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Religion

Hello, Freunde der Religion,

gestern war ein Tag des Triumphs. Aus dem Osten Europas droht Krieg, der Westen sammelt sich im Zeichen des Heiligen. Welch eindrucksvolles Bild ging vom Petersplatz aus in die ganze Welt. Übertragen von vielen Kanälen.

In Deutschland war es Phönix, der politische Kanal der Chefredakteure, der es sich nicht nehmen ließ, das geistliche Schwert mit weltlicher Technik zu verherrlichen, kommentiert von glaubensfesten Journalisten und Liturgiewissenschaftlern. Kritische Stimmen hätten den besonderen Schutz der Religion gefährdet.

Der Gott der abendländischen Verfassung visualisierte sich und ward prunkvolles Fleisch: Könige, Herzöge, Staatsmänner machten den mächtigen Priestern in Rom ihre Aufwartung und feierten die Heiligsprechung des rechtgläubigen Westens gegen das von dämonischen Geistern getriebene Ostrom, das sich nach kurzzeitiger Annäherung an den Okzident wieder abwendet von fassadärer Demokratie und halbseidener Aufklärung des Westens und zurückweicht in die asiatischen Tiefen der Popen- und Zarenverehrung, die unmittelbar an Gott grenzen.

Im Vatikan gäbe es keinen Prunk, dementierte der adrette Erzbischof Gänswein und lächelte fein.

Die Welt braucht Krieg, sie muss erneuert und gereinigt werden. Ihre Probleme nehmen überhand und dringen ihr aus allen Poren. Über den Krieg gegen die Natur spricht niemand mehr, der unsichtbare Krieg mitten im Frieden – manche sprechen von Kapitalismus – darf ungehindert Sicherheiten zerstören, Elend verbreiten und

seelisch notleidenden Milliardären ein sinnstiftendes Leben bescheren.

Aus der Mitte Berlins, aus der Mitte Londons werden die letzten Mittelschichtler vertrieben, die Superreichen der Welt brauchen Platz für smarte Hochhäuser. Für tägliche Schlagzeilen sorgen Flüchtlinge, die im Meer versinken. Europäische Länder verwalten das Elend, fast komplette Generationen von Jugendlichen wissen nicht, wozu sie leben. In China gibt’s frische Luft und gesundes Wasser bald nur noch für jene, die in alpenländische Kurorte fliegen und auf einsamen Südseeinseln in quellfrischen Urwaldbächen planschen.

Der Westen verabschiedet sich von konjunkturbelastenden Wohlfühldemokratien und erfindet perfekte Techno-Pluto-Oligarchien auf hoher See. Es wird Zeit, dass sich die alte schäbige und verkommene Plebsdemokratie von Grund verändert. Allzu lange hat der Pöbel den frechen Anspruch erhoben, mitzureden, es wird Zeit, dass man ihm das ungewaschene Maul stopft. Ohnehin ist die Zeit der Fehlgeburt Mensch vorbei.

„Der Mensch hat nie mehr eine Chance“, formuliert kokett der SPIEGEL das geplante Ende der Menschheit. Neue Maschinen sollen den Menschen überflüssig machen. Die Herrschaft der Erde wird von Robotern übernommen. Dass die Menschheit sich selbst ausrottet, ist hartgesottenen Gazettenlesern kein müdes Augenklimpern mehr wert:

„George Hinton, der Deep-Learning-Forscher, ist überzeugt, dass eine neue Ära der Maschinenintelligenz unmittelbar bevorsteht. Sie werde beginnen, sobald die neuronalen Computernetzwerke zum ersten Mal die manuelle Programmierung durch Menschen schlagen: „Es ist wie damals, als die Menschen ein Wett-Tauziehen mit den ersten Dampfmaschinen veranstalteten. Als das erste Mal eine Dampfmaschine gewann, war es vorbei. Der Mensch hatte nie wieder eine Chance.“ (Thomas Schulz in SPIEGEL Online)

Wie der Romantiker Novalis ins Mittelalter, fällt der Westen zurück in Denkweisen biblizistischer Offenbarung. In Amerika dreht sich die Sonne wieder um die Erde, verbunden mit der apokalyptischen Prophetie: „alles Leben wird sterben“:

