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Samstag, 16. Februar 2013 – Zivilcourage

Hello, Freunde der Zivilcourage,

nach Professor Gerd Meyer ist Zivilcourage „keine Eigenschaft einer Person“. Upps! Nur schnell weg vom Einzelnen – der im Neoliberalismus wie ein absolutistischer Fürst im Zentrum des Geschehens steht. Was Moral betrifft, fühlt sich das Individuum weniger angesprochen.

Zivile Courage ist Mut im Zivilen, nicht beim Duellieren und Kriegführen. Mut gegenüber dem Feind mit Gewehr in der Hand: das ist meistens kein Problem. Mut gegenüber dem Freund, dem Nachbarn, dem Volksgenossen, das ist weniger leicht.

Die Haltung zum Nächsten ist hierzulande von der Agape besetzt, und Liebe deckt alle Fehler zu. Laut Facebook hat jeder Mensch viele Freunde dadurch gewonnen, dass er eine Maschine käuflich erwarb. Freunde aber hat er keineswegs gewonnen. Das Thema Freundschaft gibt es in Deutschland nicht.

Die Beziehung von Marx und Engels, die herausragende Freundschaft unter allen Deutschen, ist die rühmliche Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Wo aber sind die Freunde? Bellarmin mit den Gefährten?“ klagte Hölderlin, seine Jugendfreundschaft mit Schelling und Hegel war beim Eintritt ins Erwachsenleben zerbrochen. Hegels Philosophie war eine Absage an die Schwärmerei des Dreierbundes im Tübinger Stift, wo die hoffnungsvollen Junggenies durch die Losung „Reich Gottes“ verbunden waren. Die Losung hatten sie nicht aufgegeben, aber in der Konkretion des Reiches – da gingen Karrieren und Lebensläufe auseinander.

Goethes Freundschaft zu Schiller war keine gleichberechtigte. Schiller umwarb den erfolgreichen adligen Minister eines Fürstentums, der Geist und Macht zu verbinden wusste – aber nicht im Sinne des jungen Schwaben, der

seine Räuber im badensischen Mannheim aufführen lassen musste, weil im absolutistischen Schwaben nicht daran zu denken war. Schiller musste sich wochenlang in Oggersheim verstecken – wo viele Dekaden später ein Helmut Kohl seine flache Kanzlervilla bauen ließ.

Schiller wollte durch den Dichterfürst Goethe nobilitiert werden, den Kontakt zur revolutionären Basis gab er auf – die es ohnehin kaum noch gab, seitdem die Französische Revolution in die Epoche des Schafotts übergegangen war. „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“ – war der letzte, klägliche Rest vom Schützenfest. Hätte das ungestüme Talent konsequent seinen Weg der Räuber – die man in bestimmter Hinsicht der gewalttätigen „RAF“ vergleichen könnte – ins radikal Demokratische fortgesetzt, wäre er nie auf die Idee gekommen, einem „Fürstenknecht“ seine Avancen zu machen.

Der neckische Schuss des Wilhelm Tell auf den Apfel – jeder verantwortliche Vater hätte in die Luft oder blitzschnell dem Tyrannen ins Herz schießen müssen – war nur Revolte für die schwyzerische Folklore, Remmidemmi fürs Album einer späteren Nach-48er Bourgeoisie, die sich im Grunde nicht vergeben konnte, einem preußischen Junker in die Hände gefallen zu sein.

Ach, was für ein Zufall. Ausgerechnet bei Bismarck kommt der Begriff Zivilcourage zum ersten Mal in deutscher Sprache vor. Seinen Ursprung hatte er in Frankreich (courage civil). In einem Brief schrieb Bismarck: „Mut auf dem Schlachtfelde ist bei uns Gemeingut, aber Sie werden nicht selten finden, dass es ganz achtbaren Leuten an Zivilcourage fehlt.“

Auf dem Felde der Ehre hatten die Neugermanen selten Probleme, aber dem Bruder gleichen Blutes, gleicher völkischer Abstammung einmal die Meinung geigen? Das war schlimmer als der Kainmord an Abel. Das hat sich bis heute nicht geändert. Man muss sich nur als Freund der Deutschen ausgeben und schon du hast Ruhe vor der kleinsten Kritik.

