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Hello, Freunde der Russen,

nicht alle Russen sind Putins Freunde, nicht alle Russen, die Putin die Treue halten, unterstützen seine Brecheisen-Politik. Nicht alle Russen hassen Gorbatschow, weil er das Riesenreich zerbrochen hat. Sonst wären ja die meisten Menschen des Riesenreichs Revanchisten.

Die Russen sind enttäuscht und wütend, dass der Westen ihnen die Friedensdividende ihrer Beendigung des Kalten Krieges vorenthalten hat. Sie zürnen, weil sie dem Westen die Hand entgegenstreckten und als Gegengabe einen Kapitalismus der schlimmsten Sorte erhielten.

Sie schenkten den Deutschen die Wiedervereinigung, ließen die Ost-West-Mauer abtragen, verkleinerten ihr Atomwaffenarsenal, plädierten für globalen Frieden, wirtschaftliche Gerechtigkeit und ökologische Rettung der Erde.

Tugenden, die es ernst meinen, werden vom Westen sofort bestraft. Der Westen reserviert Tugenden für den Sonntag und fürs Familienfest, im Alltag müssen amoralische Interessen gnadenlos durchgepeitscht werden.

Streng genommen kann man das keine Heuchelei nennen. Die Doppelzüngigkeit wird von allen Politikern, Medien und Priestern auf allen Podien, Kanzeln und in allen Kommentaren gepredigt, gepriesen und getrommelt. Das gespaltene Bewusstsein ist die ungeteilte Haltung des christlichen Westens. Der omnipräsente Widerspruch ist das Lebenselixier einer religiösen Kultur, die schlechterdings nichts ausschließt, nicht mal das Abscheuliche und Unverträgliche. Je absurder und widersprüchlicher,

desto besser.

Der Gott des Westens lässt sich durch Logik nicht erfassen. Er steht jenseits aller Denkgesetze. Der Satz des Widerspruchs ist eine Erfindung der Heiden. Für Gläubige gilt der Satz: bei Gott sind alle Dinge möglich. Je unmöglicher etwas scheint, desto glaubwürdiger ist es für das unergründliche Geheimnis des Numinosen.

„Fast jeder zweite Russe spricht sich sechs Monate nach dem Aufflammen der Kämpfe in der Ostukraine gegen eine militärische Einmischung aus. Immer noch erreicht die Unterstützung für Wladimir Putin laut Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums rund 80 Prozent. Auffällig ist aber, dass die Zahl der Befürworter eines Einmarschs in der Ukraine von im März noch 74 Prozent auf heute 41 Prozent gesunken sind.“ (K.-Helge Donath in der TAZ)

Der Marsch der russischen Friedensfreunde sollte auch „eine Veranstaltung gegen den Hass sein, den Putin in seinen öffentlichen Auftritten verkörpere und der die Atmosphäre im Lande vergiftet habe. Die Demonstranten müssten die Erfahrung machen, dass es Gleichgesinnte gebe.“

Solche Meldungen werden von westlichen Medien kaum erwähnt oder unter „Verschiedenes“ unter den Teppich gekehrt. Man stelle sich vor, die westlichen Medien würden solche Friedenssignale unisono auf der ersten Seite abdrucken und mit einhelligen Kommentaren beantworten: „Zeit für Frieden. Völker in Ost und West, lasst uns zusammenrücken und uns von flegelhaften, bedenkenlosen Eliten nicht länger auseinander dividieren.“

Völlig unmöglich. Das würde das mediale Dogma verletzen, nur schlechte Nachrichten seien gut für Quote und Umsatz. Westliche Tagesbeobachter sind streng objektiv gegenüber allen Zeitläuften. Zwar fordern sie ständig eine Politik der Interessen und nicht der Moral, sie selbst aber scheinen keine Interessen zu haben. Vom Guten wie dem Schlechtem stehen sie gleichweit entfernt. Selbst einen drohenden Weltuntergang betrachten sie in kalter Unparteilichkeit. Was geht es sie an, wenn sie verschwinden müssen?

Während westliche Demonstrationen – selbst für überlebensnotwendige Ziele – immer lustloser werden, gibt es in Russland mutige Kämpfer für Völkerverständigung und gegen Waffengeklirr. Michail Laschkewitz ist Physiker im Staatsdienst. Dennoch lässt er es sich nicht nehmen, im „Soloprotest“ gegen seine martialische Regierung in aller Öffentlichkeit Stellung zu nehmen.

