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Samstag, 01. September 2012 – Amerika und Deutschland

Hello, Freunde Südafrikas,

zwei Berliner Literaten fanden in Südafrika das biblische Land ihrer Sehnsucht. Nun kehrt das gelobte Land zurück in die düstere Epoche der Apartheid. Weiße Polizisten schossen auf schwarze Bergarbeiter, die auf einem Hügel demonstrierten und töteten 34 von ihnen. Jetzt werden sie angeklagt: nicht die Polizisten, sondern die Bergarbeiter.

Grundlage der Anklage ist ein Gesetz aus der Zeit der Apartheid. Präsident Zuma hat während seiner Amtszeit zugesehen, wie das Land immer mehr in Arme und Reiche zerfiel. Durch Machenschaften der Habgier wird keine Vergangenheit gebannt.

 

Während ein alter Hollywood-Mime eine bemerkenswerte Stuhlgangrede hielt, in der er sich von Obama lossagte, versprach der Kandidat seinen Wählern, Amerika groß, reich und stark zu machen. „Präsident Obama hat versprochen, den Anstieg des Meeresspiegels zu verlangsamen und den Planeten zu heilen. Ich verspreche, euch und euren Familien zu helfen.“ (Dorothea Hahn in der TAZ: Mitt der Schreckliche)

Die Heilung des Planeten, ausgespielt gegen den Wohlstand der Amerikaner, die ohnehin im Überfluss leben. Auf Kosten des ganzen Planeten leben. Heilsegoismus weniger Auserwählter gegen Solidarität der Menschheit. Moral einer Exklusivgruppe gegen allgemeine Moral. Glauben gegen Vernunft.

Was in Europa scheinbar harmoniert, entlarvt sich bei biblizistischen Amerikanern zur unverträglichen Kenntlichkeit. Europa lügt sich

mit allverträglichem Eiapopeia in die Tasche, Amerika zeigt den Kurs der Zukunft – wenn es sich weiterhin der allgemeinen Vernunft verweigert.

Gesine Schwan hält Demokratie und Menschenrechte für Errungenschaften des Christentums. Das habe die amerikanische Gründungsurkunde bewiesen. Die amerikanischen Gründerväter waren zumeist aufgeklärte englische Gentlemen, die in Athen ihr Vorbild sahen und wider Willen einige christliche Elemente zulassen mussten.

Die einströmenden Massen der Einwanderer waren Christen, die das neue Paradies suchten und – die äußerliche Hülle einer griechischen Demokratie duldeten, solange der Staat sie nicht an der Eroberung des Kontinents, der Ausrottung der Urbevölkerung und am Reichwerden hinderte. Sie schwebten im Rausch der Eroberung und eines nie gekannten Expansionsgefühls.

Natürlich hatten sie die Nase voll von den despotischen Verhältnissen Alteuropas, denen sie glücklich entkommen waren und empfanden die ungewohnte Freiheit als Geschenk ihres Glaubens.

Solange der Triumphzug Amerikas in der Welt anhielt, konnte die stets gefährdete Balance aus Athen und Jerusalem aufrechterhalten werden. Freiheit und Wohlstand galten nicht als Errungenschaften einer mündigen Menschheit, sondern als Gnadengaben des Himmels.

Das war die Einbruchstelle der untergründig zunehmenden Animosität zwischen dem Prinzip der Erwähltheit und dem demokratischen Element der Allgemeinheit. Erwählt waren Amerikaner vor der Welt, die Reichen vor den Armen, die Weißen vor den Schwarzen, die Christen vor Andersgläubigen und Gottlosen.

Solange die Vorrangstellung des Kontinents unangezweifelt, dessen Ansehen in der Welt unangefochten war, gab es keinen Grund zur grundsätzlichen Revision.

Je mehr das kraftstrotzende Weltreich in Kalamitäten stürzt, sein strahlendes Image in der Welt sich ins Gegenteil verkehrt, die arrogante Supermacht wegen doppelbödiger Außenpolitik und bedenkenloser militärischer Übergriffe immer mehr in der Welt gehasst wird, die internen wirtschaftlichen Probleme überhand nehmen, je mehr drängen die unbearbeiteten Dauerprobleme aus dem kollektiven Unbewussten des Landes an die Oberfläche.

Zunehmend definieren sich die Wohlhabenden als durch rechten Glauben legitimierte Sieger des Wirtschaftskampfes. Vor allem in der ökologischen Frage prallen Vernunft und Glauben unversöhnlich aufeinander. Die Gläubigen halten es für gottloses Geschwätz, dass der Mensch in der Lage sei, das Klima zu verändern.

