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Politie

Hello, Freunde der Politie,

eine vorbildliche Demokratie nennt Aristoteles Politie. Demokratie oder Pöbelherrschaft ist für ihn Herrschaft der Armen, die ihre Mehrheit nutzen, um die Minderheit der Reichen zu drangsalieren. (Diese Pöbelherrschaft nennt er gelegentlich auch Ochlokratie.)

Eine Politie beruht auf der Existenz eines mehrheitlichen Mittelstandes, der fähig ist, die sozialen Spannungen zwischen Armen und Reichen auszugleichen. In einer intakten Politie – einer wahren Demokratie – dürfen weder Reiche noch Arme die Übermacht in der Polis an sich reißen.

Wahre Demokratie beruht auf der Zähmung des Kapitalismus. Weder überreiche Oligarchen, noch ausgebeutete Proletenmassen dürfen eine Volksherrschaft tyrannisch bestimmen. Beides sind Verfallsformen eines demokratischen Staates, der nur existenzfähig ist, wenn es weder gleißenden Reichtum, noch schreiende Armut gibt.

Geld, sei es in Mangel oder Übermaß, darf keine Rolle spielen, wenn Gleichberechtigte in der Volksversammlung über das Schicksal des Stadtstaates bestimmen. In einer wahren Demokratie darf nicht die Wirtschaft herrschen. Der Ärmste darf kein ungesichertes Leben in Not und Angst führen, der Reichste aus seinem Reichtum keine Privilegien ableiten. Hayek und Aristoteles sind unvereinbar.

Nach Aristoteles wären moderne Demokratien keine Politien, sondern

plutokratische Oligarchien (Oligarchie = Herrschaft der Wenigen, Plutokratie = Herrschaft der Geldsäcke).

Von Monat zu Monat vertieft sich die gegenwärtige Kluft zwischen Superreichen und dem Rest der Gesellschaft, der sich aus abgestürztem Mittelstand und wachsenden Massen der Armen zusammensetzt. Absolute und relative Armut sind in gleicher Weise eine Bedrohung der Polis, beide stehen unter dem Joch der übermäßig Habenden.

Demokratien, die sich als unfähig erweisen, den Mammon zu zähmen, sind zum Untergang bestimmt. Dies wird das Schicksal der neoliberalen Demokratien werden, die den Despotismus der Habenden nicht an die Kette legen.

In einer Politie bestimmt nicht der Staat die Wirtschaft, sondern das mündige Volk, das keinen eigenständigen „Staat“ in der Polis duldet. Alles, was dem Willen des Volkes widerspricht, ist demokratiefeindlich.

Repräsentative Demokratien dürfen dieses Grundprinzip nicht verfälschen. Wenn Abgeordnete sich auf ihr privat erleuchtetes Gewissen berufen, um den Willen ihrer Wähler zu missachten, sollten sie freiwillig zurücktreten, bevor sie bei der nächsten Wahl abtreten müssen. Ihr Gewissen – als „Stimme Gottes“ – darf sich nicht über den Willen der Wähler erheben.

In einer christlichen Demokratie (einem Widerspruch im Beiwort) ist das religiöse Gewissen das psychische Einfallstor papistischer oder calvinistischer Theokratien. (In der lutherischen Theokratie erhält – aus Protest gegen den Papismus und in Gehorsam gegen Römer 13 – die weltliche Obrigkeit die Würde einer Himmelsmacht. Im amerikanischen Neucalvinismus steht jeder Gläubige über dem weltlichen Staat, weshalb Washington bei Fundamentalisten als Ungeheuer aus der Tiefe gilt, das man nur durch weiße christliche Mehrheiten zähmen kann.)

In manchen Punkten war Aristoteles ein reaktionärer Hinterwäldler. Etwa in der Sklavenfrage, die der Menschenrechtsbewegung der sokratischen Schulen ins Gesicht schlug. Dass er Nichtgriechen als geborene Sklaven – beseelte Werkzeuge – bezeichnete, macht ihn für moderne Griechenhasser zum idealen Beschimpfungs-Objekt, um Altathen die Erfindung der Demokratie und der Menschenrechte abzusprechen, die man dreist zu Früchten jüdisch-christlicher Theologie umetikettiert.

Gegenwärtige Demokratie verleugnet ihren hellenischen Mutterboden und will die Frucht christlicher Religion sein – auf dass Gott alles in allem sei. Alles Gute muss heiligem Boden entstammen, alles Böse der heidnischen Welt.