K.-Helge Donath hat ihn in der TAZ interviewt: „Russland greift einen Nachbarn an, verübt einen Akt der Aggression. Ich schäme mich aber auch, weil so viele meiner Landsleute diesen Krieg aktiv unterstützen.“

Woher kommt das Gefühl der Bevölkerung, sich aggressiv gegen den Westen verhalten zu müssen?

Sie werden das Gefühl nicht los, Opfer zu sein. Das autoritäre Regime unterstützt diese Wahrnehmung, da sich die Menschen inzwischen wieder rechtlos und ausgeliefert fühlen. Sie fürchten Übergriffe des Staates oder krimineller Gruppen, die jederzeit stattfinden können. Keiner weiß, wie er sich dagegen schützen kann. Die Hilflosigkeit fördert das Bedürfnis nach Identifikation. In der Größe des Staates wird dann die persönliche Einfluss- und Bedeutungslosigkeit kompensiert.“ (Michail Laschkewitz im TAZ-Interview)

Das also ist das Grundgefühl der russischen Bevölkerung. Sie muss sich mit den Machogebärden der Regierung identifizieren, denn sie fühlt sich hilflos und desorientiert. Für den Westen besteht Russland nur aus Putin, dem besten Mitspieler des Westens: die Rolle des Bösewichtes spielt er wie in einem John-Wayne-Film. Der Westen benötigt das Weltböse, um es bis zum Ende aller Tage zu bekämpfen.

Putin, nicht faul, schlägt mit denselben ecclesiogenen Waffen zurück. Längst ist der ehemalige Sozialist zum politischen Handlanger der russisch-orthodoxen Popen geworden, die in Mütterchen Russland die erwählte Nation und im dekadenten Westen den Gottseibeiuns erkannt haben.

Prophete rechts, Prophete links, die Deutschen in der Mitte. Der Kern der Weltpolitik ist ein Krieg der Religionen zwischen allen Kohorten des alleinseligmachenden Glaubens. Sei es im Namen des westlichen oder östlichen Christengottes, des jüdischen Jahwes oder des muslimischen Allahs.

Jede der drei Erlösungsreligionen beansprucht das Monopol des Heils und verwirft die beiden anderen als satanische Ausgeburten des Unheils. Momentan gibt es eine engere Scheinkooperation zwischen Christen und Juden gegen Muslime. Früher standen die Juden den Muslimen näher. Heute wird dies alles verdrängt, der christlich-jüdische Westen wirft sich gemeinsam gegen Mohammeds Gefolgsleute.

Die russisch-orthodoxen Christen, schon vor Jahrhunderten vom westlichen Christentum abgespalten, passen nicht in die Choreografie des in sich verbissenen Dreiers aus Muslimen, Juden und der lutherisch-calvinistisch-katholischen Ökumene. Russland stört. Zumal die gottlose Vergangenheit des Sozialismus im Westen nicht vergessen ist.

Washington, Jerusalem, Wittenberg und Genf wollen nicht wahrhaben, dass Putin zum besten Freund der Popen geworden ist. Welche Westler wissen schon etwas über die Orthodoxen, wenn sie nicht mal den Unterschied zwischen Papisten und Calvinisten kennen?

Noch schlimmer als der zum Glauben konvertierte Putin war sein Vorgänger Gorbatschow, der kein Sozialist, aber auch kein gläubiger Christ war, sondern in heidnischer Vermessenheit auf die menschliche Vernunft setzte. Das hat man ihm im Westen übel genommen.

Russland unter Gorbatschow war gerade dabei, eine vorbildliche Aufklärungsepoche zu beginnen, während das Glaubens-Bedürfnis im Westen alle selbstgewisse Vernunft als verseuchtes Sondergut zu entsorgen suchte.

Verkehrte Welt. Früher mussten progressive Russen in den Westen reisen, um den Vorzug der Raison kennenzulernen. Heute müssten die Westler – wenn Gorbatschows Ideen im russischen Volk hätten ausreifen dürfen – alle gen Ural und Kaukasus pilgern. Gemäß dem alten Wort: ex oriente lux, aus dem Osten das Licht.

Gottlob ist die Gefahr einer friedensstiftenden Großmacht glimpflich vorübergegangen. Die alten Gräben sind wieder ausgehoben, die Claims abgesteckt. Der kleine NSA-Konflikt ist ausgestanden, Merkel weiß inzwischen, was Internet ist, die westliche Allianz braucht sich wieder, um teuflische Muslime auszurotten.

Was ist dagegen schon das bisschen Freiheitsentzug durch Ausschnüffeln des allmächtigen Auge Gottes, das die Heraufkunft des ISIS-Hunnenzugs seltsamerweise nicht bemerkt hat. Sie können jede Konsumgewohnheit voraussehen, doch was sich mitten in Nahost an riesiger krimineller Energie zu sammeln beginnt: das entgeht ihren Spähmethoden.

