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Richter und Propheten

Hello, Freunde des unethischen Deutschlands,

laut Grundgesetz lässt sich in Deutschland ein Anspruch auf Ethik nicht begründen. Der Religionsunterricht hingegen sei besonders geschützt. Einen Verstoß gegen den in der Verfassung verankerten Gleichheitsgrundsatz haben die Richter des Bundesverwaltungsgerichts nicht erkennen können. Eine Freiburger Mutter hatte geklagt, dass ihr Kind in der Grundschule ein Recht auf Ethikunterricht haben müsse.

Hat es nicht. Und Deutschland auch nicht. Ethik fällt aus in Deutschland. Deutschland darf weiterhin unethisch bleiben. Ethik ist Moral, also muss Deutschland unmoralisch – oder religiös – bleiben.

Vortrefflich: bejubelt die WELT das Urteil. Nun haben auch gottlose Kinder die Möglichkeit, im Religionsunterricht Ethisches zu lernen. Denn:

„Alle Kinder sollten wissen, dass viele der ethischen Prinzipien unserer Gesellschaft christliche Wurzeln haben“. (Thomas Sebastian Vitzthum in der WELT) In süffisanter Gläubigkeit resümiert der WELT-Schreiber:

„Kinder haben aber auch ein Recht zu erfahren, woher viele der ethischen Grundprinzipien ihrer Gesellschaft stammen. Vielleicht verstehen sie sie dann auch besser. Also: Entspannt euch!“

Nein, Deutschland ist nicht das Weltkind in der Mitte: links amerikanische Theokraten und rechts russische Cäsaropapisten.

Wenn Religion nichts anderes wäre als Ethik, wäre Religionsunterricht identisch mit Ethikunterricht. Religion muss etwas anderes sein als Ethik, sonst

müsste sie nicht besonders geschützt werden.

Ist Ethik weniger schützenswert als Religion? Ist Moral weniger wichtig als Glauben? Als unmoralischer, amoralischer, unethischer Glaube? Wenn Religion identisch wäre mit Moral, wäre sie besonders geschützt – wenn Moral besonders geschützt wäre.

Von welcher Religion ist die Rede? In einem Handbuch der Religionswissenschaft gibt es Hunderte von Religionen. Die meisten sind Naturreligionen: Natur ist göttlich und anbetungswürdig. Es gibt nichts Natürliches, das nicht durchdrungen wäre von Göttlichem.

Naturreligionen sind Mutterreligionen. Terra mater, Bachamama, Gaia, Mutter Natur hat den Menschen erschaffen, ernährt ihn, sorgt sich um ihn, dass er auf Erden ein gutes, ja, ein glückliches Leben führen kann. Der Sinn des Lebens ist gut und glücklich leben. Auf der Welt, in der Natur.

Ein Jenseits der Natur gibt es nicht. Kein sinnvolles Leben bezieht sich auf ein Jenseits, das das Glück im Diesseits gefährden könnte, gefährden müsste. Wäre Glück des Jenseits identisch mit dem Glück des Diesseits, wäre die Jenseitsreligion nur eine verlängerte Diesseitsreligion.

Im Gegensatz zu nichtwestlichen Naturreligionen sind westliche Religionen männliche Erlöserreligionen. Die Natur ist von einem Mann erschaffen, der sie nach Belieben wieder entsorgen kann. Der Mensch ist unfähig, auf Erden glücklich zu werden. Das soll er auch nicht, er soll erst im Jenseits glücklich werden – wenn die Natur zerstört worden ist. Sinn und Glück des Jenseits eliminieren Sinn und Glück des Diesseits.

Im Jenseits glücklich werden kann der Mensch nur mit göttlicher Hilfe. Der männliche Gott, der dem Menschen zum jenseitigen Glück verhilft, ist der Erlöser des Menschen. Männerreligionen sind Erlöserreligionen, die Mutter Natur zerstören müssen, um den schwachen Menschen im Jenseits zu erlösen. Erlösung ist Naturzerstörung.

Männer- und Erlöserreligionen bestehen aus zwei Welten: der natürlichen Welt, die zerstört werden muss und der übernatürlichen, die unzerstörbar und ewig ist. Männliche Erlöserreligionen sind dualistische Religionen.

Weibliche Naturreligionen bestehen nur aus einer Welt, der Natur, die von niemandem gemacht wurde und von Ewigkeit zu Ewigkeit besteht. Naturreligionen sind monistische Religionen, sie kennen nur die eine Welt, die mit der Natur identisch ist.