Was geschieht, ist der Wille des Herrn, der durch menschliches Herumklügeln und „Heilenwollen“ nicht in Frage gestellt werden darf. Gott hat‘s gegeben, Gott hat‘s genommen, der Name des Herrn sei gepriesen. Ohnehin glauben die Wiedergeborenen, in der Endzeit zu leben und die Wiederkunft des Herrn noch persönlich zu erleben.

Kein halb-aufgeklärter, halb-gläubiger Europäer ist imstande, diesen Glauben als Hauptmotiv der amerikanischen Politik zur Kenntnis zu nehmen.

Die Europäer haben den christlichen Glauben so weit entrümpelt, entmythologisiert und rationalisiert, dass sie eine fundamentalistische Deutung der Heiligen Schrift ablehnen, Himmel und Hölle aus dem Kanon ihres Credos entfernt haben und mehr an ihren entkernten und abstrakten Glauben glauben als an die unverfälschte Botschaft des Neuen Testaments.

Diese Unterschiede hält Gesine Schwan für Deutungsfragen, als ob man das Wort willkürlich in subjektiv Erwünschtes verformen und verfälschen könne. Ausgerechnet im Lande Luthers wird dessen Urprinzip: Das Wort, sie sollen lassen stahn und kein Dank dafür haben, zugunsten der Schleiermacher-Devise aufgegeben, dass jeder Gläubige seine eigene Bibel schreiben könne und auf den Text der „jüdischen“ Schrift nicht mehr angewiesen sei.

Hier hat der moderne Antisemitismus seinen Ursprung, als Loslösung des „aufgeklärten Glaubens“ vom lächerlich mythischen Text des Paulus und seiner im alttestamentarischen Denken befangenen Schriftstellerkollegen.

Wie Jesus den jüdischen Glauben von der Engstirnigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten, so wollten die Deutschen sich vom Gesetz des neutestamentlichen Buchstabens lösen.

Es waren die Romantiker, die einerseits den Geist der Aufklärung und Selbstbestimmung in sich trugen, andererseits zum devoten Credo zurückgekehrt waren. Streng unterschieden sie zwischen der Lehre Jesu, den sie zu einem heiligmäßigen Sokrates verklärten, und dem jüdischen Paulus, der trotz Gnadenlehre immer noch allzu viel altjüdische Buchstaben-Borniertheit in sich trug.

Schleiermacher hatte Platons Werke fast vollständig übersetzt und war von Autonomie ebenso durchdrungen wie von der Unfähigkeit, sich ganz und gar von der Schrift zu lösen.

Die deutsche Seele erkannte sich vollständig im Gleichnis vom verlorenen Sohn, der unbedingt nach Freiheit strebt, in Freiheit aber vor die Hunde geht und reumütig zum Vater zurückkriecht, der ein großes Fest feiern lässt als Triumph über den gescheiterten Sohn, als Zeichen seiner patriarchalischen Unersetzlichkeit und Unbezwingbarkeit.

Seitdem sind alle Helden in der deutschen Literatur gescheiterte Helden. Ein auftrumpfendes Halb-und-Halb, ein kräftiges Sowohl-Als-auch, eine entschiedene Unentschiedenheit, eine kraftmeiernde Laxheit und Lauheit: das ist die psychische Grund-Position der Deutschen, die jeden Widerspruch, jeden Gegensatz, jede Unverträglichkeit zur Strecke und zur harmonischen Raison bringen können.

In dieser Hinsicht war Hegel ein Matador der romantischen Harmoniesucht, indem er alles, was nicht bei drei auf den Bäumen war, zur dialektischen Versöhnung brachte, zur Liebe und Einheit alles Seins, zum friedlichen Ende allen Streits auf Erden. Zum Ende der Geschichte in Friede, Freude, Eierkuchen.

Der große Graben zwischen Amerika und Deutschland – Deutschland stellvertretend für Europa, hier wurden diese Fragen am klarsten ausgefochten – liegt im Gebiet biblischer Deutungsfragen, die Gelehrten sprechen von Hermeneutik.

Nicht in allen Fragen war Deutschland rückständig. In Fragen der Hermeneutik, der historisch-kritischen Forschung waren die Deutschen Weltspitze. Hier liegt Amerika auf dem Niveau des beginnenden 19. Jahrhunderts. Was nicht bedeutet, dass die Deutschen die Grundfragen befriedigend gelöst hätten.

