Kategorien
Philosophie und Politik

Vom Nutzen und der Moral

Vom Nutzen und der Moral

Ist eine moralische Entscheidung nur richtig, wenn sie erfolgreich ist? Falsch, wenn sie praktisch in die Hosen geht? Am Beispiel Libyen: Wäre im Falle einer Niederlage der libyschen Rebellen die militärische Hilfe der Nato falsch gewesen? Übersetzen wir das mal in eine andere Zeit. Hätten die Alliierten gegen Hitler verloren, wäre ihr Einsatz falsch gewesen? Dann sind wir endgültig amerikanisiert. Das Kriterium der Wahrheit ist allein der Erfolg.

In Vorkriegsdeutschland wurde die Nutzenphilosophie der Angelsachsen nur mit Herablassung und Verachtung behandelt. Die Dichter und Denker gaben sich als kategorische Kantianer, obgleich sie meisten hegelianisch dachten, die dem Erfolg auch nicht gerade abhold waren. Wenngleich sie denselben nicht als Werk menschlicher Marionetten, sondern des Weltgeistes höchstselbst betrachteten.

Bei den frommen Biblizisten drüben überm Teich nicht viel anders. Erfolg ist Segen Gottes, der nicht erst im Jenseits, sondern schon hienieden als Macht und Reichtum zu Buche schlägt. Während die Deutschen einen Weltkrieg benötigten, um den Endsieg einzufahren, waren die Amis davon überzeugt, ihn mit der Eroberung des neuen Kontinents schon errungen zu haben. Sie fühlten sich

in Gottes eigenem Land, im neuen Kanaan, wo Milch und Honig fließt. Der Wettbewerb der auserwählten Nationen war ein Run auf das Dritte Reich Joachim di Fiores. Wer würde zuerst ankommen, wer würde sich als das wahre auserwählte Volk in Kraft und Herrlichkeit erweisen?

Das war das unausgesprochene, aber stets vorhandene Erfolgskriterium aller christlichen Nationen. Der Sieg über alle ungläubigen Staaten mit militärischen und wirtschaftlichen Methoden sollte aller Welt beweisen, dass man beim Herrn der Geschichte Liebling Nr. 1 war. Das Ende der Geschichte wäre auch ein Ende des Glaubens gewesen. Denn was man sieht, muss man nicht mehr glauben.

Glauben muss man, was nicht offen zu Tage liegt. Solange der Messias verzieht, kann man nur glauben und hoffen, dass er kein Truggebilde ist. Wird er in Triumph einziehen, ist die Zeit des bloßen Fürwahrhaltens, Hoffens und Glaubens vorüber. Die Endzeit des Schauens ist da. Nun sehe und höre jeder mit eigenen Sinnen, dass seine Hoffnungen nicht auf Sand gebaut waren. Kommen einem diese Kategorien nicht bekannt vor? Es sind die platonischen, die hier auf heiligem Boden zur Erfüllung oder ans Ziel kommen. Der nicht-denkende Mensch war bei Platon auf die trügerische Botschaft seiner Sinne angewiesen. Der Philosoph hingegen schaute im Geiste das unwandelbare Reich der Ideen.

Das musste von den ehrgeizzerfressenen Christen überboten werden. Doch wie? Im Alten Testament durfte man Gott nicht schauen, es sei denn, man war eine Ausnahmeerscheinung. Für gewöhnliche Sterbliche galt: Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis machen, es galt ein absolutes Bilderverbot. Doch die besonders Frommen bildeten die Ausnahme: „Die Redlichen schauen sein Angesicht.“ Ps. 11,7. Der Gläubige träumt davon, endlich das Antlitz des Höchsten zu sehen: „Wann werde ich kommen und Gottes Angesicht schauen?“ Ps. 42, 3.

Die ultimative Antwort erteilte erst das Neue Testament. Was nur verheissen wurde im Alten Testament, kam in der Frohen Botschaft zur Erfüllung: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ Matth. 5, 8. Doch wann? Jesus war zwar Gottes Sohn, aber im anonymen Leib der Menschen. Seine Glorie war nur für die zu sehen, die an ihn glaubten. Die anderen, die verstockten Juden etwa spotteten über ihn: was kann aus Nazareth Gutes kommen? Der hergelaufene Sohn eines Zimmermanns soll der erwartete Messias sein, der uns vom Joch der Römer und aller Gojim befreien soll?? Das war eine Zumutung für die auf weltlichen Erfolg setzenden Kinder Israels, die weniger aufs Jenseits denn aufs Diesseits setzten.