Von Ewigkeit zu Ewigkeit: diese Eigenschaft der Natur hat der männliche Schöpfergott der Natur entwendet. Der gigantische Mann schmückt sich mit Federn der mütterlichen Natur.

Der Westen wird von drei männlichen Erlöserreligionen dominiert. Die nichtwestliche Welt wird von weiblichen Naturreligionen bestimmt. Die Konfliktlinien der Religionen sind die kriegerischen Frontlinien der Weltpolitik.

Erlöserreligionen kämpfen um das Prädikat, die einzige und wahre Erlösungsreligion zu sein. Jede Erlösungsreligion ist alleinseligmachend und intolerant gegen konkurrierende Erlösungsreligionen und heidnische Naturreligionen.

Für Christen sind Juden und Muslime verirrte Ketzer, die sich zum christlichen Heil bekennen müssen, wenn sie nicht zur Hölle fahren wollen. Juden denken dasselbe über Christen und Muslime, Muslime dasselbe über Christen und Juden.

Jeder Erlösungsanspruch ist einmalig, alleinseligmachend und unfehlbar. Folglich muss jede andere Erlösungsreligion die Erfindung des Teufels sein – von absurden Naturreligionen ganz zu schweigen.

Erlöserreligionen gründen ihr unduldsames Alleinstellungsmerkmal auf ein Heiliges Buch, weshalb Erlöserreligionen auch Buchreligionen genannt werden. Buchreligionen empfinden sich wie Geschwister, wenn auch tödlich verfeindete. Je näher und verwandter sie sich fühlen, je mehr hassen sie sich. Trotz des Hasses fühlen sie sich als überlegene Religionen, gemessen an buchlosen, primitiven und triebgesteuerten Naturreligionen.

In der gegenwärtigen Weltpolitik haben sich Christentum und Judentum gegen den Islam verbündet. Im Mittelalter standen sich Judentum und Islam näher als beide dem Christentum. Juden flüchteten sich in muslimische Länder, wenn sie vor dem inquisitorischen Feuer der Christen flüchten mussten. Die deutschen NS-Erlöser standen Muslimen wiederum näher als den Juden, die sie von der Erde tilgen wollten.

Die momentane Symbiose aus amerikanischen Christen und Juden beruht nicht auf liebender Nähe, sondern auf instrumenteller Ausbeutung der rivalisierenden Religion, die man benötigt, um das messianische Endreich einzuläuten.

Alle drei Erlöserreligionen konkurrieren – ohne es zuzugeben – um finale Weltherrschaft. Am Ende will jede Erlöserreligion allein auf dem Berge Jerusalem regieren und alle anderen Völker vor sich im Staube liegen sehen. Wer sich der Siegerreligion nicht beugt und den wahren Glauben nicht übernimmt, wird ausgelöscht.

Das sind die internen Fronten der Erlöserreligionen. Alle drei Erlöserreligionen fühlen sich dem naturreligiösen Rest der Welt überlegen, der ohnehin keine Chance auf Weltherrschaft hat. Denn Naturreligionen kennen keine Heilsgeschichte mit finalem Ausgang. Eine Weltherrschaft am Ende der Zeiten ist ihnen unbekannt. Ihr Raum- und Zeitgefühl ist völlig anders als das Zeit- und Landnahmegefühl der Erlöserreligionen, die Raum und Zeit besiegen müssen, um am Ende der Geschichte strahlender Auserwählter ihres Geschichtsgottes zu sein.

Naturreligionen müssen nicht andere Religionen bekämpfen, um ihr Glück auf Erden zu finden. Natürlich gibt es Mischreligionen zwischen Natur- und Erlöserreligionen. Zwischen weiblicher Natur und männlicher Erlösung gibt es keine Variante, die es nicht gibt.

Die Ursachen der Weltkonflikte sind ausnahmslos erlösungsreligiöse Ursachen.

Naturreligionen wollen in der Regel andere Religionen nicht überwältigen. Durch aggressive Dominanz aber der westlichen Erlösungsreligionen fühlen sie sich in die Enge gedrückt und wollen sich nicht widerstandlos besiegen lassen. Also sehen sie sich gezwungen, die Aggressionen westlicher Erlöserreligionen durch Gegenaggressionen zu beantworten – wodurch sie ihre einstige Friedfertigkeit aufgeben mussten.

