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Samstag, 02. Februar 2013 – Erinnerungsrituale

Hello, Freunde der Erinnerung,

könnten wir Holocaust-Gedenktage angemessen begehen, wären wir Menschen geworden. Unsere Unfähigkeit des Gedenkens zeigt den Abstand zu dem, wie wir sein könnten und sein müssten, um als Menschheit zu überleben. Nur wenn wir Menschen werden, haben wir eine Chance, auf dem blauen Planeten zu verweilen, solange es dem Planeten gefällt.

Moral als Lust, als Bedürfnis, als Eros zu den Menschen, als höchstes Ziel, als reales Ideal, als erlebte und empfundene Verbundenheit mit allem Irdischen wird zur Bedingung des Überlebens. Das gute, das beste Leben wird zur Grundbedingung schieren Überlebens. Der Unterschied zwischen Sein und Sollen wird wegfallen. Wenn wir nicht werden, wie wir sein sollen, werden wir nicht sein.

Bislang war Moral Luxus. Der Luxus ist zur Grundausstattung des Lebens geworden. Alle Politsysteme, die glauben, Moral als Dekor zu betrachten – schön anzusehen, doch ohne geht’s besser – werden nicht überleben. Es werden nicht die Omnipotenten überleben, sondern die Humanen.

Vergesst Machiavelli, vergesst den Willen zur Macht, vergesst das Naturrecht der Starken. Wer auf Vernichtung und Unterdrückung aus ist, wird sich selbst vernichten. Wer zum Menschen keine Beziehung hat, wer den Andern nicht als Freund, sich selbst als Feind und Sünder betrachtet, wird Natur als ausrottenswert betrachten. Natur ist auch nur ein Mensch – wenn der Mensch sich als Natur entdeckt.

Der Erinnerungstag an die Verbrechen unserer Väter und unserer

Mütter – ja, auch der Mütter, die die Väter gewähren ließen, sie anspornten, sie in den Krieg schickten, sie zuhause ersetzten – überfordert uns alle. Die Täter, die Kinder der Täter, die Opfer, die Kinder der Opfer. Wie können die Opfer den Tätern klarmachen, was sie erlebten? Das können sie nicht, beim besten Willen nicht.

Die Fronten sind verhärtet. Was sie zu sagen haben, erleben die Nachkommen der Täter als Vorwurf. Gegen Vorwürfe, ob berechtigt oder nicht, wappnet und verschließt man sich. Die einen im Gestus staatsmännischer Souveränität, die andern in Aggression und Hass.

Wie kann man gefasst und unbewegt, versteinerten Angesichts, in kontrollierter Körperhaltung, den Geschichten von Menschen zuhören, die von anderen Menschen als Unkraut, Bazillen, Ratten vertilgt wurden? Müssten wir uns nicht in unfassbarem Zorn und Trauer auf den Boden werfen, die Haare raufen, schreien, heulen und klagen?  

Da nützt es nichts, das Wort schrecklich mit sich selbst zu multiplizieren, die Begriffe Grauen und Gräuel übereinanderzutürmen – die Sprache hat ausgedient, die Vorstellungskraft versagt. Man kann sich nicht mehr vorstellen, was man sich nicht mehr vorstellen will. Die Erinnerung ist zum Muss geworden, gegenüber allem Müssen und Sollen sind wir allergisch.

Wir wollen keine Schuldgefühle mehr haben. Wir wollen nicht mehr im Büßergewand daherkommen. Wir wollen die Filme von Claude Lanzmann nicht mehr sehen. Das kleinste Detail wird unerträglich. Wir wollen von vorne beginnen. Ohne Altlasten. Zum Teufel mit Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Wir wollen nur noch in die Zukunft schauen. Warum müssen wir einmal im Jahr zurückblicken, wo wir sonst nur noch nach vorne schauen sollen?

Hier liegt eine Quelle der Inhumanität, wozu der Antisemitismus gehört. Wie können wir mit Schuld umgehen, wenn göttliche Gnadenmechanismen unsere Schuld mit einem folgenlosen „Sorry, Vater im Himmel“ absaugen – damit wir ungestört neue produzieren können? Wir sind nicht vor Menschen schuldig geworden, sondern vor einem imaginären Wesen, damit reale Schuld in eine imaginäre verdampft werde. Vater, vergib, gegen dich allein haben wir gesündigt.