Amerikaner deuten die Schrift buchstäblich und wortwörtlich. Luther nannte diese Deutungsart – es war die seinige – sensus literalis. Alle anderen Deutungsarten, wie die allegorische oder uneigentlich-metaphorische, lehnte er ab.

Diese genau hinschauende und präzis lesende Deutungsart hatte er von den Humanisten übernommen – das waren die damaligen Philologen, die sich vor allem um die wiederaufgetauchten altgriechischen Texte verdient gemacht hatten.

Die wörtliche Deutung ist die rationale Art, einen Text zu lesen und zu verstehen. So lernt jedes Kind in der Schule. B, A, U, M ergibt Baum. Baum und nicht Strauch. X ist X und nicht Y. So lesen Amerikaner die Schrift. Wenn da drin steht, die Welt geht unter, dann geht sie unter, denn Gott hat die Schrift diktiert, also ist sie unfehlbar.

Wir sehen hier zwei Prinzipien zusammenfallen, die im Grunde gar nicht zusammenpassen: die rational-autonome und die spirituell-fremdbestimmte, die sich der himmlischen Autorität unterwirft. Diese Mixtur aus kindlicher Rationalität und kindischer Devotheit vor einer jenseitigen Macht: das ist das Doppelgesicht Amerikas. Wenn sie die Schrift wortwörtlich nehmen, sind sie so rational, wie wenn sie ein Buch oder die Zeitung lesen und begreifen.

An diesem Punkt gehen die Deutschen in die Irre. Indem sie die Bibel einer unbeschränkten, jedem Zeitgeist folgenden, frei flottierenden und projektiven Deutung unterziehen, geben sie sich die Lizenz – die nichts ist als undisziplinierte Willkür –, aus X nach Belieben ein Y oder sonst was zu machen.

Die Deutungen der Schrift wechseln im Rhythmus wechselnder Zeitgeist-Ideologien. Vor dem Krieg waren sie naturfeindlich und technikgläubig (macht euch die Erde untertan), gewalttätig und weltbeglückend, menschenrechts- und demokratiefeindlich (seid untertan der Obrigkeit).

Inzwischen haben sie den Zeitgeist eingeholt. Was sie mühsam nachpauken mussten, haben sie inzwischen auch gleich erfunden: Demokratie und Menschenrechte, Emanzipation der Frauen und Ökologie. Es ist wie im Neusprech-Ministerium Orwells: sobald eine neue Deutung zur Stützung der Macht erforderlich ist, werden die Bücher in Gänze umgeschrieben, umgedeutet und verfälscht.

Durch Entgrenzung der Deutungshoheit haben die Deutschen die einfachsten rationalen Grundsätze des Lesens und Verstehens über Bord geworfen. Das buchstäbliche Verstehen beschimpfen sie inzwischen – nicht anders als Vernunft und Aufklärung – als dogmatisch und fundamentalistisch.

Die Absurdität dieses Verfahrens erkennt man, wenn man das Deutungs-Tohuwabohu auf „weltliche“ Bücher und Zeitschriften überträgt. Würde man Cäsar, ein Physikbuch oder eine Gazette nach der chaotischen Art theologischer Schriftdeutung lesen, würde uns die Welt morgen früh für endgültig übergeschnappt erklären.

Tiefenpsychologisch ist dieser hermeneutische Doppelstandard – nicht unähnlich der mittelalterlichen doppelten Moral oder der doppelten Wahrheit – der Grund für die Leseschwäche der Deutschen. Schauen sie einmal in die heilige Schrift und entdecken Fürchterliches und Grauenhaftes, kriegen sie regelmäßig von den zuständigen Priestern und Schriftgelehrten zu verstehen, sie verstünden den Text nicht. Der bedeute etwas gänzlich anderes als der simple „sensus literalis“.

Wenn hier steht: ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert, heißt das in Wahrheit: ich bin der große Friedensfürst dieser Welt. So wird die rationale Struktur des kindlichen Lesens an der Wurzel zerstört. Jedes Kind lernt, sich für einen schwachsinnigen Idioten zu halten, der nicht imstande ist, ein X als X zu lesen. Alles muss einen verborgenen, höheren Sinn haben, den man ohne Anleitung von angemaßten Autoritäten nicht entschlüsseln kann.

Diese Erfahrungen am wichtigsten, am heiligen Buch, färben ab auf alle andern Bücher. Dementsprechend groß ist die Unfähigkeit, einen Zeitungsartikel wortwörtlich zu lesen und zu verstehen.