Oder sollte man absichtliche Blindheit unterstellen? Durften die allwissenden Algorithmen nichts bemerken? Oh wie wohl ist mir am Abend, wenn zur Muslimenhatz die Glocken läuten. Wenn weit hinten in der Türkei die irrgläubigen Völker aufeinander schlagen.

Im Kreuzzug der Religionen darf die Stimme des Vatikans nicht fehlen. Bei seinem Besuch in Albanien gab Franziskus der Welt ein Rätsel auf:

„Niemand darf den Namen Gottes gebrauchen, um Gewalt auszuüben“, so der Pontifex am Sonntag in der Hauptstadt Tirana. „Im Namen Gottes zu töten, ist ein schweres Sakrileg! Im Namen Gottes zu diskriminieren, ist unmenschlich“, sagte das Kirchenoberhaupt in Anspielung auf Milizen wie „Islamischer Staat“. (SPIEGEL Online)

Von welchem Gott sprach der Papst? Die Stimme welchen Gottes durfte er sein? Den biblischen Gott konnte er nicht meinen. Auch in seiner argentinischen Schrift wird stehen, was in Luthers wortgewaltiger Übersetzung steht:

„Der Herr tödtet und macht lebendig, Füret in die Helle und wider er aus.“ „Ich kann tödten und lebendig machen. Ich kann schlagen und kann heilen. Und ist der niemand, der aus meiner Hand errette. So will ich mich wider rechen an meinen Feinden Und denen, die mich hassen, vergelten. Ich will meine Pfeil mit blut truncken machen und mein Schwert sol fleisch fressen. Über dem blut der Erschlagenen und über dem gefengnis und über dem entblößten heubt des Feindes. Jauchzet Alle, die ihr sein Volck seid, denn er wird das Blut seiner Knechte rechen. Und wird sich an seinen Feinden rechen und gnedig sein dem Lande seines Volcks.“ (Im Original)

Kann ein Papst lügen? Natürlich nicht, sonst wäre er nicht unfehlbar. Lügen kann nur, wer die Gesetze der Logik missachtet. Wer den Satz des Widerspruchs für Teufelsspuk hält, kann reden, was er will, er ist immer aus dem Schneider. Heut hü, morgen hott, heute X, morgen Anti-X, wie‘s aus dem gesalbten Munde kommt, so kommt‘s.

Eigentlich müsste man sagen, die Frommen lügen wie gedruckt, doch das wäre aus der bornierten Perspektive schnöder Logik. Gott kann sich nicht widersprechen, er ist jenseits von Gut und Böse, These und Antithese, Wahrheit und Irrtum. Wenn Gott und seine Stellvertreter etwas behaupten, muss es wahr sein, weil sie es sagen. Wie bei allen Handlungen entscheidet auch hier das Motiv, das Vorzeichen vor der Klammer. Da Gott alle Menschen liebt – wie wissenschaftliche Erhebungen zeigen –, kann er nicht lügen, irren schon gar nicht.

Nehmen wir einmal an – oh Himmel vergib –, dass der Papst und seine Priester dennoch lügen würden, weil nicht Alogik, sondern Logik der Maßstab der Wahrheit wäre, was wäre dann? Dann wäre der Vater aller katholischen Christen ein professioneller Lügenbold, ein Verdreher der biblischen Schrift, der seine Lügen als neueste Deutungen der Schrift verkaufen würde. Mit der Auskunft, die Deutungen direkt aus dem Himmel empfangen zu haben. Der Papst würde nicht zurückschrecken, den Himmel zum Kumpan seiner Lügen zu machen, indem er sich auf persönliche Offenbarungen beruft.

Warum hat das Christentum die Welt überwunden? Weil es in seinen Widersprüchen unwiderlegbar ist und in seinem cälestischen Register nie auf dem falschen Fuß erwischt werden kann. Für alle Eventualitäten besitzt es die passgenaue Antwort. Auch Menschen, die keine Argumente haben, wollen unwiderlegbar sein. Also ziehen sie den Panzer des Glaubens an und sind für immer immun. Glauben heißt, mit bestem Gewissen lügen, als spräche man an Gottes statt.

Für weltliche Vernunft ist es sonnenklar: ISIS mordet im Namen Allahs. Fundamentalisten der drei Monotheismen dürfen im Namen ihres Gottes alle Verbrechen begehen, die sie für opportun halten, um ihre Macht zu erhalten und zu erweitern.