Augustin hatte den Griechen noch scheinbare Tugenden als goldene Laster zugestanden, doch die Moderne hat Augustins Hass gegen Sokrates übertroffen: aus Griechenland nur Gewalt, glaubensfeindliche Philosophie, egalisierende Toleranz, neiderfüllte Gerechtigkeit und totalitäre Vernunft.

Zur Gleichbehandlung der Homo-Ehe schreibt die FAZ:

„Der Akt der „Befreiung“ liegt dann darin, das allzu menschlich Ungleiche im Namen von Gerechtigkeit und Toleranz einfach für gleich zu erklären.“ (FAZ.NET)

Die ZEIT dämonisiert alles Homerische und Hellenische zum „trostlosen Kampf der Interessen“, zur „blutigen Welt von Gewalt, Rache, von Opfer und Selbstopfer“, aus der uns nur der friedfertige Einspruch des Heiligen Geistes heraushelfen könne. (ZEIT.de)

Merkels Diskriminierung der modernen Griechen ist nur die Fassade einer grundsätzlichen Auslöschung des griechischen Erbes aus dem kollektiven Gedächtnis der Abendländer. (Was finanzstarken Engländern erlaubt ist, um auf Kosten Europas Sonderrechte herauszuschlagen, ist linken, bettelarmen Neugriechen noch lange nicht erlaubt. Wenn Varoufakis die Gespräche mit seinen europäischen Kollegen elektronisch aufnimmt, ist das eine Unverschämtheit. Nur von der NSA darf die Welt überwacht werden.)

Auch hier beugen sich die Deutschen – die einst auf ihre graecomanische Klassik stolz waren – der amerikanischen Dominanz, die von Anbeginn ihrer Demokratie ihr hellenisches Erbe zugunsten des biblischen Gottes zu löschen begann. Demokratie und Freiheit sind für Dabbelju Bush und die meisten seiner wiedergeborenen Landsleute unverdiente Gnadengaben des Himmels.

Nicht Pegida oder ähnliche bildungsfreie Bewegungen zerstören die Fundamente der heutigen Demokratie, sondern die noch immer vorherrschende Allergie deutscher Professoren gegen alles, was nach Mehrheit und Pöbelherrschaft riecht.

Die Feindschaft der deutschen Intellektuellen gegen alle Herrschaft der rohen Mehrheiten war bereits der Tod der Weimarer Demokratie gewesen. „Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen“, Schillers Parole gegen die französische Revolution – obgleich die Pariser Nationalversammlung den schwäbischen Freiheitsdichter 1792 zum Ehrenbürger ernannt hatte – war zum Motto aller elitären deutschen Bildungsbürger geworden. Heute versteckt sich die Aversion gegen die Mehrheit der Rohen und Überflüssigen hinter der Attitüde, die Demokratie dem heidnischen Boden zu entreißen, um sie der heilsamen Tradition der Offenbarung einzupflanzen.

Der führende deutsche Historiker Heinrich August Winkler, in Königsberg geboren, hat die Forderung seines großen Landsmannes, mit dem eigenen Kopf zu denken, in die fromme Losung verwandelt, mit dem Kopf des Heiligen Geistes zu denken. Das tut er nicht nur in seinen Büchern, sondern omnipräsent auf allen Kanälen des öffentlich-rechtlichen Bildungsfernsehens. Zur Belohnung für seine Heldentat, das ganze Abendland dem Himmel zugeführt zu haben, durfte er vor dem Bundestag die staatstragende Rede zum Gedenken an den 8. Mai 1945 halten.

Über sein monumentales Werk „Geschichte des Westens“ schrieb die FAZ:

„Mit dem lapidaren Satz „Am Anfang war ein Glaube: der Glaube an einen Gott“ hebt das vorliegende Riesenwerk an. Der Monotheismus war der Stammvater „des Westens“, behauptet Heinrich August Winkler. Dieser jüdische Monotheismus war es, so Winkler, der den Prozess der „Rationalisierung, Zivilisierung und Intellektualisierung“ einleitete und den Westen schuf.“ (Tim Blanning in FAZ.NET)

Orwell benötigte noch ein Wahrheitsministerium, um die Geschichte des Landes umzuschreiben und zu verfälschen. Auf solch mühsamen Schnickschnack kann Nachkriegsdeutschland verzichten. Es benötigt nichts als unterwürfige deutsche Gelehrte, die nicht mehr wissen, was ein sacrificium intellectus (ein Opfer des Verstandes im Dienste des Glaubens) ist.

