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Samstag, 19. Mai 2012 – Adam Smith

Hello, Freunde der NATO,

„smart defense“, kluge Verteidigung: so heißt das neue NATO-Konzept. Das alte Konzept muss demnach weniger klug gewesen sein.

Die riesigen Kosten sollen auf mehr Schultern verteilt werden, fordern die USA. Der Libyen-Einsatz habe gezeigt, dass die Europäer in militärischer Sicht auf die Amerikaner angewiesen seien. Dafür bezahlen aber wollten sie nicht. Das müsse sich ändern, gerade die Deutschen müssten mehr für das Militärische blechen, fordert Washington.

Überhaupt wird geklagt, dass die Deutschen ihre militärischen Einsätze eher reduzieren als ausweiten wollten. Damit würden sie ihrer wirtschaftlichen Macht nicht gerecht.

In Zukunft würde die Notwendigkeit steigen, rund um den Globus mit militärischen Mitteln einzugreifen, um sich seine Ressourcenanteile für das Wachstum der Wirtschaft zu sichern.

Russland fühlt sich derzeit von der NATO umzingelt und verweigert die Zusammenarbeit. Der geplante Raketenschirm sei nicht gegen Russland gerichtet, behauptet hingegen die NATO.

Der deutsche Waffenexport scheint ungebrochen weiterzugehen. Sowohl an Israel als auch an Saudi Arabien. „Ich hätte das nicht so entschieden“, sagte Helmut Schmidt.

Viele Deutsche scheinen nicht mehr zu wollen, dass Hunderttausende von Menschen mit Heckler & Koch getötet oder deutsche Panzer demnächst

gegen Demonstranten oder zur Zerstörung christlicher Kirchen eingesetzt werden. Das Bündnis „Aktion Aufschrei- Stoppt den Waffenhandel“ scheint Zulauf zu haben.

 

Die Wahlbeteiligung nimmt ab. Vor allem untere Schichten beteiligen sich nicht mehr an der Bestimmung der Repräsentanten. Man hat sie abgehängt, nun rächen sie sich, indem sie sich demokratisch notwendigen Ritualen verweigern. Gut gebildete Mittel- und Oberschichten werden dadurch zur Mehrheit, die ihre Interessen auf legale Weise durchsetzen können.

Auch hier ahmt Deutschland amerikanische Verhältnisse nach, wo unliebsame Wählerschichten mit List und Tücke von den Urnen ferngehalten werden. Die Einflussreichen wählen die Einflussreichen.

Durch wirtschaftliche Aussonderung verwandeln sich Demokratien in Aristokratien. Der Name ist geschmeichelt, die dominierenden Eliten sind nicht die Besten, die aristoi. Man müsste von Timokratie oder Plutokratie sprechen, die Herrschaft der wenigen Vermögenden oder Reichen.

Demokratien erhalten sich nicht von selbst. Auch die Deutschen haben schon gezeigt, wie man einen Führer ohne Putsch an die Macht bringen kann. Wenn es keine Demokraten mehr gibt, die die Volksherrschaft verteidigen, wie soll sie vor Verfall bewahrt werden?

Terrorverdächtige dürfen in den USA auch weiterhin auf unbestimmte Zeit in Gefängnissen festgehalten werden. Entschied das Repräsentantenhaus mit republikanischer Mehrheit. „Wir müssen uns klar machen, dass wir im Krieg sind“, sagt ein Republikaner, „und nicht bei einer Polizeiübung.“ Am besten, die USA erklären der ganzen Welt den Krieg, dann können sie die Menschenrechte vollends einmotten lassen.

Die USA sind nicht länger ein von einer weißen Mehrheit bevölkerter Staat. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte ist weniger als die Hälfte aller Neugeborenen weiß. Was Huntington vor wenigen Jahren noch befürchtete, wird immer mehr zur Realität: die Dominanz der weißen, puritanischen Herrschaftseliten beginnt zu schmelzen.

Die demoskopische Politik: Seid fruchtbar, mehret euch und erobert mit eurem Nachwuchs die Macht, ist nicht nur in Israel voll in Gang. Die Weißen kriegen immer weniger Kinder, das ist die Chance der bislang Unterdrückten.