Der Siegeszug der westlich-christlichen Zivilisation über die Welt hat die nichtchristliche Welt gezwungen, ebenfalls christliche Eigenschaften zu übernehmen – oder unterzugehen. Ob Indien und China dabei bleiben werden, den Westen mit eigenen Waffen zu schlagen oder ob sie zu den Ursprüngen ihrer früheren Religion und Philosophie zurückkehren, wird sich erst in Zukunft zeigen.

Materielle Ursachen der Konflikte gibt es nicht, es sei, sie hätten religiöse Relevanz. Es ist hirnrissig, von religiösen Kulturen zu behaupten, aus materiellen Interessen würden sie Kriege beginnen. Wäre das so, wären sie keine religiös durchdrungenen Kulturen. Entweder sind sie religiös, dann sind es auch ihre Konflikte oder sie sind es nicht: dann erst könnte man von nichtreligiösen Ursachen sprechen.

Marx sprach von materiellen Ursachen, weil er aus Protest Materie zur Religion erklärte. Seine ganze Philosophie war nichts als eine in der Wolle gefärbte religiöse Heilsgeschichte. In Erlöserreligionen sind Materie und Geist keine Widersprüche. So wenig, wie Diesseits und Jenseits Widersprüche sind.

Keine Religion ist die Offenbarung eines Gottes. Auch Erlöserreligionen sind Erfindungen des Menschen, der mit Hilfe eines fiktiven Jenseits das reale Diesseits beherrschen will. Der Schöpfergott der Erlöser hat die Funktion, die Erlöser mit den Eigenschaften ihres fiktiven Gottes auszustatten, um Andersgläubigen zu imponieren und sie mit fiktiver Allmacht einzuschüchtern.

Sprechen Erlöser von Geist, meinen sie Macht und Materie im Diesseits. Sprechen sie von Zeichen des Geistes und der Kraft, meinen sie Macht durch Wirtschaft, Technik und militärische Gewalt. Ihr Glaube beweist sich durch konkrete, wirtschaftliche, wissenschaftliche und politische Überlegenheit über alle Ungläubigen und Falschgläubigen.

Für Deutsche ist Glaube ein spirituelles Luftgebilde, das mit Realität nichts zu tun hat. Obgleich sie Christen sein wollen, haben sie den Kern der Heilsgeschichte – Anfang, Mitte und Ende der Zeit – ausgeblendet. Ihr Glaube ist eine Mischung aus diffusem Jenseits und entmythologisiertem Diesseits.

Biblizistische Amerikaner leben noch völlig im Mythos ihrer ungekürzten Heiligen Schrift und sind vom Ende der Zeiten überzeugt. Dann wird ihr Messias kommen, die alte Erde eliminieren und sie auf neuer Erde als auserwähltes Volk zu Endsiegern erklären.

Die gleichen Grundwerte zwischen Amerikanern und Deutschen existieren nur auf dem Papier. In Wirklichkeit befinden sich beide Völker in verschiedenen Welten, zumal die Deutschen ihr angebliches Christentum mehr oder minder in gewaltlose Humanität verwandelt haben, während Amerikaner sich ihren Glauben ohne gesegnete Waffen nicht vorstellen können.

Am amerikanischsten sind die Deutschen da, wo sie sich auf den Gott in ihrer Verfassung berufen und den Kirchen – die sie als religiöse Vollzugskräfte anerkennen – auf allen Ebenen der Politik Sonderrechte einräumen. In den USA sind Kirchen und Sekten offiziell vom Staat getrennt, doch gerade als getrennte haben sie mehr Macht über das öffentliche Geschehen als bei uns die staatsprivilegierten Kirchen.

Ethik ist Moral. Was bedeutet es für einen Staat, wenn Religion wichtiger sein soll als Moral? Dass der Staat so unmoralisch werden muss, wie die Religion es von ihm verlangt.

Erlöserreligion ist keine Moral, denn sie lässt alle Moralen zu, wenn sie nur mit der richtigen Motivation – dem Glauben – verbunden ist. In der Religion sind nicht Taten entscheidend, sondern die Herzensregungen, die zu diesen Taten führten.

Im christlichen Glaubensbekenntnis werden keine Taten gefordert, sondern Gesinnungen. Drohnen dürfen fremde Kinder töten, wenn die Gesinnung der Soldaten von Nächstenliebe erfüllt ist. Obama darf quälen und foltern, wenn er nur seine Opfer herzinniglich liebt. Umgekehrt sind Dekalog und Bergpredigt Aufforderungen zum Glauben.