Die alten Hebräer waren keine transzendenten Dualisten und himmlischen Spökenkieker. Hic Rhodus, hic salta, hier auf Erden spielt die Hochzeit. Erst die zur völligen Passivität degenerierten Urchristen, die sich vom weltlichen Geschehen nix mehr erhofften, verschoben ihre Glückserwartungen in ein ominöses Jenseits. Hier beginnt die Weichenstellung der Moderne, die Spaltung in Erfolgsorientierte und bedingungslose Moralisten. Die Juden waren die knallharten Pragmatiker, wollten endlich den lang ersehnten Erfolg über alles, was nicht Jahwe anbetete. Die Urchristen hingegen mussten glauben, dass ihre Entscheidung für den Nazaräer die richtige war. Auf schnellen und alle Welt überwältigenden Erfolg mussten sie verzichten.

Nicht anders bei Kant, bei dem man zuerst die richtige kategorische Entscheidung zu treffen hatte – um irgendwann mit Glückseligkeit belohnt zu werden. Durch einen logisch erklügelten Gott. Kant war seiner Struktur nach Urchrist: zuerst moralisch sein ohne Aussicht auf Belohnung – das entsprach dem Glauben. Dann erst – in weiter Entfernung von der Tat – Erfolg einheimsen in Form von Glückseligkeit.

Nun erst verstehen wir die emotionalen Untergründe der deutschen Verachtung des angelsächsischen Erfolgsdenkens. Es jüdelte bei den pragmatischen Vettern jenseits des Teiches. Ihnen ging es nicht um Moral, sondern um handfeste säkulare Macht und Herrlichkeit. Und zwar subito. Der 68er Spontispruch: wir wollen mehr als alles, war ein amerikanisch inspirierter Aufstand gegen das altdeutsche Warten und Warten auf den nie erscheinenden Heiland. 2000 Jahre lang vergeblich harren, war das nicht genug? Hitler und die Seinen waren von derselben Ungeduld und wollten das goldene tausendjährige Reich mit Gewalt herbeizwingen. Wir kennen bereits die unmittelbare Vorgeschichte dieser deutschen Ungeduld von den schwäbischen Chiliasten Ötinger, Bengel über deren Schüler Hegel und Schelling – bis zur Ausgießung des Heiligen Geistes im Dritten Reich.

Es ist in der Tat ein Grunddilemma für jeden Menschen: will ich moralisch sein, selbst wenn ich zum Scheitern verurteilt bin – oder will ich Erfolg, selbst wenn ich über Leichen gehen muss? Eine der erschütterndsten Tatsachen der Welthistorie: die Geschichte des kleinen Mannes, der nur gut sein will und von den Mordsbrigaden der Dschingis Kahn, Stalin und Hitler überrollt, gebrandschatzt und geschändet wird.

Schaut man nicht genau hin, könnte man in das Lamento der Menschenhasser einstimmen, dass gegen Brutalität noch kein Kräutchen gewachsen sei. Im mörderischen Fight zwischen Moral und Gewalt habe das Gute noch nie eine Chance gehabt. In religiöser Version ist das die Geschichte Hiobs, der nie gegen Jahwes Gebote verstieß und dennoch über die Maßen leiden muss. Verstehen kann er das nicht, doch am Ende beugt er sich dem Denkverbot des Himmels. Dennoch – und deshalb – endet seine Jeremiade mit einem Happy End. Auf Gott ist Verlass, so will es das Buch Hiob darstellen.

Nur, was machen jene, die Gott nicht erfahren, weil er das Produkt fiebriger Träume ist? Das Moralische als unbedingte Kategorie ist momentan dermaßen out, dass selbst Jean Ziegler sich die Frage gefallen lassen muss: Haben Sie denn Erfolg mit ihren ewig gleichen Anklagen? Sollte er denn die Klappe halten, selbst wenn er kein einziges Kind retten könnte? Ist seine Haltung falsch, nur weil die Welt ihm nicht folgt? Heute ist niemand mehr an nix schuldig. Die Kategorie Schuld ist ersatzlos gestrichen, es gibt nur noch bösartige, projektive Schuld-Zuweisungen.

