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Tagesmail

Samstag, 02. März 2013 – Obskurantismus

Hello, Freunde der Schweizer,

die Eidgenossen machen‘s uns vor. Dabei sind es nicht einmal linke Gruppen, die eine Volksabstimmung gegen die Abzockerei initiiert haben. Sondern ein konservativer mittelständischer Unternehmer aus Zürich.

Selbstverständlich ist die Kampagne populistisch und wenn sie gewinnt, wird die Schweiz auf das Niveau von Ouagadougou abstürzen.

Ein ehemaliger Novartischef hatte 72 Millionen Euro „Entschädigung“ für ein Jahr Nichtstun verlangt. Doch der Grundgedanke klingt verlockend: zahlt den Herren mit den langen Fingern ein fürstliches BGE – damit die planetarische Wirtschaft von ihnen für immer unbelästigt bleibe. Dieses Trinkgeld sollte sich die Welt leisten. Die Eliten sollten dafür entlöhnt werden, dass sie am Zürcher See spazieren gehen und Däumchen drehen.

(Andreas Zumach in der TAZ)

 

Eine Zeitung sollte nicht nur ihre Meinungen abdrucken. Sonst gibt’s keine Kontroversen. Gleichwohl ist die TAZ-Verteidigung eines Artikels pro Todesstrafe dünn. Jener Artikel war inhaltsleer und klang, als ob die Verfasserin das Pressebüro eines Lukatschenko leitet. Eine Debatte wurde nicht ausgelöst. Würde die TAZ die

Gedankenergüsse eines Neonazi abdrucken?

(TAZ-Thema der Woche)

 

Welche Faktoren haben bei der Wiederkunft der Religion mitgewirkt? Nicht im Volk, das sich bei solchen Experimenten einer gelangweilten jeunesse doree abseits hält, sondern bei den Intellektuellen, die immer auf der Suche nach Extravaganzen sind? Der Obskurantismus, der in den 80er Jahren in der Kölner Zeitschrift SPEX als Schreib- und Denkstil propagiert wurde. Wenn man denn von Denkstil reden darf. Es sollte mehr um Poesie gehen.

„Es war ja die größte Leidenschaft von Spex, auf Verständlichkeit geschissen zu haben – aus unterschiedlichen Gründen. Der Wunsch, Theorie zu machen, war ja nur einer, ein vielleicht stärkerer war Poesie.“ Die Wirkung von SPEX ging durchs ganze deutsche Feuilleton. Es wurde uncool, einen verständlichen Satz zu schreiben. Je obskurer, umso verführerischer.

(Jungle World-Interview von Pascal Jurt)

Kaum ein deutscher Schreiber von Belang, der sich in die Niederungen der französischen clarte hinabließ. Clarte, Klarheit, war die Leidenschaft der französischen Aufklärer. Klarheit wurde die große Waffe der beginnenden Neuzeit gegen die Verdunkelungen der mittelalterlichen Theologen. Descartes spricht von Klarheit und Deutlichkeit, mit denen er den Kampf gegen die Obskuranten bestehen wollte.

Der Unterschied zwischen dem französischen und dem deutschen Denkstil war der zwischen Clarte und tiefsinnigem Gemunkel. Wer klar schreibt, muss ein oberflächlicher Vernünftler sein. Fast der ganze deutsche Idealismus besteht aus Sätzen, die ein normaler Mensch nicht versteht. Philosophie ist nicht für Menschen da, sondern für die Abgründe von Sein und Zeit.

Würde man Heideggers Werk ins Alltägliche übersetzen, käme der Katechismus zum Vorschein, den der junge Martin im katholischen Internat büffeln musste. Er verstand es, die alten und abgeschmackten Heilsformeln mit philosophischen Parolen zu überschminken – und fertig war das raunende Gemurmel aus dem Bauch des Seins. Selbst die Franzosen wurden ihrer Voltaire-Tradition untreu und verfielen den morbiden Sirenengesängen der Neugermanen.

Wenn Habermas ein Aufklärer sein wollte, müsste man das an der Durchsichtigkeit seines Schreibstils merken. Doch deutsche Aufklärer schreiben nur für ihre Kollegen, mit dem Volk haben sie nichts zu tun. Nur Popper, Bewunderer von Sokrates und Kant, zeichnete sich in seinen Schriften durch Einfachheit und Verständlichkeit aus. Ein wesentlicher Grund, warum er vom genialen Feuilleton nie zur Kenntnis genommen wurde. Wer nicht aus dem Effeff adornieren, jeden zweiten Satz in negativer Dialektik beenden konnte, musste sich erst gar nicht bewerben.