Das Prinzip Kritik ist in Deutschland nicht erfunden worden. Bis heute ist die Antisemitismus-Debatte – die über Nacht in der Versenkung verschwunden ist, als ob alle Probleme gelöst wären; dafür darf man munter über Pferdefleisch schwadronieren – in hohem Maß eine Streitfrage, wie man mit Freunden umgehen soll. Das trifft übrigens nicht nur Israel. Das trifft Amerika, Frankreich, ganz Europa.

Jeder wusste vor Jahren, dass Griechenland noch nicht EU-kompatibel war und dennoch machte man aus falsch verstandener politischer Freundschaft die Augen zu. Mit welchem Effekt? Dass jetzt die nachträgliche Häme kommt, weil man nicht rechtzeitig die Klappe aufmachte. Bei Ungarn nicht anders. Dort wird die Demokratie Stück um Stück kastriert und Berlin und Brüssel gucken zu.

Wenn es um normale Meinungsverschiedenheiten zwischen Paris und Brüssel geht, ist die Jahrhundertfreundschaft schon wieder gefährdet – wenn man den Hysterikern von SPIEGEL und BILD folgen will. Gibt’s leidenschaftliche Debatten im Bundestag, schneiden sie sich die Hälse durch. Das öffentliche Klima ist vergleichbar dem jährlichen Treffen eines bürgerlichen Clans, bei dem es im Untergrund brodelt, doch die Sitten müssen von gusseisernen Ritualen beherrscht sein. Im SPIEGEL wird ständig „abgewatscht und gegiftet“; die Wörter Kritik, Auseinandersetzung, Diskurs, Debatte, Dialog und Streit stehen unter Quarantäne. Was nicht einstimmig ist, steht kurz vor der Zerrüttung.

Die Gründe für dieses Eierkuchenklima sind klerikal-apokrypher Natur: wer seinen Nächsten nicht liebt wie sich selbst und alle Kontroversen mit Lindigkeit und Demut zudeckt, ist ein Abgrund an Landesverrat. Durchwachsen-knorrige, ehrlich-authentische Freundschaften gibt es nicht.

Die marxistischen 68er haben an der Entwicklung ins Schwarz-Weiße nicht unerheblich mitgewirkt. Ganz im christogenen Dualismus des „Erlösers“ Marx nahmen sie alles unter „Ideologieverdacht“, was nicht akkurat ihrer Meinung war. Ihre Eltern und Großeltern hätten noch, ohne mit den Wimpern zu zucken, vom Bösen gesprochen. Die Charaktermasken, der Klassenfeind, die Ausbeuter waren lernunfähige Mammonisten, die nach erfolgreicher Revolution mindestens ihren Kopf verlieren würden.

Marxisten pflegten über sokratisches Lernen ein wieherndes Lachen anzustimmen. Selbst Pädagogik und ganz bestimmt die Moral als Humanisierung der Gesellschaft waren für sie Instrumente zur gezielten Destruktion der revolutionären Klassen. Schon der Neukantianismus hatte die Moralphobie und die heilsgeschichtlichen Automatismen des Trierers auf die Schippe genommen.

Diese Felder sind bis heute nicht aufgearbeitet und haben zur Gedankenblässe der in Formularen redenden Linken beigetragen. Nein, der Einzelne ist nicht gefragt. Nein, mit persönlícher Moral hat Politik nie etwas zu tun. Das Geschwätz übers System hat jegliche Einzelbemühung begraben, bevor sie überhaupt erzeugt worden ist. Man verlässt sich auf die Auswechslung des Systems, bis man schwarz geworden ist.

Der Mangel an Zivilcourage gründet in der Scheu vor der persönlichen Verwegenheit: Tua res agitur, spring, es geht um deine Sache, warte nicht immer auf die Meute, die gar nicht daran denkt, aus der völkischen Gemeinschaft auszuscheren.

Dass heute jeder Einzelne forciert seinen Weg, seinen Trip, sein Ding machen muss, hängt damit zusammen, dass er’s im normalen Leben gar nicht macht. Wenn jeder seinem heils-egoistischen Seligkeitskurs folgt, sind wir wieder bei Bunyan. Der breite Weg der Angepassten führt ins Verderben. Der Neoliberalismus bringt das Kunststück zuwege, jedem Einzelnen die Illusion der Unvergleichlichkeit vorzugaukeln, wenn er plagiiert, was jeder macht.