Von historischen Lügen der außerordentlichen Art kann man hier nicht mehr sprechen. Zur Lüge gehören Intelligenz und bewusster Vorsatz. Hier muss man von Verblendungen der gigantesquen Art – oder von dogmatischen Glaubenssätzen sprechen. Wer glaubt, obgleich es absurd ist, befindet sich stets auf der rechten Seite göttlicher Omnipotenz.

Wer sich die Mühe macht, den Verblendungszusammenhang der deutschen Kathederheiligen zu ergründen, stößt schnell auf die riesigen Schuldgefühle der Deutschen gegenüber den Juden, die sie in ihren Vernichtungslagern auslöschen wollten. Es muss wohl der Versuch sein, die unermessliche Schuld ein wenig abzutragen, wenn die Täter ins Revier der biblischen Orthodoxie eindringen, um das Beste ihres Lebens als Frucht vom guten Baum des Glaubens darzustellen.

Winkler ignoriert alles Griechische und kommt – ohne lästige Umwege über Hellas – von Mose direkt zu Jesus und der Entwicklung des Abendlandes. Die Erfolgsgeschichte Europas muss am Baum des Glaubens gewachsen sein. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Der gute Baum bringt gute Früchte, der faule Baum aber bringt schlechte Früchte.“ Hinfort geloben die Deutschen, nur noch gute Früchte zu bringen, indem sie sich dem unfehlbaren Baum des jüdisch-christlichen Glaubens einpfropfen.

Tim Blanning, Historiker aus Cambridge, notiert mit Verwunderung:

„Dieses Szenario wirft eine naheliegende Frage auf: Was ist mit den Griechen passiert? Die verblüffende Antwort lautet: Sie sind ausgeklammert worden. Winkler führt uns ohne Umschweife von Moses zu Jesus, wobei als einziges Bindeglied seine Beobachtung dienen muss, Jesus habe „in einer Tradition des hellenistischen Judentums“ gestanden. Aristoteles und Platon treten nur in Erscheinung, insofern sie Beiträge zur Entwicklung des Christentums und zur Renaissance in Italien geleistet haben. Der griechische Unabhängigkeitskampf in den 1820er Jahren nimmt in Winklers Darstellung breiteren Raum ein als das gesamte klassische Griechenland. Das Buch enthält mehr Verweise auf Frankfurt am Main als auf jede Phase der griechischen Geschichte.

Den polytheistischen Römern geht es nur unwesentlich besser, dauerte es doch bis 312 nach Christus, bis endlich ein Kaiser – Konstantin – die Vorzüge des Monotheismus begriff. Dass Winkler die klassischen Wurzeln ignoriert, ist einigermaßen kühn und schreit nach einer wesentlich ausführlicheren Begründung, als hier gegeben wird, nämlich gar keine.“

Es muss ein ausländischer Gelehrter sein, dem diese nicht mehr zu überbietende Fehlleistung Winklers auffällt. Deutsche Feuilletons rühmen nur den „großen Wurf“ des gewichtigen Werkes. Hierzulande ästimiert man seine kühnen und kalten Denker, wenn sie dazu beitragen, Ehre und Ruhm des schuldbeladenen Landes wieder herzustellen.  

Doch merkwürdig, eine jüdisch-christliche Religion gibt es gar nicht. Woher käme wohl der ursprüngliche Antisemitismus, wenn nicht vom Boden jenes Neuen Testaments, das das jüdische Gesetz für verworfen erklärte und den neuen Weg der unverdienten Gnade des Erlösers pries? Matthäus 23 ist eine einzige Verfluchung der Juden, die in Jesus nicht den verheißenen politischen Messias erkennen wollten: „Ihr Schlangen, ihr Nattern! Wie wollt ihr dem Gericht der Hölle entrinnen?“

Wären Judentum und Christentum ein Herz und eine Seele, woher käme die ungeheure Feindschaft? Wären Christen und Juden nicht längst zu einer Konfession verschmolzen? Winkler glaubt, einen Teil der deutschen Schuld abzutragen, wenn er Altes und Neues Testament vereinigt und zum heilen Mittelpunkt der Weltgeschichte erklärt. Im genauen Widerspruch zu Paulus, der seinen ehemaligen Glaubensgenossen nur dann eine Chance zur Rettung verhieß, wenn sie ihren verstockten Unglauben gegen Jesus aufgeben würden. Dann erst könnten sie dem edlen Ölbaum, aus dem sie herausgerissen wurden, wieder eingepfropft werden.