Der Anthropologe David Graeber ist einer der Initiatoren der Occupy-Bewegung. Er glaubt, dass die Zeit für Veränderungen gekommen sei. Der globale Finanzkapitalismus sei dabei, sich gekonnt selbst zu zerlegen. „Wir werden dramatische Umbrüche erleben“. Die Bewegung wolle zeigen, dass eine direktere Demokratie möglich sei.

Studieren sei kaum noch erschwinglich, Arbeiter verlören ihre Jobs oder könnten sich von ihrer Arbeit nicht mehr ernähren. Wall Street sei zum Inbegriff der Selbstsüchtigkeit geworden.

Kritiker werfen der Bewegung Konzeptlosigkeit vor. Doch Graeber meint, von oberen Instanzen etwas fordern, sei zu wenig: „Damit akzeptieren Sie die Existenz und Funktion dieser Instanz.“ Stattdessen experimentiere die Bewegung mit Formen einer direkten Demokratie. Entscheidungen sollten nicht mehr von wenigen Mächtigen getroffen werden. In der Tat, das wäre Demokratie: Herrschaft der Vielen und nicht der Wenigen und Auserwählten.

Ist es nicht merkwürdig, dass in Demokratien aufgewachsene Demokraten mit Gruppenexperimenten erproben müssen, wie Demokratie funktioniert? Das lernt man offenbar in keiner Schule, in fast keinen Familien, an keiner Uni. In Kirchen sowieso nicht.

 

Der Sozialismus hat sich von hinnen gemacht, den Neoliberalismus werden wir auch noch schaffen. Versprochen. Aber welchen? Es gibt den klassischen Liberalismus, es gibt den deutschen und den amerikanischen Neoliberalismus, die so weit voneinander entfernt sind wie Amerika von einem Rechtsstaat.

Philip Plickert hat vor Jahren eine hochinteressante Darstellung der Mont Pèlerin Society (MPS) vorgelegt: „Wandlungen des Neoliberalismus  Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der „Mont Pèlerin Society“.

Dieses jährliche Treffen wichtiger Ökonomen aus Europa und Amerika auf Initiative Hayeks in der idyllischen Schweiz – am Mont Pèlerin, dem Pilgerberg, (der richtige Ort für auserwählte Ökonomiepilger in Gottes eigenem Land) – war die Urmutter aller ökonomischen Denkfabriken.

Ursprünglich war der Name Neoliberalismus – im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft – schon vor dem Krieg von Walter Lippmann, einem amerikanischen Journalisten, auf einem internationalen Treffen in Paris geprägt worden.

Nach dem Krieg versammelte der schon früh nach England emigrierte Friedrich August von Hayek – der sich als Gegner von John Maynard Keynes einen Namen gemacht hatte – die renommiertesten Wirtschaftswissenschaftler der Welt. Unter ihnen auch Walter Eucken, der Ordoliberale aus Freiburg, der sich durch Widerstand gegen das Naziregime seinen integren Namen bewahrt hatte.

Später kamen auch Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow dazu. Röpke hatte sich den Nazis durch Emigration in die Schweiz entzogen, Rüstow war, wie viele andere Intellektuelle, in die Türkei geflüchtet, wo er sein Monumentalwerk „Ortsbestimmung der Gegenwart“ in drei Bänden geschrieben hatte. Ein außerordentliches Werk, das wegen Demenz der Gegenwart völlig in Vergessenheit geriet.

Nach einer gewissen Anwärmzeit im Zeichen der Rehabilitation der Deutschen wurden die Differenzen zwischen der Eucken-Gruppe und den Chikago-Boys unter Milton Friedman immer deutlicher. Bis es zum endgültigen Bruch kam, der auch von Ludwig Erhard nicht verhindert werden konnte.

Friedman propagierte den heute weltweit dominierenden, möglichst staatsfreien, Neoliberalismus mit unfehlbarem Markt. Die Deutschen widersetzten sich mit einer sozial eingestellten Marktwirtschaft unter klaren Regeln des Staates, die sie – da viele von ihnen katholisch waren, (Eucken war gläubiger Protestant und mit einer Jüdin verheiratet) – Ordoliberalismus nannten.