Alles, was uns teuer ist, tragen wir vor den Altar eines nichtexistenten Gottes und missachten die Rechte der Menschen. Wir besprechen unsere Schuld nicht mit den Menschen, an denen wir schuldig geworden sind, sondern mit einem Wesen, an dem wir wegen Absenz gar nicht schuldig werden können.

Rituale sind berechtigt, wenn sie Höhepunkte des Lebens sind. Dienen sie als jämmerlicher Ersatz für Vergessen und Verdrängen, sind Rituale zu Mechanismen des Verleugnens geworden. Zeitzeugen sind hilfreich, doch wenn sie als Alibizeugen eingeflogen werden, um die Vorgeschichte des Völkerschlachtens vergessen zu machen, werden Zeitzeugen missbraucht.

Wer nur das finale Verbrechen anschaut, und nicht seine harmlos aussehende Entstehung, hat nichts gesehen und nichts begriffen. Wenn im Bundestag nicht deutsche Dichter und Denker in ihrem Judenhass, wenn nicht religiöse Passagen über die infamen Juden vorgelesen werden, wenn nicht Jahrtausende christlichen Hasses auf die Juden den Abgeordneten, per live-Übertragung dem ganzen Volk, vor Augen und Ohren geführt werden, dann ist es keine Erinnerungsfeier, sondern ein Ritual des Vertuschens.

Sind im Bundestag vor christlich sein wollenden Vertretern aller Parteien jemals folgende Sätze gefallen:

„Da aber Pilatus sah, daß ein viel größer Getümmel ward, nahm er Wasser und wusch die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten, sehet ihr zu! Da antwortete das ganze Volk und sprach: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.“ Juden sind Kinder des Teufels, so teuflisch wie ihr Vater der Lüge:

„Ihr seid von dem Vater, dem Teufel, und nach eures Vaters Lust wollt ihr tun. Der ist ein Mörder von Anfang und ist nicht bestanden in der Wahrheit; denn die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er die Lüge redet, so redet er von seinem Eigenen; denn er ist ein Lügner und ein Vater derselben.“

Hat man im Bundestag, der mit beiden Beinen auf dem Boden christlicher Werte stehen will, jemals gehört, dass christliche Kirchenväter von Anfang an die Juden als Mörder, als Fälscher der Heiligen Schrift, als geldgierig und verbrecherisch, ihre Synagogen als Satansburgen brandmarkten?

„Unter Kaiser Konstantin (4. Jahrhundert) und seinen Söhnen wurde der Übertritt zum Judentum mit schweren Strafen belegt und Mischehen zwischen Juden und Christen mit dem Tode bestraft. Unter Kaiser THEODOSIUS II. (5. Jahrhundert) wurden die Juden von allen öffentlichen Ämtern und Würden ausgeschlossen. Das IV. Laterankonzil (1215) legte eine besondere Judentracht fest: Ein gelber Fleck im Obergewand und eine gehörnte Kappe.

Joachim Kahl, der bekannte Religionskritiker, verweist darauf, dass unzählige Mysterien-, Passions- und Fastnachtsspiele, Traktate und Heiligenlegenden die Juden verhöhnen und verleumden. Viele mittelalterliche Bilder stellen den Teufel mit einer gebogenen Nase (Judennase) dar. In vielen alten, gelegentlich noch heute zu hörenden Sprichwörtern und Redewendungen steht das biblisch bezogene »Jüdische« als Synonym für das Böse und Negative schlechthin.

Wie ging es weiter? „… verschärfte sich die Lage der Juden insbesondere seit dem Hochmittelalter ungemein: Judenschlächtereien in Westeuropa während der ersten drei Kreuzzüge und Ausrottung der Juden in Palästina. Die Vernichtung von 300 jüdischen Gemeinden im Deutschen Reich 1348/49 und die Ausweisung der Juden aus England (1290), Frankreich (1394), Spanien (1492) und Portugal (1497). Später dann aber auch die greulichen antijüdischen Hetzreden des alten Luther, Judenverfolgungen nach der Reformation, Pogrome in Osteurop … Nicht die Reformation, sondern der Humanismus, die Aufklärung (Menschenrechtserklärung in den Vereinigten Staaten und in der Französischen Revolution) haben eine Änderung vorbereitet und teilweise durchgesetzt.