„Digitale Planeten zischen vorbei, man sieht Sterne und Gewitterwolken über Paris, die Musik schwillt an, Wissenschaftler sprechen von einer „Krise der Kosmologie“, vom „größten Mysterium der Schöpfung“, vom „Moment der Wahrheit“ und davon, dass „die Zukunft sehr trübe aussieht“: „Alles Leben wird sterben.“ (Marc Pitzke in SPIEGEL Online)

Neopreußische Christen in Brandenburg wollen keine Versöhnungskirchen mehr als Tempel der Volkspädagogik. Die Stiftung Preußisches Kulturerbe zieht ihre millionenschwere Hilfe für den Neubau der Garnisonkirche in Potsdam zurück. Der Stiftungssprecher „stört sich an der geplanten Nutzung als Versöhnungsort und kritisiert das als „zeitgeistigen, polit-historischen Missbrauch der Garnisonkirche zur Volkspädagogik“. Klaar wollte die Kirche stattdessen als „Denkmal und Symbol des christlichen Preußens“ erbaut sehen; sein Verein wollte auch hier keine Pastorinnen sehen – und sperrte die Gelder.“ (Jana Haase im TAGESSPIEGEL)

Wie Kirchenvater Augustin hören Experten aus dem Schreien der Neugeborenen das Geplärr des egoistischen Teufels. Durch Schreien soll das Zeugen von Nebenbuhlern verhindert werden. Wissenschaftliche Psychologie auf dem Niveau der Erbsünde.  (SPIEGEL Online)

Keine Woche ohne obligate Weltuntergangsfilme im deutschen TV-Programm aus dem ästhetischen Offenbarungslabor Heiliger Wald – oder Hollywood. Die Menschheit soll apokalyptisch konditioniert werden. Viele sind berufen, wenige auserwählt. Die Wenigen konzentrieren sich auf das Neue Kanaan in Gottes eigenem Land.

Beispiel vom Samstag: „Sunshine“: „Die Sonne stirbt, das Leben auf der Erde geht zu Ende. Kapitän K. mit einer internationalen Crew aus acht Wissenschaftlern soll die Leuchtkraft der Sonne mithilfe einer nuklearen Sprengung neu entzünden, um die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren.“

Welche Zukunft uns erwartet, sieht man im Film „Die Tribute von Panem (Ostermontag). „Im futuristischen Land Panem werden alljährlich Hungerspiele veranstaltet. Sie sollen die bettelarme Bevölkerung an die brutale Niederschlagung eines Aufstandes durch die reiche Hauptstadt, das Kapitol erinnern“.

Die neuen Supermaschinen sind nicht nur Heilande, sondern können sich – wie im wahren Leben – zu teuflischen Wesen entwickeln. Beispiel „Terminator 3 – Rebellion der Maschinen“: „John Connor ist es einst gelungen, die Vernichtung der Menschheit durch Maschinen zu verhindern. Zehn Jahre später muss er wieder ran: Ein neuer Killer-Cyborg ist hinter ihm her. Er kommt aus der Zukunft, um den Job zu erledigen, den sein Vorgänger nicht zu Ende bringen konnte.“

Biblische Mythen fluten unser Leben. Je höher die Probleme, je dringlicher die heilige Generalreinigung. Die Sehnsucht nach der weißen Leinwand, der Tabula rasa, nach Wiedergeburt durch Selbstauslöschung der alten Sündenkreaturen wird zum Traum vom kathartischen Krieg.

Wer seine Konflikte und Widersprüche nicht mit Verstand lösen kann, ist auf Wunder durch Religion angewiesen. Man kann streiten, ob die Probleme überkomplex und unlösbar dargestellt werden, damit der Zauberlehrling nach dem Wundermann ruft oder ob der Wunderglaube die Problemlösungskräfte des Menschen so schwächt, dass er es für Hybris halten muss, seine Probleme aus eigener Kraft zu lösen: Hauptsache, die alten Meister mit ihrer Wunderkraft kommen zur Geltung.