Schwärmer Messner wiegt sich noch immer in der Fehleinschätzung, seine Attacke auf wehrlose Berggipfel sei ein noch nie da gewesener Egotrip, obgleich die Berggiganten inzwischen wie Müllberge aussehen. Einmal ist immer das erste Mal. Die Imitanten stehen schon Schlange, um das Unvergleichliche in Massenware zu verwandeln. Unter ihnen Bein- und Kopfamputierte, Blinde und Taube.

Petrarca war der erste auf dem Mont Ventoux. Das war vor 500 Jahren. Er war so von sich berauscht, dass er gleich ein literarisches Werk verfassen musste. Heute fährt der sehr sportlich aussehende Peter Sloterdijk mal so eben mit seinem postmodernen Radl auf den Gipfel und glaubt noch immer, er sei Petrarca und Bhagwan Rajneesh in einer Person.

Wenn man auf einer Demo wagt, einem behelmten Polizisten die Frage zu stellen, was er hier überhaupt treibe, ob er nicht besser bei Muttern geblieben wäre – denn dies sei eine hundsnormale Demo – kommt man wegen Beamtenbeleidigung vor Gericht. Polizisten in actu sind keine Bürger mehr, sondern praktizierende Obrigkeiten und da gilt noch immer Römer 13: seid untertan den Pfeffersprays und Gummiknüppeln, denn es gibt keine Knüppel, die nicht von Gott wären.

Was eigentlich meinen Politiker, wenn sie ständig von Staat reden – obgleich wir seit über 50 Jahren in einer Demokratie leben? Sie meinen Obrigkeit. Am liebsten würden sie lutherisch reden, wenn sie sich trauen würden. Beim nächsten Lutherfest wird Merkel als zuständige Pastorentochter die „Obrigkeit“ offiziell wieder ins Neuhochdeutsche einführen.

In der TAZ wirft Peter Grottian Attac Angst und mangelnde Zivilcourage vor. Und nicht nur Attac. „Auf der anderen Seite gibt es ganze Bereiche, in denen nahezu kein ziviler Ungehorsam stattfindet. Beim Thema Arbeitslosigkeit und Armut bleibt es seit den für deutsche Verhältnisse eindrucksvollen Protesten von 2003 bis 2005 beunruhigend still. Politische Gruppen sind zerbrochen, im Westen mehr als im Osten. Und wer im Osten über zivilen Ungehorsam redet, erhält folgenlosen Beifall. Viele Betroffene prozessieren individuell gegen ihren Hartz-IV-Bescheid und wählen Die Linke. Aktive Resignation. Wenn mehr als eine Million Hartz-IV-Bezieher mit Sanktionskürzungen belegt werden, ist die Republik erstaunt, aber still“.

Wir sind noch meilenweit davon entfernt, Demokratie als normale Stilübung zu betrachten. Jede Demo ist noch immer eine Mutprobe. Beim Flugblattverteilen vor einer Honoriatorenversammlung kannst du ganz schön alt aussehen. Doch genau da kannst du erleben, wie die Alphatiere vor DIR Angst haben.

Das vergessen die meisten. Die Eliten verstecken sich in ihren ummauerten Strafkolonien vor dem Großen Lümmel. Im Grunde verstehen sie bis heute nicht, warum die „Straße“ sie gewähren lässt. Wie sie unauffällig die Straßenseite wechseln, sich hinter Kollegen verstecken, dich gar nicht sehen und überrascht tun, wenn du sie mit Namen rufst.

Gibt es schon Coaching in Zivilcourage? Nein, nicht in Recife, Südamerika! Sondern bei dir um die Ecke? Attac könnte mit gutem Bespiel vorangehen und sich erstmal selbst Zivilcourage beibringen, bevor sie‘s andern vormachen will.

(Peter Grottian in der TAZ: „Attac hat Angst“)

Aufklärung ist nichts für Angsthasen. Aber es bedarf Mut, sich seine Ängste zu gestehen. Habe Mut, weise zu sein. Das Wort Mut bei Kant wird meistens überlesen. Den größten Mut braucht man zum Selberdenken.

In der Welt habt ihr Angst, siehe, ich habe die Welt überwunden, sagt ein Erlöser, der‘s mit den Tatsachen nicht so genau nimmt. Ihr sollt Gott lieben und fürchten, beginnt Luther jede Erklärung im Großen Katechismus.