Hat man im Zuge des staatlich vorbereiteten Lutherjahrs einmal die heute verdrängten Hasstiraden des Reformators gegen die Juden vorgetragen? Wer kann sich folgende Sätze anhören und in gleichem Moment vom größten Deutschen sprechen:

„Ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes, durchteufeltes Ding ist’s um diese Juden, so diese 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen. Wenn ich könnte, wo würde ich ihn [den Juden] niederstrecken und in meinem Zorn mit dem Schwert durchbohren. Jawohl, sie halten uns [Christen] in unserem eigenen Land gefangen, sie lassen uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen, sitzen sie dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, sauffen, leben sanft und wohl von unserm erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, das wir arbeiten und sie faule Juncker lassen sein … sind also unsere Herren, wir ihre Knechte.“

Es geht noch weiter. Erinnern ist Erinnerungsarbeit, da darf ruhig geflucht und gekotzt werden. Unsere Abgeordneten wollen sich an nichts erinnern. Sie wollen den christlichen Fundamenten des Judenhasses nicht ins Auge schauen. Sie begnügen sich mit korrektem Zählen der Leichen, nicht mit den geistigen Vorbereitungen des Abschlachtens der Menschen.

(Nebenbei muss die Frage erlaubt sein, warum sich die Opfer an diesen Verdrängungs-Überbietungs-Ritualen beteiligen und sie mit ihrer Anwesenheit absegnen?)

Mit Erinnern haben staatliche Zeremonien nichts zu tun. Hier werden alle wahren Ursachen verdeckt, versteckt. Um dem Ganzen den Heiligenschein aufzusetzen, wird als Vorspiel der Rituale ein ökumenischer Heuchelgottesdienst veranstaltet, wo Popen beider Konfessionen ihre Hände in Unschuld waschen.  

Luther: „Erstlich, das man jre Synagoga oder Schule mit feur anstecke und, was nicht verbrennen will, mit erden überheufe und beschütte, das kein Mensch ein stein oder schlacke davon sehe ewiglich Und solches sol man thun, unserm Herrn und der Christenheit zu ehren damit Gott sehe, das wir Christen seien. – Zum anderen, das man auch jre Heuser des gleichen zerbreche und zerstöre, Denn sie treiben eben dasselbige drinnen, das sie in jren Schülen treiben Dafur mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall thun, wie die Zigeuner, auff das sie wissen, sie seien nicht Herren in unserem Lande. – Zum dritten, das man jnen nehme all jre Betbüchlein und Thalmudisten, darin solche Abgötterey, lügen, fluch und lesterung geleret wird. – Zum vierten, das man jren Rabinen bey leib und leben verbiete, hinfurt zu leren. – Zum fünften, das man die Jüden das Geleid und Straße gantz und gar auffhebe. – Zum sechsten, das man jnen den Wucher verbiete und neme jnen alle barschafft und kleinot an Silber und Gold, und lege es beiseit zu verwaren. – Zum siebenden, das man den jungen, starcken Jüden und Jüdin in die Hand gebe flegel, axt, karst, spaten, rocken, spindel und lasse sie jr brot verdienen im schweis der nasen.“

Selbst die besten Deutschen waren von Judenhass nicht frei. Wer will das heute noch wissen, wo die Deutschen wieder ein Volk der Kultur sein wollen? Diese Kultur ist durchzogen von Pest- und Cholerafäden. Wagner ist völlig rehabilitiert. Seine Schriften gegen die Juden liest heute niemand mehr.

„Wir haben uns das unwillkürlich Abstoßende, welches die Persönlichkeit und das Wesen der Juden für uns hat, zu erklären, um diese instinctmäßige Abneigung zu rechtfertigen, von welcher wir doch deutlich erkennen, dass sie stärker und überwiegender ist, als unser bewußter Eifer, dieser Abneigung uns zu entledigen. Noch jetzt belügen wir uns in dieser Beziehung nur absichtlich, wenn wir es für verpönt und unsittlich halten zu müssen glauben, unsren natürlichen Widerwillen gegen jüdisches Wesen öffentlich kundzugeben.“

Heute wird die Anziehungskraft der Wagnerschen Musik benutzt, um die verheerenden Spuren Wagners, die Hitler außerordentlich beeinflussten, salonfähig zu machen. Hört das exquisite Publikum die Operntexte nicht mit Bewusstsein? Geht es nicht um christogene Erlösungsphantasien, die per se rivalisierende Erlösungsphantasien ausschließen?