Ein Mord im Namen Gottes ist kein Mord, sondern Beitrag zu einem heiligen Krieg. Alles, was im Namen Gottes getan wird, ist von Gott abgesegnet. Nichts ist verboten, was Gott von seinen Gläubigen in seinem Namen fordert. Im Alten Testament werden ganze Völker, einschließlich Frauen und Kindern, im Namen Gottes abgeschlachtet. Wer sich weigerte, sich an den Massakern zu beteiligen, wurde selbst abgeschlachtet.

Christen fühlen sich solchen alttestamentarischen Barbareien weltenweit überlegen und berufen sich auf das Gebot der Nächstenliebe. Doch ihre Vorstellungen höllischer Bestrafung der Ungläubigen sind noch schrecklicher als die Schrecken des Alten Testamentes. Die Ewigkeit ihrer Höllenstrafen ist an Grausamkeit durch nichts zu überbieten.

Der Gott der Erlöser ist amoralisch oder antinomisch – wider das Gesetz. Von Ihm kommt Gutes und Böses. Der Teufel ist seine Erfindung und sein Werkzeug. Für Luther sind Gott und Teufel die verschiedenen Seiten derselben Medaille.

Ein Gott, der nach Belieben Teuflisches einsetzt, um seinen Willen zu exekutieren, ist kein Gott der Moral. Sondern das Gegenteil. Das Böse, das in seinem Namen getan wird, nennt er das Gute und Heilige. Böseres als das Böse, das im Namen des Guten und Göttlichen daherkommt, ist nicht denkbar.

Der Gott der Erlöser ist ein satanischer, moral- und menschenhassender Gott. Er spricht von Liebe, wenn sein Wille geschieht, dem alles erlaubt ist. Liebe und Hass zeigt sich nicht an unterschiedlichen und unvereinbaren Taten, sondern an der Abkunft der Taten. Stammen die Taten von Gott und seinen gläubigen Marionetten, sind alle Taten gut und göttlich – und seien sie noch so infernalisch.

Demokratische Moral beruht auf selbstbestimmter Vernunft und nicht auf Außenlenkung durch himmlische Belohnung und höllische Strafe. Eine Moral, die nicht selbstbestimmt ist, ist auf keinen Fall eine Moral, sondern eine Unterdrückungs- und Demütigungsmaßnahme. Ein Drillmittel zur totalen Lenkung abhängiger und furchtsamer Kreaturen.

Nationalsozialistische Moral ist eine Tochter der christlichen Moral. Hier ein allmächtiger Gott, dort der allmächtige Führer, das Werkzeug Gottes, der Vorsehung oder der Heilsgeschichte.

Das Urteil der Verwaltungsrichter ist für Deutschland eine Katastrophe. Indem sie Religion über Moral stellen, entlarven sie die deutsche Verfassung als Instrument religiöser Unduldsamkeit im Kampf gegen Vernunft und Aufklärung.

Demokratie lebt von autonomen BürgerInnen, die in der Lage sind, ihre Moral auf der Agora in Auseinandersetzung auf gleicher Augenhöhe zu entwickeln. Sollte es eine Religion geben, die den Akt der Selbstbestimmung fördert und unterstützt, wäre es eine demokratische Religion.

Die christliche Religion ist das Gegenteil einer demokratischen Religion. Im Namen eines ominösen Jenseits bekämpft sie das Diesseits – den Menschen mit seiner Fähigkeit, selbst zu denken, solidarisch zu handeln und die Natur zu erhalten – bis aufs Messer.

Nicht die Logik einer menschenfreundlichen Welt bestimmt den Unterricht unserer Kinder, sondern die welthassende Logik einer Überwelt:

„Wer sein Leben liebt, verliert es, wer sein Leben in dieser Welt hasst, wird es ins ewige Leben bewahren.“

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen: das Urteil gegen die Ethik hat Kant zur Makulatur gemacht. In der Religion hat man göttlichen Geboten zu folgen und nicht dem eigenen Verstand. Wir sind in vorkantische Verhältnisse zurückgefallen.

Warum tragen Richter Roben? Weil sie ihren Beruf allzu oft mit dem von Priestern und Stellvertretern des Himmels verwechseln. Der Spruch irdischer Rechtsgelehrter war ein Spruch göttlicher Richter und Propheten.