Das gilt auch für Gazettenschreiber, die im höheren Sinn herumwabern, in der berechtigten Meinung, ihre Artikel werden ohnehin nicht genau gelesen und wenn, hat der geistbesoffene Schreiber sich eben was ganz anderes dabei gedacht als er mit schnöden Buchstaben aufs Papier bringen konnte.

Die Deutschen haben ihre Überlegenheit im kritischen Umgang mit heiligen Schriften längst ins Gegenteil verkehrt. Da sie ab Schleiermacher glaubten, an den Buchstaben der Texte nicht mehr gebunden zu sein, torkeln und schweben sie in der Bibel herum wie abgenabelte Astronauten im tiefen Weltenraum.

Ihre absolute Deutungsfreiheit entspricht der absoluten Freiheit ihres Gottes, der sich an keine Vernunft- und Naturgesetze seiner Schöpfung halten muss. Anders wäre er ja nicht allmächtig. Allmacht als unbegrenzte Deutungswillkür – oder Voluntarismus – ist die gegenwärtige Position einer Nation, die sich für gläubig hält, obgleich sie ihren Glauben nach Belieben drehen und wenden, verändern, verkürzen oder ins Gegenteil verkehren kann wie es ihr grade in den Sinn kommt.

In biblischen Deutungsdingen fühlen sich die Deutschen unschlagbar und gottebenbildlich – und verachten das amerikanische Kleben am Text als Sklavendienst am Buchstaben. Der amerikanische Buchstaben tötet, der deutsche Geist macht lebendig. Während die Amerikaner am Boden kleben, schweben die Deutschen im unbegrenzten Äther des Geistes und gurren wie die Engelein.

Sie sind nicht in der Lage zu sagen: wir geben die Schrift auf, weil wir an deren Botschaften nicht mehr glauben. Nein, sie betreiben ein doppelbödiges Spiel. Alles bleibt unverändert und die Schrift maßgebend – dennoch kann alles ungeniert verändert werden, wie es einem der heilige Geist ins Ohr flüstert.

So what, könnte man fragen, wo ist das Problem? Was hat dies alles mit Realität zu tun?

Alles. Es geht um Weltpolitik, um das Verstehen der verschiedenen Politikstile, die im Westen alle einer unterirdischen biblischen Agenda folgen. Wenn alle derselben Schrift folgen, doch jeder mit unterschiedlichen Konsequenzen, kann die wachsende Kluft der Miss- und Unverständlichkeit nur in einem finalen Desaster enden.

Die Amerikaner halten sich für gläubig – und lassen die Welt in buchstäblichem Schriftgehorsam vor die Hunde gehen. Weil sie in ihrer täglichen Schriftlesung die prophetischen Aussagen lesen, dass der Herr kommt. Bald kommt er wie der Dieb in der Nacht, schon steht er vor der Tür, lässt die ganze alte Natur übers Messer springen und zaubert eine nagelneue aus dem Zylinder.

Das ist die Agenda der Romney-Politik, in leicht abgeschwächter Form auch die der Obama-Politik. Und der überwiegenden Mehrheit aller Amerikaner.

Man glaubt es nicht, diese tief verankerten Politprinzipien verstehen die Deutschen nicht, ja, sie nehmen sie gar nicht zur Kenntnis. Der Grund liegt auf der Hand: sie verstehen nichts von ihrem eigenen Glauben, ihrem gespaltenen Deutungsirresein, ihrem unbeweglichen Halb und Halb zwischen Vernunft und Glauben. Nichts von ihrem Zwiespalt zwischen sapere aude und einem blindwütigen Fürwahrhalten dessen, was Autoritäten ihnen seit Beginn der Grundschule ins Heft diktieren. Auch die Deutschen halten sich für gläubig und meinen, mit Jesus am besten die Schöpfung zu bewahren.

Derselbe Unterschied in oeconomicis. Amerikaner werden hemmungslos wohlständig und halten ihren Erfolg für den Beweis ihrer Erwähltheit, den Beweis ihres überlegenen Geistes und der Kraft. Deutsche hingegen sind wie immer in der Mitte gespalten: einerseits haben sie sich dem amerikanischen Rummel untergeordnet, gleichzeitig aber ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht Reichtum, sondern Armut für das Eintrittsbillet ins Himmelreich halten. (Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr …)

In den wichtigsten Punkten der Weltpolitik sind die beiden Nationen diametral verschiedener Auffassung, obgleich sich beide demselben Glauben verpflichtet fühlen. Die Amerikaner laut, deutlich und unumwunden; die Deutschen verschämt, unklar, hochnäsig und die provinziellen amerikanischen Schriftfundamentalisten verachtend.