Micha Brumlik hat ein verdienstvolles Buch über Antisemitismus unserer Denkerhelden geschrieben. Von den Medien wird es pflichtgemäß zur Kenntnis genommen, dann heißt es: aus den Augen, aus dem Sinn. Ist gerade kein Holocaustgedenken, wird der deutschen Vergangenheit nicht gedacht. Man hat seinen Ritus, um im Rest des Jahres alles Anstößige im Fluss Lethe zu ersäufen.

Selbst Aufklärer Kant war nicht frei vom Gift des Christentums:

„Auch Immanuel Kant (1724–1804) nannte Juden „Vampyre der Gesellschaft“, die „durch ihren Wuchergeist seit ihrem Exil in den nicht unbegründeten Ruf des Betruges … gekommen“ seien. Obwohl er biblische Grundgedanken der Tora in seinem Sittengesetz vernunftgemäß entfaltete und die rabbinischen Traditionen kaum kannte, hielt er das Christentum für sittlich überlegen, grenzte es scharf gegen das Judentum ab, verlangte von Juden die Abkehr von biblischen Ritualgesetzen und ein öffentliches Bekenntnis zur ethischen Vernunftreligion. Erst dann könnten sie Anteil an allen Bürgerrechten erhalten.“

Fichte wollte allen Juden die Köpfe abschneiden:

„Juden Bürgerrecht zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen alle die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein ander Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern und sie alle dahin zu schicken.“

Der brave Hegel:

„Das Schicksal des jüdischen Volkes ist das Schicksal Macbeths, der aus der Natur selbst trat, sich an fremde Wesen hing und so in ihrem Dienste alles Heilige der menschlichen Natur zertreten und ermordet, von seinen Göttern endlich verlassen und an seinem Glauben selbst zerschmettert werden musste.“

Ernst Moritz Arndt wurde von den Nationalsozialisten als judenhassender Gewährsmann gerühmt:

„Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, dass sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie ein durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten wünsche. […] Ein gütiger und gerechter Herrscher fürchtet das Fremde und Entartete, welches durch unaufhörlichen Zufluß und Beimischung die reinen und herrlichen Keime seines edlen Volkes vergiften und verderben kann. Da nun aus allen Gegenden Europas die bedrängten Juden zu dem Mittelpunkt desselben, zu Deutschland, hinströmen und es mit ihrem Schmutz und ihrer Pest zu überschwemmen drohen, da diese verderbliche Überschwemmung vorzüglich von Osten her nämlich aus Polen droht, so ergeht das unwiderrufliche Gesetz, dass unter keinem Vorwande und mit keiner Ausnahme fremde Juden je in Deutschland aufgenommen werden dürfen, und wenn sie beweisen können, dass sie Millionenschätze bringen.“

Das war nur eine Auswahl. Die Deutschen wissen nichts von ihrer Vergangenheit, ihre Erinnerungen sind raffinierte Versteckspiele. Im Geschichtsunterricht wird die Geschichte des Antisemitismus nur angekratzt. Um nichts aus der Geschichte zu lernen, wird das Fach zum Historismus entbeint: das Vergangene hat nichts mit unserer Gegenwart zu tun. Daten auswendig lernen, das genügt für ein Einser-Abitur, Geschichtsblindheit inbegriffen.

Neoliberalismus, Historismus, willkürliche Deutungskünste heiliger Schriften (Gadamers Hermeneutik), die Anpassungs- und Vermummungskünste der Theologie, die postmoderne Verseuchung der Medien: das sind die ständig sprudelnden Quellen der Verachtung der Vergangenheit, der Vergötzung der Zukunft, der Verfälschung der brandgefährlichen heiligen Schriften. Das sind die unauffälligen und gelehrten Ursachen des Antisemitismus.

Wie harmlos es klingt, das Negerlein aus den Kinderbüchern herauszuradieren. Dann können wir auch gleich Luthers Giftspritzen in einen Candystorm verwandeln und das Neue Testament in ein Poesiealbum für geliebte Juden.