Die Alt-68er begannen ihren Siegeslauf durch die Redaktionen, bis sie vor lauter Langweile und abgestandenen Marx-Formeln dem Sex des amerikanischen Wirtschaftssystems erlagen. Wie immer sind Konvertiten die schlimmsten Gegner ihrer frühreifen Jugenderkenntnisse. Das Geschwätz von links konnten sie nicht mehr ertragen. Einen Unterschied zwischen links und rechts konnten sie nicht mehr erkennen. Sie sahen nur noch Gesetze der Ökonomie.

Als Jungmarxisten hatten sie sich der Geschichte in die Arme geworfen, nun den Verlockungen des evolutionären Marktes, der die Geschäfte der Menschen besser durchschaut als sie selbst. Da der Erfolg des Reichs der Freiheit im Orkus versank, war sofort ein echter, quantitativ messbarer zur Hand. Diese vielen neuen Begriffe, die kein Deutscher verstand, weil Wirtschaft nicht ist, was man in Gemeinschaftsunterricht lernen kann. Hedgefonds, Leerverkäufe, Dax-Kurven, Staatsanleihen: die SPEX-Poeten hätten jubeln müssen über die Flut unverbrauchter Plattitüden aus der Wallstreet.

Was man nicht versteht, das muss richtig sein. Wie so oft regredierten die Deutschen auf das Niveau des nordafrikanischen Kirchenvaters Tertullian: sie glaubten, weil es absurd war. Das ist der christogene Kern des Obskurantismus.

Obskuranten waren im 16. Jahrhundert kirchliche Apologeten, die mit „Dunkelmännerbriefen“ gegen die beginnenden Strömungen der Frühaufklärung anrannten. In Meyers Konversationslexikon von 1888: „Obskurantismus (lat.), Gegensatz zu Aufklärung (s. d.), sowohl die Hinneigung zur geistigen Dämmerung als das System, alle Aufklärung von andern abzuhalten. Die Anhänger des O. heißen Obskuranten (Finsterlinge).“

Obscur ist dunkel. Was bewegt moderne und gebildete Menschen, sich absichtlich dunkel zu äußern? Diedrich Diederichsen: „Spex war gezielt okskur. Es gab eine Absicht, obskur zu sein. So obskur, wie es gerade noch ging, ohne das Verführerische zu verlieren.“ Hier offenbart sich die deutsche Seele: verführerisch wird man durch Dunkelheit. Das Erbe deutscher Verdunkelungskünste ist die heutige Komplexität. Was niemand versteht, muss brillant sein.

Bei den NS-Schergen kam eine neue Variante dazu. Hitler schrieb glasklar, was er vorhatte. Nach dem Krieg erklärten seine Bewunderer, sie hätten nicht wissen können, was er an Schrecklichem vorhatte. Doch sie wussten es, aber sie übertölpelten sich selbst mit der doppelten Volte: wer so klar schreibt, will etwas verheimlichen. Also wurde der Nationalsozialismus zur unbekanntesten Ideologie der deutschen Geschichte.

Dasselbe Problem wie bei der Lektüre der Heiligen Schrift. Je unmissverständlicher sie redet, umso verborgener muss der geheime Sinn der Textstellen sein. „Jedem, der nicht hat, wird auch das genommen, was er hat.“ ( Neues Testament > Lukas 19,26 / http://www.way2god.org/de/bibel/lukas/19/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/lukas/19/“>Luk. 19,26)

Trefflicher kann das heutige Wirtschaftssystem nicht beschrieben werden. Ist der Sinn dieser Stelle an Unmissverständlichkeit zu übertreffen? Also muss er mindestens das Gegenteil des ausgesprochenen Textes sein. Die Deutschen können nicht lesen. Es herrscht immer noch das vorluthersche Klima, gebt dem Volk keine Bibel in die Hand, sonst könnte es entdecken, was drin steht und es gegen den Klerus verwenden. Nominell können die Deutschen lesen, also sollen sie nicht verstehen, was sie klipp und klar vor Augen haben.

Wie viele Generationen an Studenten gibt es hierzulande, die voll Eifer und Neugierde zur alma mater geströmt sind, um sich mit der Weltweisheit herumzuschlagen. Doch was geschieht? Vom Staat bezahlte Sadisten und Dunkelmänner, die ihr eigenes Fach verabscheuen, werden auf das hoffnungslose Volk losgelassen, die ihnen unverständliche Texte um die Ohren hauen, dass sie nie mehr den Namen Kant hören können. Das ist das schlimmste Volksverbrechen und müsste wegen Beschädigung menschlicher Denkfreiheit in Straßburg angeklagt werden.