An einen allmächtigen und unfehlbaren Markt glaubten sie nicht, es musste Ordo, Ordnung, herrschen in einer Wirtschaft, die allen Menschen verpflichtet war und nicht nur die Kampfarena stellte, in der die Stärksten den Hauptprofit abräumten.

Im Gegensatz zu seinen katholischen Kollegen war Rüstow Atheist, der auf Anraten seines Freundes Röpke auf die Publikation seines christentumskritischen Werkes verzichtete. Die theologische Restauration der Adenauerzeit konnte ihren Lauf nehmen. Der abschreckende Begriff Ordo-Liberalismus suggerierte einen katholisch gezähmten Kapitalismus, als ob die Kirchen nicht schon immer alle Systeme absegnet hätten, die ihnen Privilegien eingeräumt hatten.

Plickert gibt in der FAZ einen Überblick über die verschiedenen Neoliberalismen. Doch auch er übergeht Rüstow und Röpke und konzentriert sich auf die Auseinandersetzung zwischen Eucken auf der einen und Friedman/Hayek auf der anderen Seite.

Hayeks Durchbruch in England begann mit der Thatcher-Regierung. Fast synchron schlug Friedmans Stunde mit Reagans Präsidentenzeit. Der amerikanisch-angelsächsische Neoliberalismus begann in den Turbo zu schalten und entfernte sich immer mehr von Roosevelts New Deal und der rheinischen Marktwirtschaft.

Thatcher eliminierte die Gewerkschaften und etablierte in London ein allseits herrschendes Bankensystem, Reagan begünstigte die Superreichen in Amerika, die schnell von Millionären zu Milliardären mutierten, während die unteren Schichten abgehängt wurden. Wallstreet wurde zum Mittelpunkt der Welt.

Die veralteten und nicht mehr konkurrenzfähigen Produktionsindustrien in England und in Amerika wurden zurückgefahren. Der Finanzterror der Zocker und Spekulanten nahm seinen Lauf. Das Geld vermehrte sich per Selbstbestäubung, materielle Anreize und Befruchtungen wurden allmählich entbehrlich. So schien es.

Während der klassische Liberalismus à la Smith auf Arbeit setzte, arbeitet das Geld heute mit sich selbst. Es hat sich selbständig gemacht und sein eigenes ätherisches Reich über den Häuptern der Sterblichen und Malocher errichtet. In Bruchteilen einer Sekunde errechnen die schnellsten Computer der Welt Währungsschwankungen zwischen den Ländern, um vollautomatisch den Segen der Welt in die eigenen Scheuern zu fahren.

Plickert kritisiert den ausufernden Oligopol-Kapitalismus der calvinistischen Welt und stellt sich an die Seite Euckens: „Den Neoliberalen kann man den Vorwurf machen, dass sie vor der Krise ihre eigenen Prinzipien nicht ernst genommen haben.“ Kann man oder soll man? Das ist zu lau formuliert und erweckt den Eindruck, als handele sich um eine leicht vermeidbare Entgleisung.

In Wirklichkeit hat das heute weltweit dominierende Wirtschaftssystem nichts mehr mit Adam Smith zu tun, der als Aufklärer Wohlstand und Gerechtigkeit für die Nationen forderte, während Hayeks System nichts war als ein althabsburgisch-katholisches Weltbeherrschungsunternehmen, übersetzt ins Ökonomische.

Bei Hayek war nicht mehr der Mensch das Subjekt der Geschichte, sondern ein allwissender Markt, das geldgewordene Symbol eines unfehlbaren Gottes und seiner irdischen Stellvertreter.

Der Satz: roma locuta, causa finita (Rom hat gesprochen, die Chose ist beendet) wurde auf den Markt übertragen: hat der Markt gesprochen, schweige der Mensch. Er ist mit seinem Latein am Ende. Die Wege des Marktes sind unergründlich, aber weise, dem Verstand des Menschen haushoch überlegen.

 

Schauen wir uns noch Plickerts Darstellung von Adam Smith an. Er schildert Smith als reinen Ökonomen, doch er war mehr. Er war moralischer Aufklärer. In der Wirtschaft sah er ein System, um Not und Ungerechtigkeit des klerikalen und feudalen Despotismus zu beenden und den autonomen Menschen auszurufen. Man könnte sagen, die befreite Wirtschaft war das englische Äquivalent der Französischen Revolution.