Verlogener und verblendeter war nicht mal das Mittelalter. Dort wusste man nichts, bildete sich aber auch nicht ein, etwas zu wissen. Heute tut man, als wisse man über alles Bescheid. Nicht zuletzt die Propheten der Intelligenzmaschinen brüsten sich ihrer unendlichen Informationen, die der heutigen Menschheit zur Verfügung stünden. Informationen sind Dummmacher, wenn sie die Menschen nicht zum Nachdenken bringen und in ihrem Zusammenhang nicht verstanden werden.

Auf offenem Marktplatz, mit Hilfe aller Wissenschaften, verfälschen die Deutschen – und nicht nur sie – ihre bluttriefende Historie in ein Kompendium der Helden und Tugendgenies. Was uns anklagt, muss aus den Archiven entfernt oder umgedeutet und ins Gegenteil verkehrt werden. Die Vergangenheit wird zur beliebig veränderbaren Dienstmagd einer fleckenlosen Gegenwart und einer gloriosen Zukunft. Wir schauen zu und applaudieren.

Wäre ich Jude, in Deutschland wollte ich nicht leben. Wie hält man es in einem Land aus, wo alles an die Ermordung meines Volkes erinnert? Man stelle sich vor, alle Juden hätten Nachkriegsdeutschland gemieden, was wäre passiert? Wir wären noch immer ein Pariavolk unter den Völkern, auf das alle mit Finger zeigen.

Die hier lebenden Juden waren es, die uns bescheinigten, dass wir un peu verstanden haben. Die Juden bürgten für uns in der Welt. Die Juden eröffneten uns die Wege in den demokratischen Westen. Haben die Deutschen sich mal bei den Juden bedankt?

Ja, mit Abneigung und kritiklosem Ignorieren des Staates Israel. Was interessiert uns dieser Angeberstaat? Wir werden ihn solange kopfnickend und servil unterstützen, bis er sich selbst in die Luft gesprengt hat. Wussten wir nicht schon immer, dass Juden nicht staatsfähig sind und nur als Parasiten unter Gastvölkern existieren können? Lasst sie in ihr Elend laufen.

Müssen Deutsche die Juden pflichtgemäß lieben, nachdem sie sie unendliche Zeiten gehasst haben? Müssen sie alles für richtig halten, was jene zu sagen haben? Gewiss doch wenn sie die Juden verderben wollen.

Lieben muss man niemanden. Aber beachten, respektieren und ernst nehmen wie alle Menschen: das wäre schon mal nicht schlecht. Heute prügeln wir aufeinander ein, alles unter dem Zeichen schicksalhafter Verbundenheit und in der Schleimsprache bedingungsloser Loyalität.

Weil man ihnen besonders verpflichtet ist, darf man sie erst recht nicht in Watte packen, als ob sie unfehlbare Aliens wären – auch wenn sie sich selbst so aufführen. Umgekehrt dasselbe: Deutsche haben jüdische Kritik, auch wenn sie völlig überzogen ist, so zu akzeptieren, als hätten beide Parteien ein normales Verhältnis. Wohl wissend, dass es hier keine Normalitäten gibt.

Vielleicht ahnen wir jetzt, woher die päpstliche Attitüde der Unfehlbarkeit rührt. Wenn man täglich erlebt, wie verpanzert die germanischen Holzklötze nicht reagieren, möchte man aus lauter Verzweiflung die Peitsche Gottes benutzen, um ihnen einzubrennen, was man in normaler Rede nicht mitteilen kann.

Broder schreibt oft genug unverantwortlichen Stuss. Warum fragt sich niemand, warum ein intelligenter, scharf – nicht selten verzerrt – sehender Mann sich zu diesen Methoden genötigt sieht? Ist er ein Satansbraten? Noch nie hat sich in der deutschen Presse jemand für seinen Schwachsinn entschuldigt – außer Rabauke Broder. Hat das irgendein Vorzeigegermane gewürdigt?

Juden und Deutsche sind mit einer der schrecklichsten Vergangenheiten behaftet, die man miteinander haben kann. Noch haben wir diese Hypotheken nicht begriffen. Wir müssen streiten lernen.