Überträgt man das Ganze auf die Psychologie der Deutschen, fühlen sie in ihrer tiefsten Kindheitsseele die unverbrüchliche wortwörtliche Wahrheit der biblischen Urkunden. Doch knapp über der kindlichen Seele beginnt das Chaos, ein Wirrwarr aus nebligem Kannitverstan des biblischen Krams, aus Momenten aufgeklärter Überlegenheit über die kindischen Mythen von Himmel, Hölle und Weltuntergang.

All dies fließt zusammen in grenzenloser Desorientiertheit. Einmal fühlt der Deutsche sich der Bibel überlegen und für immer entnabelt, ein andermal möchte er jedem Gottlosen die Ohren abschneiden, weil er die Wahrheit des Christentums zu verhöhnen scheint.

Dieses mentale Chaos, diese Unaufgeräumtheit des eigenen Kopfes ist nicht schichtenspezifisch. Die größten Gelehrten, die wichtigsten Wirtschaftsführer und Politiker sind in diesen grundlegenden Glaubensfragen keinen Deut heller als Lieschen Müller, die noch eher die Freiheit aufbringt, ihre Unwissenheit zu gestehen als die professionellen und verbissenen Verteidiger des Abendlandes.

Was Amerika fehlt, ist eine generelle Aufklärung, wie Europa sie im 17. und 18. Jahrhundert erlebt hat, um überhaupt mitzukriegen, dass es noch andere Sichten der Welt gibt als die biblische.

Was Deutschen und Europäern fehlt, ist eine Aufklärung in biblischen Dingen, damit sie merken: sie stecken wesentlich mehr im Glauben, als sie bislang wahrhaben wollten. Ihre bisherige Aufklärung ist so halbherzig wie ihr Glaube, dessen empfundene, aber nicht verstandene Mängel sie der Kirche in die Schuhe schieben, um sich den Kinderglauben an das reine unbefleckte Urevangelium bewahren zu können.

Dass die Kirche die wortwörtliche Vollstreckerin des Urevangeliums sein könnte, diese Idee schieben sie weit von sich weg. Niemand ist über die Bibel hinaus, wer sie mit allerfreiesten Deutungen zur Unkenntlichkeit planiert.

Die ursprünglichen Bedeutungen der Schriften mögen tief vergraben und verbuddelt werden: aus der Tiefe des Raums kontaminieren sie ungebrochen die Direktiven des privaten und politischen Handelns. Es ist wie in der Breschnew-Zeit, als man die Leiche Stalins in den Tiefen des Kreml versteckte. Verborgen ist nicht eliminiert. Wie Putin mit Leichtigkeit den Geist Stalins reanimieren kann, so der Papst die herrischen Grundsätze der ecclesia militans. Kommen andere Zeiten, kommen andere Deutungen – und wenn es die uralten und unmenschlichen sind.

Die Amerikaner wissen, was sie wollen. Ihr Wollen und Wissen steht wortwörtlich in heiligen Dokumenten, von jedem nachzulesen, der lesen kann.

Die Europäer wissen es nicht. Sie sind zerrissen zwischen vorpubertärem Gefühlsglauben und nachpubertären Vernunftanwandlungen.

Die monolithischeren Amerikaner werden die Europäer an die Wand fahren, die in allen Fragen schwankend und ambivalent sind. Was sie gläubig tun, zerstören sie mit ihrer Vernunft. Was sie mit Vernunft aufbauen, räumen sie mit Gottes Hilfe vom Tisch. Ununterbrochen blinken sie links und biegen nach rechts. Sie sind wie Merkel, die sie – sofern sie Intellektuelle sind – am liebsten in Stücke rissen, weil sie genauso sind.

Keine Rede, dass sie werte- und prinzipienlos wären. In allen Dingen widersprechen sie ihrem Selbstverständnis: weder haben sie ihre Widersprüche erkannt, noch bearbeitet oder gar zur Synthese gebracht. Sie wissen nicht, wer sie sind und sie wissen nicht, was sie wollen.

Nach Hegel lebt in Unwahrheit, wer störrisch auf der Ebene des Widerspruchs verharrt. Dieses störrische Verharren im Widerspruch ist nach Hegel das Böse.

Vor Dekaden benötigten die Deutschen einen Führer als Auflöser ihrer himmelschreienden Widersprüche, der die Welt in Schutt und Asche legte. Sie reinigten sich vom Bösen, indem sie das Böse exekutierten.

Heute sind sie einen Schritt weiter und legen die Natur in Schutt und Asche. Um der Erkenntnis ihrer Widersprüche zu entgehen.