Nicht nur im Wirtschaftlichen sollte der energische und selbstbewusste Citoyen sein Schicksal selbst in die Hände nehmen. Die Wirtschaft war nur ein Teil, wenn auch der wichtigste Teil des Fortschritts zur elendbefreiten, umsichtigen und human gesonnenen Menschheit. Waren die wirtschaftlichen Nöte besiegt, gab es kein Hindernis mehr für den ethischen homo sapiens.

Smith war ein exzellenter Kenner und Bewunderer der griechischen Philosophie und hasste die altruismusheuchelnde mittelalterliche Kirche, die Armut predigte und in Reichtum und Macht schwamm. Diese Aspekte kommen bei Plickert, wie in fast allen rein ökonomischen Darstellungen der ökonomischen Schulen, gar nicht vor.

Der Grundgedanke wird unterschlagen, dass die ökonomischen Schulen nichts als Konkretisierungen konkurrierender Philosophien und Theologien sind. Erst wenn man die zugrunde liegenden Gedanken verstanden hat, kann man den Irrsinn der Zahlen und Diagramme entziffern und deuten.

Wenn von Zurückdämmung des Staates die Rede ist, wird unterschlagen, dass es um die feudal-klerikale Plutokratie ging und nicht um eine demokratisch gewählte Regierung, die im Auftrag des Volkes zu handeln hätte.

Hier rächt sich die Uniformierung der Begriffe, unterschiedslos von Staat zu reden. Staat ist nicht gleich Staat. In einer Demokratie hat es keinen Staat zu geben, der eigenwillig und unabhängig vom Volkeswillen agieren könnte. Gibt es ihn doch, muss er zerschlagen werden.

Plickert nennt den Schotten einen Verehrer des kosmischen Gleichgewichts der stoischen Philosophie. Nach dieser Lehre kann es keine großen Verletzungen der universellen Harmonie geben, Natur und menschliche Vernunft – die nichts als Nachahmung der natürlichen Vernunft ist – pendeln wie von selbst in Richtung Ausgeglichenheit und Harmonie.

Das war der Grund für Rüstow, Smith ein allzu großes Vertrauen in die harmonischen Selbstheilungskräfte des Kosmos vorzuwerfen, das ihn daran gehindert habe, die Fehlhandlungen der ausufernden Ökonomie aktiv anzugehen und zu korrigieren. Unter stoischem Einfluss sei Smith zu passiv und fatalistisch geworden.

Auch Rüstow übersieht die Funktion der Unsichtbaren Hand, die nichts Stoisches an sich hatte, sondern ein Relikt des christlichen Glaubens an einen Gott war, der die Ränke des Bösen nur benutzt, um ihn am Ende seines Weges zu führen.

Das war auch der Glaube Goethes in der Selbstbeschreibung des Mephisto: Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Es war auch der Glaube Kants an die überlegene Pädagogik der Natur, die besser weiß, was dem Menschen frommt, als er selbst.

Smith war kein reiner Stoiker, sein Vertrauen in das kosmische Gleichgewicht war begrenzt. Wenn alle Stricke reißen, ließ er sich das Hintertürchen eines in die Natur eingreifenden Gottes offen, der für ausgleichende Gerechtigkeit in der Gesellschaft sorgen würde. Einen solchen übernatürlich intervenierenden Gott kannte die Stoa nicht. Bei ihr gab es nur den Kosmos, der seine Angelegenheiten selbst zu regeln vermag.

Just dieser mäßige und vernünftige Gott des Adam Smith veränderte sein Wesen im Verlauf der folgenden Geschichte und blähte sich zum Deus triumphans des modernen Neoliberalismus, der alles Mäßige missachtete, alle Grenzen überschritt und das Unendliche anzubeten begann.

Die moralisch temperierte, auf Gerechtigkeit und Gleichheit beruhende Modellgesellschaft von Adam Smith verwandelte sich in eine darwinistisch-feindliche Natur, in der der gesittete Markt zum chaotischen Urwald degenerierte, in dem jeder jeden fraß.

Die Ökonomie einer menschheitsfreundlichen Aufklärung hatte sich in ihr blankes Gegenteil verkehrt.