Jüngsten Gerichts. 

Die selbstkritische Suche nach Wahrheit im Verband einer gleichberechtigten Gemeinschaft war jene fleischliche oder irdische Weisheit, die von Paulus verdammt wurde. „Denn unser Ruhm ist dieser: das Zeugnis unseres Gewissens, dass wir in Heiligkeit und Lauterkeit Gottes, nicht in fleischlicher Weisheit, sondern in Gottes Gnade in der Welt gewandelt sind.“ (

Der niederländische Arzt Mandeville war – nach Machiavelli – einer der ersten, der die kirchliche Lehre vom Guten und Bösen aufbrach. Den aufkommenden Wohlstand der Nationen hielt er – gegen die heuchelnen Kanzelreden, man solle ein Leben in Armut führen (die Kirche natürlich ausgenommen) – für etwas Gutes.

Wohlstand oder Gier nach Reichtum seien nicht verdammenswert – im öffentlichen Bereich. Ohne Eitelkeit, Gier und Streben nach Macht säße die Menschheit noch immer auf den Bäumen, hätten keinen Fortschritt, keine Weltgeltung und keine gloriose Zukunft vor sich.

Mandeville stellte den traditionellen Tugendkatalog des Klerus auf den Kopf. Aber nur zur Hälfte, indem er einen faulen Kompromiss schloss: Okay, die neuen Tugenden, die wir benötigen, um groß und stark zu werden, mögen weiterhin im Privaten Laster sein.

Im öffentlichen Bereich aber sind private Laster unerlässliche Tugenden. Nach der Lehre von der doppelten Wahrheit einiger Spätscholastiker – was nach irdischer Logik richtig ist, kann für Gott falsch sein – wurde auch die Moral doppelbödig.

Doppelmoral nennt man normalerweise Heuchelei. Den Boden der neuzeitlichen Heuchelei haben wir noch nicht verlassen, denn Mandevilles Trennung gilt bis zum heutigen Tag: die gutmenschliche Moral, die wir unseren Kindern predigen, gilt in Wirtschaft und Politik als dämlich und realitätsunfähig.

In der Familie Liebe, Friede, Freude, Eierkuchen, draußen in der bösen Welt das Gegenteil. Spätestens in der Pubertät sollten gewitzte Jugendliche den Moralbruch vollzogen haben – synchron mit der Entdeckung ihrer Sexualität, die als Anrüchiges nicht in die familiäre Idylle passt und abgespalten werden muss.

Das Kind ist nicht mehr mit sich im Reinen, denn es muss lernen, bislang für Böse Gehaltenes als befremdlichen Teil seiner Persönlichkeit zu integrieren. Was zum Scheitern verurteilt ist. Der moderne Erwachsene ist ein systematisches Heuchelprogramm auf zwei Beinen oder bewusstseinsgespalten.

Dass Mandevilles Doppelstandard nicht als Heuchelei bezeichnet wird, hängt mit seinem Stand als berühmter Philosoph zusammen, dessen Lehre in renommierten Universitäten an Nachwuchseliten weitergegeben wird.

Wenn gelehrte Leute etwas für richtig halten, traut der gesunde Menschenverstand des Volkes sich nicht, zu rufen: Haltet den Dieb, der Kaiser ist nackt.

Würde man sagen, der Kapitalismus ist ein ordinäres Heuchelprogramm, wären Edelfedern die ersten, die wettern würden, dass die Wirklichkeit mit widerspruchslosen Simplizitäten nicht „abzubilden“ sei. Die Rede von der Komplexität, nur von Komplexitätsexperten zu verstehen, dient der Beförderung der ordinären Heuchelei zu einer Form von Wahrheit, die die Kapazität des normalen Verstandes übersteigt.

Da alles, was das menschliche Erkenntnisvermögen übersteigt („transzendiert“), als göttlich gilt, ist die akzeptierte Form der Gesellschaftsheuchelei zur unantastbaren Wahrheit in den Händen heutiger Priester – der Gelehrten und Feuilletonisten – geworden. Gehet hin in der transzendenten Doppelmoral des Kapitals, die höher ist als eure simple Vernunft.

Mandevilles Lehre lautet in Reinschrift: ohne „heidnische“ Laster kommen wir nicht voran, kriegen wir kein Bruttosozialprodukt, keine Flotte, um ferne Länder zu kapern, dümpeln wir arm und bedeutungslos vor uns hin.

Hier beginnt der Hass auf das wachstumshemmende Gutmenschentum. Das wird nicht – wie vorbildlich bei Machiavelli – klar und deutlich formuliert, dass man die Moral der Popen auf den Mond wünsche. Sondern heute heißt es, vor allem in literarisch hochstehenden Zirkeln: eine Welt bloßer Moral ist sterbenslangweilig.