Obgleich der moderne Staat Israel als atheistisches zionistisches Projekt begann, macht Winkler jeden Juden zum gläubigen Juden und jeden anständigen Deutschen zum gläubigen Deutschen. Atheisten, die die biblische Religion kritisieren, müssen dann – in Umkehrung der wahren Verhältnisse – die Erfinder des Antisemitismus gewesen sein.

Hier stehen wir am tiefsten Punkt deutscher Unfähigkeit, den israelischen Freundesstaat kritisch zu sehen. Die Konsequenz aus dem Holocaust kann keine blinde Unterwerfung sein. Nur mit solidarischer Kritik auf gleicher Augenhöhe können wir uns gegenseitig behilflich sein. Alles andere wären sado-masochistische Quälereien, die allen schaden und niemandem nützen. Das deutsch-jüdische Verhältnis muss normal werden – nicht wieder normal werden, denn normal war es nie. Es muss die kritische Norm einer gegenseitigen, friedlichen und wohlwollenden Fürsorge lernen.

Seine Negierung der athenischen Demokratie rechtfertigte Winkler in einem Bayern-Alpha-Interview mit dem bekannten Satz des altgriechischen Historikers Thukydides: Die athenische Demokratie sei weniger eine Volksherrschaft, denn die „Herrschaft des ersten Mannes“. Thukydides, kein Freund der Demokratie, hatte nicht die Absicht, die Athener zu rühmen. Gleicherweise könnte Winkler behaupten, die BRD könne keine Demokratie sein, weil sie die unumschränkte Herrschaft der Angela Merkel sei.

Auch die moderne Gewaltenteilung stamme aus dem Dualismus weltlicher und geistlicher Macht. Im Namen seines himmlischen Vaters habe Jesus der römischen Weltmacht die Grenzen gezogen: gebet Gott, was Gottes, dem Kaiser, was des Kaisers ist. Eine merkwürdige Gewaltenteilung, wenn die weltliche Macht der Allmacht eines jenseitigen Gottes unterworfen wird. Die irdische Macht ist nur noch von kurzer Dauer, dann wird vor aller Augen die Omnipotenz des Himmels erscheinen.

Winklers idealer Staat müsste die vatikanische Theokratie sein, die keinem Laien die geringste Mitsprache einräumt. Der Papst mag den fröhlichsten fehlbaren Narren Gottes spielen. Doch wenn er ex cathedra spricht, ist er die offizielle und unfehlbare Stimme Gottes.

Hatte bei Amtsantritt der joviale Franziskus noch getan, als seien die Schwulen kein Problem für ihn, kommt nun die inquisitorische Verdammung der Homo-Ehe:

«Ich glaube, man kann nicht nur von einer Niederlage der christlichen Prinzipien, sondern von einer Niederlage für die Menschheit sprechen», sagte Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin in Rom.“ (SPIEGEL.de)

Wie können überzeugte Demokraten gehorsame Katholiken sein, wenn der Papismus ein unfehlbares totalitäres Regime ist? Ein Aufschrei der katholischen Demokraten in ganz Europa war nirgendwo zu hören. „Ich bin sehr traurig über dieses Ergebnis“, sagte Kardinal Parolin. Dann wäre es doch die verdammte Pflicht und Schuldigkeit für Milliarden Katholiken, durch undemokratisches Tun dafür zu sorgen, dass Eminenz nicht noch mal traurig werde.

Böckenförde, Habermas, Winkler e tutti quanti: sie können sich eine intakte Demokratie aus dem Geist weltlicher Vernunft nicht vorstellen. Ohne Gott ist all unser Tun umsonst, auch in dem besten Leben. Die führenden Gelehrten Deutschlands lehnen Demokratie aus der autonomen Kraft der Vernunft rigoros ab. Das heidnische Griechenland ist tot, es lebe der Absolutismus des himmlischen Vaters.

Es sind die gebildeten Kenner der athenischen Geschichte, die uns heute die Verachtung der Demokratie lehren:

„Keine Frage, man kann von der Betrachtung des alten Athen für heutige Demokratien nichts lernen – ausser dass die Übertragung des Begriffs «Demokratie» in die Moderne höchst problematisch und irreführend ist. Selbst in Schweizer Kantonen ist eine Herrschaft des Volkes, nimmt man das Wort konkret, allenfalls bruchstückhaft möglich. Sollte man, ohne das Wort zu kennen, das Funktionieren eines politischen Gemeinwesens im modernen Europa beschreiben, würde man wohl gar nicht erst darauf kommen, es zu bilden. Und führt sein Gebrauch nicht immer wieder dazu, Erwartungen zu wecken, die nicht zu erfüllen sind, also Enttäuschung, vielleicht gar Bitterkeit oder Hohn hervorzurufen?“ Schreibt Althistoriker Christian Meier in der NZZ.