Zugegeben, momentan verleugnet das westliche Christentum seine göttliche Verbrecherkompetenz durch Anschleimungen an den modernen Humanismus, der den Popen durch die Aufklärer abgerungen worden war. Doch das ist nur eine listige Übergangstäuschung, solange sie zu ohnmächtig sind, um den Hammer aus dem Keller zu holen. Sie verwerfen ja nicht die Bibel, sie maniküren den Text nur anders.

Ändern sich die Zeiten und sie erobern ihre alte Macht zurück, werden sie keine Sekunde zögern, ihre archaischen Hexen- und Inquisitionsmethoden auszugraben. Wie jener fromme Gottesmann es einst formulierte: „Solange wir in der Minderheit sind, fordern wir die Duldung auf Grund Eurer Prinzipien; wenn wir die Mehrheit haben, verweigern wir sie Euch auf Grund der unsrigen.“

Nie war der polnische Papst ein Freund der Demokratie. Er tat nur so, um in seinem Kampf gegen die gottlose Vorherrschaft der Sowjetrussen das westliche Wohlwollen der Rechtmäßigkeit zu gewinnen. Wäre Johannes Paul II ein echter Demokrat gewesen, hätte er den Vatikan zerlegen und sich selbst zur Wahl durchs Kirchenvolk stellen müssen.

Momentan verhält sich die Kirche, als könne sie kein Wässerlein trüben. Das ist intermediäre Mimikry durch Verfälschungen der Heiligen Schrift, die sie geistbegabte Hermeneutik zu nennen wagt. Würde sie es ernst meinen mit ihrer neuen Gesinnung, müsste sie die alten Texte im Tone äußerster Missbilligung ad acta legen. Tut sie aber nicht. Da sie noch immer am unfehlbaren Wort festhält, gilt nach wie vor die Meinung eines kompetenten Historikers:

„Es kann keine furchtbarere Kriegserklärung gegen alle Andersdenkenden geben, als die Stelle des Galatherbriefes, wo alle Religionen des Polytheismus und alle zu „Schisma“ und „Häresie“ führenden Glaubensmeinungen als „Werke des Fleisches“ und seiner Gelüste gegen den Geist erklärt und auf ein und dieselbe Linie gestellt werden wie „Fressen und Saufen, Ehebruch und Unzucht, Hass, Neid und Mord. In ihnen wurzeln im letzten Grunde alle die Greuel, welche die Rechtgläubigkeit im Namen des Christentums gegen Andersdenkende verübt hat, und welche die Greuel der Arena noch weit überboten haben. Kann man sich gegenüber der Gefährlichkeit eines solchen Standpunktes darüber wundern, dass die Andersgläubigen den Christen eine ausgeprägt gesellschaftsfeindliche Gesinnung, einen „Hass gegen das Menschengeschlecht“ zum Vorwurf machten wie sie später auch tatsächlich in Folge dieser Gesinnung an der Menschheit verübt worden sind.“ (Robert von Pöhlmann: „Der Staat und das Christentum“)

Die meisten Christen haben sich vom tödlichen Geist dieser Sätze weit entfernt. Nicht anders als die meisten Muslime, die dem Buchstabensinn des Korans nicht mehr folgen können. In diesem Sinn hat die muslimische Theologin Katajun Amirpur recht, wenn sie die Durchschnittsmoral der meisten Muslime nicht verwechselt haben will mit der Schreckensmoral der Fanatiker.

Was aber auf keinen Fall geht, ist Distanzieren und Festhalten in einem Akt. Auch Deuten ist Verfälschen des klaren Buchstabensinns. Ausgerechnet die Fanatiker der drei Religionen bewahren am getreuesten den Buchstabensinn ihrer Schriften.

Die Fälschung hingegen wird ausgerechnet von jenen betrieben, die aus einem menschenfeindlichen X ein humanistisches Y machen. Die gute Absicht betrügt sich selbst, wenn Buchstabengläubige mit derselben Schrift ihre Menschheitsverbrechen absegnen können.

Oh menschenfreundliche Muslime, Christen und Juden: trennt euch von euren unfehlbaren Offenbarungen, erst dann könnt ihr den Beweis eurer logischen Folgerichtigkeit und humanen Gesinnung erbringen!

Autonome und theonome Moral vertragen sich nie und nimmer. Solange ihr euch nicht für eine Moral entscheidet, kann eure Gutgläubigkeit missbraucht werden, um schlimme Verbrechen zu legitimieren. Das wollt ihr nicht. Das könnt ihr nicht wollen.

Wer kein nützlicher Idiot der ISIS sein will, muss sich von seinem heiligen Buch für immer verabschieden.