Wer nun in falscher Märtyrerhaltung auf jeglichen Erfolg verzichten wollte, wäre genau so erfolgsfixiert. Sein einziger Maßstab, an dem er sich mäße, bliebe der nachzählbare Erfolg. Natürlich müssen wir Erfolg wollen und versuchen, unsere Vorstellungen in Realität zu übersetzen. Alles andere wäre elitäre Klugscheisserei im Elfenbeinturm. Aber die Richtigkeit unserer Gedanken vom Erfolg abhängig zu machen, wäre ein Kniefall vor dem herrschenden Zeitgeist. Und der ist nicht identisch mit der Wahrheit. Die Geschichte kann nicht Kriterium der Wahrheit, die Wahrheit muss Kriterium der Geschichte sein.

Zurück zum Schauen und Glauben. Als der ungläubige Thomas dem auferstandenen Herrn begegnete, sah er und wollte doch nicht glauben. Durch weitere sinnliche Überprüfung musste er vom Herrn überzeugt werden: „Reiche mir deine Finger hierher und siehe meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie mir auf in die Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig.“ Joh. 20, 27.

Das klingt reichlich merkwürdig. Warum soll man glauben, wenn man das Objekt der Begierde sinnlich verifizieren kann? Zwar hat Thomas einen bekannten Menschen gesehen, doch war das auch tatsächlich der erwartete Messias? Noch kam jener nicht mit himmlischen Heerscharen, um seine Feinde vor aller Augen zu erlegen und sein Reich, für alle Welt sichtbar, zu installieren. Sinnliche Schein sollte überzeugen, obgleich die Sinnenwelt noch gar nicht von der übersinnlichen Welt besetzt war.

Da lag ein Problem verborgen, das Paulus anderwärts so beschreibt: „Denn im Glauben wandeln wir, nicht im Schauen.“ 2. Kor. 5, 7. Erst das Drüben ist das Reich unbedingten Schauens, wenn das Erkennen aus Stückwerk abgetan sein wird. „Jetzt ist mein Erkennen (= Schauen) Stückwerk, dann aber werde ich völlig erkennen, wie ich auch völlig erkannt worden bin.“ 1. Kor. 13, 12.

Hier wird das Zögern des Paulus deutlich, schon auf Erden das vollendete Erkennen oder Schauen zu propagieren. Das hätte doch allzuschnell die erwartbaren Zweifel provoziert: im Reich der sündigen Natur und des bösen Menschen soll ich schon perfekt sein, obgleich alle Fakten der Geschichte dagegen sprechen und wir als Gläubige noch immer unter dem Kuratel des Antichrists zu leiden haben? Gibt es das Vollendete im Unvollendeten, das richtige Leben im falschen?

Bei Platon gab es nur wenige Weise und die mussten wieder in die Höhle zurück, ob sie wollten oder nicht, um ihre Weisheit den Höhlenbewohnern nicht vorzuenthalten. Die Stoiker stritten, ob es auf Erden den vollkommenen Weisen überhaupt geben kann. Wenn, so die Antwort, dann aber so selten wie eine echte Perle in der Auster.

Ab dem Mittelalter, ab Joachim di Fiore, stritt sich das Christentum, ob es hienieden zur Perfektion gelangen kann oder bis zur Ankunft des Herrn im Fleische wandeln muss. War das Dritte Reich eine reale Option für die Heilsgeschichte oder mussten die Kinder Gottes bis zur Parusie in Leid, Sünde und Machtlosigkeit verharren?

Die Amerikaner entschieden sich für den Himmel auf Erden, desgleichen Karl Marx, wenn auch in zeitlicher Verzögerung. Die Nazis wollten das Reich der Vollendung mit dem messianischen Flammenschwert erzwingen. Noch ist dieser Grundsatzstreit nicht ausgestanden. Wenn’s ihnen schlecht geht, den Lieblingen Jesu, schreiben sie es der Wirkung des Satan zu, der noch immer die Welt regiert. Geht’s ihnen gut und sie triumphieren über ihre Feinde, so hören sie die Engel – auf Erden singen.