Denkbeamte sollen jungen Menschen beibringen, was sie selbst nie verstanden haben. Sie halten es für einen pädagogischen Erfolg, die meisten Anfänger mit Imponiergehabe zum Tempel hinauszujagen. Es geht nicht um „Leichtigkeit“, die man re-aktionär in artifizielle Schwerverständlichkeit umfunktionieren muss. Das Leichteste ist oft das Schwierigste. Wahrheit bemisst sich nicht nach Leichtigkeit oder Schwierigkeit, Neuem oder Altem, Zeitgemäßheit oder Unzeitgemäßheit.

Wer Poesie schreiben will, warum schreibt er keine Poesie? Warum erzeugt er eine Chimäre aus Theorie und Poesie? Auch Poesie wird durch vorsätzliche Verdunkelung nicht besser. Wenn Poeten glauben, ihre Gedichte als Lallen des Heiligen Geistes zu begreifen, wollen sie keine Gedichte schreiben, sondern Offenbarungsworte von Göttern. Platon empfand sich als Dichter, der Form nach. Der Inhalt seiner Philosophie war an Klarheit selten zu übertreffen. (Man muss ja nicht gerade mit seinem Parmenides beginnen.)

Auch Hegel war streckenweise von ungewöhnlicher Deutlichkeit. Man muss ja nicht gleich mit seiner Logik beginnen. Das An sich, Für sich und Anundfürsich sollten deutsche Übersetzungen bestimmter Begriffe von Aristoteles sein. Zum Teil waren seine Sätze so klar, dass kein Scholar glaubte, sie verstehen zu dürfen. Der Große Meister muss mit seinem Denkerhaupt über den Wolken schweben.

Bei dem größten Meister der Klarheit waren wir noch gar nicht. Sokrates ist für unsere Profidenker ein exotisches Unikum. Da er kein „System“ hatte, ist er ein schwacher Denker – im Gegensatz zu seinem genialen Schüler. Wie oft hörte er den Vorwurf, er wiederhole sich immer wieder wie ein Grammophon.

„Als Hippias dies hörte, sagte er in etwas spöttischer Weise: Also immer noch Sokrates, bringst du dieselben Reden vor, die ich schon vor Jahren von dir gehört habe? – Ja, sagte Sokrates, und was noch ärger ist, ich stelle nicht nur immer dieselben Behauptungen auf, sondern auch über dieselben Gegenstände. Du freilich als ein Mann von vielseitigen Kenntnissen sagst über dieselben Gegenstände niemals dasselbe.“

Wir sehen, auch die Postmoderne mit ihrer krankhaften Neuerungssucht war in Athen längst bekannt. Die Moderne kann sich ihre krankhafte Originalitätssucht nur dadurch beweisen, dass sie die beste Denkertradition verleugnet und so tut, als beginne sie unbefleckt ihr Lebenswerk wie ein gewisser Schöpfer, der alles aus dem Nichts zauberte. Die ganze Moderne ist eine Wiederholung antiker Gedanken – auf niedrigstem Niveau und weitgehend mit Offenbarungselementen durchtränkt und vergiftet.

Diese falschen Synthesen müssen auseinandergerissen und von Grund auf neu durchdacht werden. Philosophie beginnt immer von vorne, niemand kann sich auf ein gesichertes Erbe berufen. Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen. Jeder Lern- und Denkbegierige muss in sich die gesamte Denktradition wiederholen.

Das ist die „biogenetische Grundregel“ des Biologen Haeckel, der nur an die körperliche Entwicklung des Menschen dachte. Das Gleiche gilt für die Evolution der Ideen und Gedanken. Wer nichts von den Griechen weiß, kann nicht beurteilen, in welchem Maß die heutigen Geistesriesen schwächliche Plagiatoren sind, die durch Obskurantismus ihre intellektuelle Ärmlichkeit verbergen.

Der Theologe Johann Georg Hamann war einer der erfolgreichsten Widersacher der Aufklärung und ein Vertreter des philosophischen Obskurantismus. Warum er die freie und selbstdenkende Philosophie hasst und ablehnt, schreibt er in folgendem Satz:

„Die Gesundheit der Vernunft ist der wohlfeilste, eigenmächtigste und unverschämteste Selbstruhm, durch den alles zum voraus gesetzt wird, was eben zu beweisen war, und wodurch alle freye Untersuchung der Wahrheit gewaltthätiger als durch die Unfehlbarkeit der römisch-katholischen Kirche ausgeschlossen wird.“

Alles, was sich selbst rühmt, muss von Gott vernichtet werden. Wer sich rühmt, rühme sich des Herrn. Amen.