Für Georg Lukàcs war dieser verhängnisvolle Mechanismus die Vorlaufgeschichte zur deutschen Katastrophe:

„Je größer die Verzweiflung wird, je mehr in ihr das Gefühl der Gefährdung der individuellen Existenz zum Ausdruck kommt, desto mehr müssen Leichtgläubigkeit und Wundererwartung aus ihr erwachsen. Es ist klar, dass hier eine der Quellen der Wundererwartungen ist: die Lage mag verzweifelt sein, aber das „gottbegnadete Genie (Bismarck, Wilhelm II, Hitler)“ wird schon durch schöpferische Intuition einen Ausweg finden. Je gefährdeter die Sekurität ist, je unmittelbarer steht die individuelle Existenz auf dem Spiel, je intensiver werden Leichtgläubigkeit und Wundererwarten“. (Lukàcs: „Die Zerstörung der Vernunft Bd I)

(Im Vatikan wurde der Nachweis des Wunders in einem Fall gleich völlig übergangen. Wer an Wunder glauben will, soll nicht klügeln, er soll glauben.)

Damit Probleme unlösbar werden, müssen passende Begriffe vernichtet und der Wahrheitsbegriff zerstört werden. Probleme lösen erfordert die präzise Benennung derselben und die Voraussetzung, dass sie in Wahrheit erkannt werden können.

In der Philosophie der Gegenwart – die nichts anderes ist als die paulinische Predigt, dass die Wahrheit der Welt eine Torheit vor Gott ist – gibt’s weder wahres Erkennen noch Begreifen der Realität mit wahren Begriffen. Begriffe sind wie Schall und Rauch. Alles ist projektiv, alles trügerisch.

Die alles relativierende Postmoderne ist die Steigbügelhalterin der absoluten Religion und des alleinseligmachenden Kapitalismus. Man könnte auch so formulieren: die natürlich-heidnische Wahrheitserkenntnis taugt nichts – damit die überirdisch-göttliche ihre Erlösungsfunktion behält.

Auch NSA, Google und Silicon Valley gehören zur Wiederkehr der Religion. Das panoptische Auge Gottes ist die Vorlage der alles wissen wollenden Spähprogramme der gottseligen Createure ex nihilo. Wie der Schöpfer alles von seinen Kreaturen weiß und ihr finsteres Herz durchschaut, so wollen die durchdringenden Augen der Siliconisten die leicht durchschaubaren Netzbenutzer bis ins letzte Jota durchleuchten.

„Spräche ich: Finsternis möge mich decken! so muß die Nacht auch Licht um mich sein. Denn auch Finsternis ist nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht. Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleib. Ich danke dir dafür, daß ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, und das erkennt meine Seele wohl. Es war dir mein Gebein nicht verhohlen, da ich im Verborgenen gemacht ward, da ich gebildet ward unten in der Erde. Deine Augen sahen mich, da ich noch unbereitet war, und alle Tage waren auf dein Buch geschrieben, die noch werden sollten, als derselben keiner da war.“ (Psalm 139)

Vor seinem Erschaffer kann sich kein Geschöpf verstecken. Das ist auch die Zielmarke der amerikanischen Herzensdurchleuchter. Nur der sündenreine Zeitgenosse muss die Seelenerforschung nicht fürchten. „Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun.“ So Eric Schmidt.

Google will nicht nur überwachen, der faschismusappetente Geniekonzern will die Menschheit erziehen. Aus Sündern will er wiedergeborene Christen machen. Wie im Abendmahl Brot und Wein zu Leib und Blut Christi, so soll im Internet der Benutzer zu einer jungfräulich reinen Tabula rasa verwandelt werden. „Wasche mich, dass ich schneeweiß werde“. Das Benutzen des Netzes soll den Benutzer durch die algorithmische Taufe in ein neues Geschöpf verzaubern. Wer nichts zu verbergen hat, hat von Eric Schmidt nichts zu befürchten.

Seit der griechischen Aufklärung wurde Religion aus der Furcht des Menschen abgleitet. So bei Demokrit, Epikur und anderen gottlosen Gesellen, deren Schriften man im christlichen Abendland konsequent vernichtete – im Gegensatz zum religionsfreundlichen Platon, den man zum heidnischen Vorläufer des Evangeliums stilisierte.