Weil moderne Demokratien nicht perfekt, heutige Gesellschaften viel zu groß seien, könnten wir von Athen nichts mehr lernen? Selbst schwyzerische Volksbefragungen seien nicht das Gelbe vom Ei? Bei so viel professoraler Blickverengung kann man nur noch heulen. Bestehen Demokratien nur aus äußerlichen Spielregeln? Leben vitale Demokratien nicht von demokratischen Tugenden jedes Citoyens? Von wem sollten wir noch lernen können, wenn nicht von den Erfindern der Demokratie?

Was aber sind demokratische Tugenden?

In Jochen Bleickens Standardwerk „Die athenische Demokratie“ lesen wir: „So war der Bürger für die Lösung der sich ihm täglich stellenden Aufgaben und Probleme weit mehr als heute auf sich gestellt, auf seine Kraft zu persönlicher Initiative, seine Klugheit bei der Durchsetzung von Ansprüchen und seine Findigkeit in der Schaffung und Ausnutzung persönlicher Verbindungen. Der Demokrat ist der gute, nützliche und anständige Mann. Im Prinzip tat der „Staat“ nichts, was der Bürger nicht selbst tun konnte; denn der „Staat“ waren die Bürger, nicht wie heute eine mit besonderer juristischer Persönlichkeit und Verfügungsgewalt ausgerüstete Körperschaft. Die Beamten, die bei Gelegenheit den Bürger unterstützten, waren auch nur Bürger, deren Funktion einzig darin bestand, den Gesetzen Beistand zu leisten. Sie waren keine Diener einer abstrakten Macht, die über allen wohnte.“

Die ständige Rede vom Staat zeigt, dass Politiker der Gegenwart die Struktur der Demokratie nicht verstanden haben. Kein Väterchen Staat verteilt Geschenke. Kein Staat ist zu weich, zu hart, zu verschwenderisch, zu geizig: in einer funktionierenden Demokratie gibt es keinen Staat.

Über seine althistorischen Kollegen schreibt Bleicken: „Die Wissenschaft verlangt den gedämpften Ton, meint man, und so ist das Urteil meist von unvergleichlicher Abgeklärtheit. Man könnte die Demokratie ungeniert loben, aber davor scheut man sich in Deutschland. Man tut sich schwer, die Geschichte der Demokratie in Athen für den Geschichtsunterricht oder die politische Bildung aufzubereiten. Ich kenne kein Gesamturteil über die athenische Demokratie von einem deutschen Historiker der Nachkriegszeit, das den Namen verdiente. In England sieht es anders aus.“

Vielleicht versteht man jetzt, warum unsere Demokratie in den Grundfesten erschüttert ist. Demokratie wird als eine seltsame Maschine verstanden, deren Knöpfe man mechanisch drücken kann. Hinter akademischer Objektivität versteckt sich eine wachsende Abneigung gegen die Demokratie, mit der man die „komplexen“ Herausforderungen der „beschleunigten“ Zeit nicht mehr bewältigen könne. Und wenn schon geschwärmt wird bei den Dozenten, dann für den Nazi-Juristen Carl Schmitt.

Nirgendwo in der Gesellschaft können Heranwachsende demokratisches Verhalten üben. Schulen und Universitäten sind zu propädeutischen Aufsteiger-Kasernen geworden. Nirgendwo wird man gerüstet für freimütige Kritik an Autoritäten und für unbestechliches Selberdenken.

Listiges Ausspähen und brachiales Durchsetzen eigennütziger Ziele werden belohnt, unbeugsame Autonomie und prüfende Distanz bestraft. Dass eine problemlösende Demokratie von kühl denkenden und leidenschaftlich agierenden Demokraten lebt, hat sich in Deutschland noch nicht herumgesprochen.

Das Versagen von Weimar ist noch nicht bewältigt. Feindseliger Widerstand der Eliten gegen pöbelhafte Mehrheitsentscheidungen hat sich verpuppt in wachsende Sehnsucht nach theokratischer Selbstentmündigung. Eine promovierte und habilitierte Pegida ist zum himmlischen Vater zurückgekehrt.