Nur keine erhobenen Zeigefinger, nur keine Moral von der Geschicht. Der Schriftsteller wird geradezu abgestellt und genötigt, das phantastische und immoralistische Reich jenseits der Bürgeridylle (= Spießerei) so lecker zu beschreiben, dass die Kritiker sich am verbotenen Bösen delektieren können, ohne sich real damit zu beflecken. Man linst durchs Schlüsselloch im Edelbordell, ohne sich mit den Schweinigeleien praktisch einlassen zu müssen.

Anders im Bereich der Politik und Wirtschaft, wo jeder Karrierist sich dadurch zu erkennen gibt, dass er Verhaltensweisen an den Tag legt, die er bei Weib und Kind mit Sicherheit nicht anlegen würde. Doch um des Wohlstandes und der Reputation der Familie willen, muss man Opfer bringen.

Erfolg kostet. Man muss dafür einen „Preis zahlen“: die Illusion nämlich, ein vorbildlich widerspruchsloses und mit sich identisches Moralleben zu führen. Jetzt darf an Himmlers Geheimrede gedacht werden, wo der Widerspruch zwischen privater Idylle und staatlicher Notwendigkeit maximal war.

Adam Smith hat Mandeville zwar kritisch unter die Lupe genommen, aber auch bei ihm klaffen Widersprüche zwischen seinem ersten Moral- und seinem zweiten Ökonomie-Buch. Die Erfindung der Unsichtbaren Hand sollte, als Stoßgebet und Appell zum Himmel, die Reibungen zwischen kaltblütiger Konkurrenz und angesagter Menschenfreundlichkeit überwinden.

Vergeblich. Die Katze war aus dem Sack, die Zauberlehrlinge konnten noch so flehen: Besen, Besen, bist gewesen, der große Meister als Erlöser blieb unauffindbar. Gelegentlich melden sich Charismatiker und Führer, um das Elend mit veritablen Wundern zu beenden. Die Folgen des Wunderglaubens an wortmächtige Rhetoren in allen Variationen erleben wir regelmäßig in Yes, we can-Verheißungen, die in desolaten Kollektiv-Enttäuschungen und politischen Katerstimmungen enden. Bis zum nächsten, noch geistbegabteren Sohn irgendeines Himmels.

Dieselbe Spaltung zwischen selbstzufriedenem Mensch und aggressiver Natur („die Natur weiß es besser“) finden wir bei Kant. Bei Hegel als Schere zwischen Weltgeist-Amoralismus und Kammerdienerei, bei den Romantikern, in der ganzen Deutschen Bewegung bis zu Nietzsches Rat, immer böser zu werden, um besser zu werden.

Seit der Neuzeit gilt, dass das „Böse“ der unerlässliche Motor des Fortschritts in die gleißende Zukunft ist. Das Moralische mag gut sein für Herrn Biedermeier hinterm Ofen, im öffentlichen Bereich der Eroberung der Welt benötigen wir den Sprit des unbarmherzigen, darwinistischen Verdrängungswettbewerbs. Paradies? Öde und langweilig!

Das tägliche Überrennen und Hasten ist das Fluidum, der Sauerstoff, den wir benötigen, um uns kreativ das Neue als Gold der Zukunft aus den Fingern zu saugen. Stillstand ist Rückfall.

Der gute, mit sich zufriedene Mensch ist der selbstzufriedene Feind alles Neuen. Schon seid ihr satt geworden. Permanenter Hunger, Unzufriedenheit und Gier nach Neuem, rücksichtsloses Überlaufen: das sind die Charaktereigenschaften, die das ewig steigende Wohlstandsniveau benötigt.

Zurück zu obigen Moralkategorien. Kategorie 1, das Böse, das man als Böses will, muss gestrichen werden. Das wäre das Böse an sich, was nur in biblischen Märchen- und Gruselbüchern vorkommt. Auch Hitler wollte das Gute. Das muss man konstatieren, unabhängig davon, ob man Hitlers Gutes selbst als gut betrachtet.

Kategorie 3, das mephistophelische Wollen des Bösen, das immer nur Gutes bringt, ist höchstgefährlich und eine Legitimation für alles Schreckliche. Denn: am Ende wird schon alles gut gehen. Wir können noch so hasserfüllt sein auf die Welt, wir sind gar nicht in der Lage, mit Tod und Verderben die Welt wirklich zu schädigen. Das ist ein Freifahrtschein für Chaos und Zerstörung.