Epikur leugnete nicht die Existenz von Göttern überhaupt. Sie waren nur völlig belanglos. Was er bekämpfte, war eine Religion, die aus der Furcht vor dem Tod oder vor jenseitiger Strafe resultierte:

„Gewöhne dich daran zu glauben, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat. Denn alles, was gut, und alles, was schlecht ist, ist Sache der Wahrnehmung. Der Verlust der Wahrnehmung aber ist der Tod. Daher macht die richtige Erkenntnis, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat, die Vergänglichkeit des Lebens zu einer Quelle der Lust, indem sie uns keine unbegrenzte Zeit in Aussicht stellt, sondern das Verlangen nach Unsterblichkeit aufhebt. […] Das schauerlichste aller Übel, der Tod, hat also keine Bedeutung für uns; denn solange wir da sind, ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht da.“

Gäbe es keine ständige Furcht der Menschen, ihr Leben zu verpfuschen, den Tod als Eingang zur Hölle zu erleben, von ihren Mitmenschen als Versager angesehen zu werden, gäbe es dann noch Religion?

Religion ernährt sich von den Wunden der Menschen. Also müssen ihm systematisch Wunden zugefügt werden, dass er nach Heilung lechzt.

Der Kapitalismus ist ein ausgezeichneter Schreckenerreger und Wundenzufüger. Alle Sicherheiten werden von ihm unterspült, alle Behaglichkeiten weggeschwemmt. Die Deutschen – aufgrund ihrer langen unsicheren Geschichte enorm sicherheitsbedürftig – werden als Vollkasko-Zwangsneurotiker diffamiert. Der Risikospieler wird als Vorbild des Menschen ausgezeichnet. Risiken erhöhen wiederum die Furcht vor dem launischen Schicksal.

„Da hat, scheint mir, ein schlauer kluger Mann die Gottesfurcht den Sterblichen erfunden. Ein Schrecken sollte sie den Bösen sein, Wär heimlich auch die Tat, Wort und Gedanke. So führt er denn die Religion ein: Ein Wesen ist, in ewgem Leben prangend, Des Geist hört, sieht und voll von Weisheit ist, Auf alles achtend, göttlich von Natur. Er hört ein jeglich Wort, das Menschen reden, Und keine Tat bleibt seinem Blick verborgen. Auch wenn du im Stillen nur du Böses sinnst, Die Götter merken es, denn überlegen ist ihre Weisheit.“ (Kritias)

Nein, ein böser Priester hat diese religiöse Mär nicht erfunden. Wäre Religion nicht das Produkt der Menschheit, hätte sie sich in derselben nicht durchsetzen können. Religion ist eine Erfindung des Menschen, um seine Probleme zu lösen – wenn er sie nicht mehr lösen kann. Oder: damit er sie nicht mehr lösen kann.

Im Vatikan herrscht Hochstimmung. Die Religion feiert ihre triumphale Rückkehr. Da kommt die Kriegsgefahr aus dem Osten wie gerufen. Krieg und religiöse Heilung sind siamesische Zwillinge.

Noch nie seit Hunderten von Jahren ist die mittelalterliche ordo unter Leitung des geistlichen Schwertes so nahe herbeigekommen. Man sorge für unlösbare Probleme und schon steigt die Nachfrage nach dem Messianischen.

Anarchie, so Novalis, ist das Zeugungselement der Religion:

„Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor. Aus dem Konflikt und der gesteigerten Berührung der europäischen Staaten erwächst ein Staat der Staaten: an seiner Spitze eine geistliche Macht. Und das also wird das neue Europa, die neue Christenheit, die neue sichtbare Kirche sein, die alle nach dem Überirdischen dürstenden Seelen in ihren Schoß aufnehmen wird.“ (Novalis)

Der Philosoph Habermas – ein Seelenverwandter Benedikts, was die religiöse Verankerung der Demokratie betrifft – fordert eine neue Europabewegung. Doch glaubt er nicht, dass es eine „Europabewegung von unten“ geben kann. Von oben sieht er auch keine Besserungschancen. (Arno Widmann in der BLZ)

Was bleibt? Nur ein Wunder aus der Kraft des Heiligen. Bruder Papst, übernehmen Sie. Aufklärer Habermas hat Europa an den Wunderglauben verraten. An die Klugheit und Vernunft des Volkes glaubt er lange nicht mehr.

Er ist ein Linker aus deutschem Schrot und Korn.