In der Welt hat die Menschheit am wenigsten Angst. Am meisten fürchtet sie die Strafen der Götter. Wenn es furchterregende Gewalthorden gibt, handeln sie meistens im Namen eines furchterregenden Gottes. „In Ängsten und siehe, wir leben“.

Mit der Angst kann man auch übertreiben. Für manche Leute ist ein Leben ohne Ängste gar nicht mehr lebenswert. Ich ängstige mich, also bin ich. Ein angstfreies Leben halten sie für das Paradies, das ohne Ängste langweilig wäre. Angst ist zum Kitzel geworden, um nicht zufrieden und satt zu werden. Hier ist der Sinn des freudigen, angstfreien Lebens ins Gegenteil verkehrt. Nur wenn wir zittern, fühlen wir uns lebendig.

Das ist die frappante Ähnlichkeit mit Zweifel und der Absurdität. Ich glaube, weil’s absurd ist. Ich bin, weil ich an allem zweifle. Das lässt sich zusammenfassen: ich lebe, weil ich tot bin. Für Heidegger, der einstmals mit den furchterregenden Nationalsozialisten kokettierte, war Angst eine Grundbefindlichkeit. „Die Angst vor dem Tode ist die Angst ‚vor‘ dem eigensten, unbezüglichen und unüberholbaren Seinkönnen. Das Wovor dieser Angst ist das In-der-Welt-sein selbst. Das Worum dieser Angst ist das Sein-können des Daseins schlechthin.“ In der Welt sein, heißt Angst haben.

Diese Philosophie ist nichts als Theologie in Geschwurbel. Hier fehlt‘s gewaltig an Zivilcourage – besonders an Hochschulen –, um dieses Heils-Geschwurbel zu entzaubern.

Habe Mut, kein Genie zu sein, sondern schlicht und einfach deine Meinung zu sagen. Die Idolisierung der Brillanz hat Popper für die Ursünde der Demokratie gehalten. Nach seinem Vorbild Sokrates plädierte er für Bescheidenheit. Was noch lange keine religiöse Demut ist. Allerdings darf man heute mit Bescheidenheit gar nicht bescheiden tun, sonst beherrschen die elitären Großmäuler die öffentlichen Megaphone. Bescheidenheit muss attackieren und darf sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen.

Erik T. Hansen, Amerikaner, der in der ZEIT schreibt, hat eine besondere Vorstellung von Mut, die er mit Tollkühnheit auf Kosten der Menschheit verwechselt. Jedes Risiko ist bekanntlich im Neoliberalismus eine Mutprobe, die ein Gentleman mit Gottes Hilfe zu bestehen hat. Wenn die Summe der Risiken Mutter Erde ins Trudeln bringt, was dann? Erneut ein Risiko.

Die unabsehbaren Folgen eines Risikos werden eingefangen, indem man noch größere Risiken eingeht. Hier soll der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben werden. Zum Beispiel mit einem abenteuerlichen Geo-engineering. Leute, die von Naturwissenschaft keine Ahnung haben, sich aber alles zutrauen, werfen Metall aufs Wasser, um das Klima abzukühlen. Welche Nebenfolgen die Aktion haben könnte – uninteressant. Der Tollkühne wagt und gewinnt. Wenn nicht, hat nur die Menschheit den Schaden.

Das ist keine Zivilcourage: das ist Unverschämtheit in messianischer Selbstermächtigung. Doch Hansen rühmt diese Methode. Sie wage es, positiv zu denken, im Gegensatz zu allen pessimistischen Ökologen, die im Wesentlichen negative Botschaften hätten:

„Wir müssen weniger Müll und weniger Abgase produzieren und moderne Errungenschaften der Wissenschaft wie Atomkraft und Genmanipulation grundsätzlich skeptisch betrachten.“ Die Sorge überwiegt den Entdeckergeist. „Im Herzen basiert die Bio-Bewegung auf dem Grundsatz der Ablehnung“, sagt der britische Bio-Aktivist Mark Lynas. „Sie akzeptiert viele moderne Technologien schon aus Prinzip nicht, ähnlich wie die Amischen in Pennsylvania.“

(Eric T. Hansen in der ZEIT)

Wer gottähnliche Technik nicht absegnet, ist ein Feind der Moderne. Es wird Zeit, dass wir Mut und Zivilcourage aufbringen: gegen diese allwissende und omnipotente Religion der Naturzerstörung.