Mephistos Devise ist zur Generaldevise der Moderne geworden: keine Angst vor dem Bösen, es muss Gutes draus werden. Diese Haltung ist identisch mit dem Antinomismus der Erlöserreligionen: die wahrhaft Gläubigen sind zum Bösesein ungeeignet. Sie können machen, was sie wollen, die Folgen ihres Tuns sind immer schön, wahr und gut.

Mit diesem Ticket fuhren die Nazis brandschatzend und völkermordend durch die Geschichte. Alles zum Besten der besten Rasse, damit zum Besten der Menschheit. Der Klassiker Goethe als einer der geistigen Urheber des deutschen Verbrechens. Dies als Antwort auf die unsägliche Frage, wie konnte ein solch gebildetes Volk so barbarisch sein? Weil es so gebildet war, dass es mit gedanklichen Bocksprüngen das Böse als Motor des Guten verharmlosen konnte.

In abgeschwächter Form ist dieses „Böse als Motor alles Guten“ auch die Kernideologie des Kapitalismus. Immer vorwärts mit der katastrophalen Weltwirtschaft, es kann nur Gutes draus werden. Was Besseres gibt’s nicht.

Man könnte vom Alphafehler der Überdämonisierung des Bösen sprechen, das ewig angeboren und für den erbsündigen Menschen inkorrigibel ist. Lasst alle Hoffnung auf Besserung fahren.

Und vom Betafehler der Verharmlosung: nur zu mit Verwüstung, Tod und Verderben, die Bilanz muss immer gut sein. Lasst alle Hoffnung auf Besserung fahren, denn niemand muss sich ändern. Alles ist gut, auch wenn’s auf den ersten Blick nicht so ausschaut.

Hitler und Stalin befinden sich auf demselben Level, jedenfalls strukturell. Sie wollten das Gute und taten das Schlechte. Zu diesem Ergebnis kommt auch Micha Brumlik nach der Lektüre des fulminanten Buches von Timothy Snyder.

Man wird ihm auch zustimmen können, dass die DDR kein Stalinismus und kein zweiter Nationalsozialismus war. Dennoch war sie eine, wenn auch milde Ausgabe, eines totalitären Staates. Alles, was nicht demokratisch ist – muss faschistisch oder totalitär sein.

Wir haben eine offizielle Demokratie, aber mit faschistoiden Wirtschaftselementen, die sich papistisch unfehlbar und alleinseligmachend präsentiert.

Wenn Kategorie 1 und Kategorie 3 indiskutabel sind, weil sie das Böse metaphysisch verteufeln oder verharmlosen, bleiben nur noch Kategorie 2 und 4.

Hitler & Stalin wollten das Gute, taten aber das Böse. Das ist die Bestätigung der sokratischen Meinung, der Mensch will stets das Gute. Das Böse, das ihm dabei „unterläuft“, ist die Frucht eines „Irrtums“. Des Irrtums, das subjektive Gute dogmatisch als das Gute an sich zu betrachten, ohne sich in friedlichem Diskurs mit entgegengesetzten und kritischen Meinungen auseinanderzusetzen.

Menschenfeindliche Irrtümer resultieren aus menschenfeindlichen Traditionen. Beide Machtpriester befanden gottgleich, dass ihr Gutes das Gute für alle Menschen sein müsste.

Die Griechen hingegen erschlugen keinen Andersmeinenden mit der Waffe, sondern gingen mit den Waffen der Logik und des Argumentierens in den Agon, den Wettkampf der Geister.

Das beste Ergebnis eines scharfen Disputs war, wenn die besten Argumente siegten. Doch nie in endgültiger Version. Jeder Dialog konnte mit neuen Argumenten solange wiederholt werden, bis entweder Konsens hergestellt werden konnte – oder, und das war die zweitbeste Lösung: die Mehrheit des Volkes entschied.

Wiederum nicht als der Wahrheit letzter Schluss, denn jede Entscheidung konnte durch eine neue Abstimmung revidiert werden. Die Stimme der Mehrheit war ein pragmatischer Kompromiss, um handlungsfähig zu sein, kein ultimativer Orakelspruch.

Die Wahrheitssuche ist ein Prozess, der nie durch einen Machtspruch, eine Tabuisierung oder Immunisierung im Namen einer unfehlbaren Instanz für beendet erklärt werden darf.

Philosophische Wahrheitssuche und demokratische Wahrheitsmethode bilden den Kern einer humanen Volksherrschaft. Alles andere ist totalitär.

Sokrates und irdische demokratische Wahrheitssuche – oder totalitäre Despotie von Größenwahnsinnigen, die sich für allwissend und allmächtig halten?