Nihilismus und Messianismus
Nein, das sei ferne von euch, das Nichts, den Untergang zu lieben. Merkwürdig, wie Begriffe verschwinden. Momentan lese ich in Büchern der 50er und 60er Jahre. Da wimmelt es von Themen, Schlagwörtern und Problemen, die heute nicht mehr anzutreffen sind. Nihilismus, Kybernetik, repressive Toleranz, Anomie, der eindimensionale oder außengeleitete Mensch.
Blättert man beim damaligen Heros der Studenten, C.F. von Weizsäcker, gibt es keinen Aspekt des Seins und Daseins, den er nicht mit lässiger Hand und mit Hilfe des Hanser-Verlags unters Publikum bringt. Von der Quantenphysik über Tiefenpsychologie, Weltinnenpolitik, Kants Antinomien, Goethes Liebesgedichte, Begegnung mit schweigenden indischen Gurus, Auslegung des Kolosserbriefs, Geschichte der Natur, Schöpfungsgeschichte und Naturwissenschaft, Gesundheit, Ein Blick auf Hitler, Thomas Mann: da war ein Bildungshunger …
… in der Nachkriegszeit, der Jahrzehnte der Selbstisolierung kompensieren musste.
Man wusste nix von Marx, Freud, Gesellschaftssoziologie, empirischer Forschung, Demokratie und Menschenrechten. Jüdische Gelehrte kehrten aus dem Ausland zurück. Die Frankfurter Schule wurde zum Oberseminar der aufmüpfigen Studenten. Herbert Marcuse flog regelmäßig nach Berlin und wurde zum Star der Bewegung, nachdem Adorno nach kurzer Sympathie sich von den „präfaschistischen“ Revolutionären abgewandt und in den Elfenbeinturm zurückgezogen hatte. Horkheimer hatte von Anfang an nichts von Umsturzbewegungen gehalten, war in den Tessin gezogen und näherte sich der misanthropen Weltsicht des damaligen Papstes.
Auch Löwith war nach langer erzwungener Odyssee: mit der Bahn quer durch Sibirien, von Wladiwostok mit dem Schiff nach Japan, von dort – Japan verbrüderte sich mit Nazideutschland – weiter vertrieben in die USA, von Gadamer nach Heidelberg zurückgeholt worden, wo ich glaube, ihn einmal gesehen zu haben. Neben Nestle gehört er zu meinen wichtigsten Inspiratoren der Abwendung von der Inri-Religion. Querverweise zwischen beiden scheint es keine zu geben.
Löwith entstammt einem völlig säkularen jüdischen Elternhaus, war Freiwilliger im 1.Weltkrieg, begann Biologie zu studieren, wechselte dann zu dem aufstrebenden Heidegger nach Freiburg, dessen erster Habilitand er wurde. Damals ging es noch ziemlich familiär an der alma mater zu, der junge Doktor hütete die Kinder Heideggers, gleichwohl entwickelte er sich zum unbeugsam schärfsten Kritiker des Zeitanbeters. Dessen Parteinahme für Hitler analysierte er als Konsequenz seiner Philosophie, nicht als ach so menschliche Schwäche. Lange vor der Ökobewegung war er Ökophilosoph auf solidestem Niveau: alles, was nach Geschichte riecht, ist Sprössling der Heilsgeschichte, die den griechischen Vorrang des zeitlos Wahren der Natur unterminiert.
Die Crux der heutigen Ökoaktivisten ist ihr haltloser gedanklicher Untergrund. Sie wollen Nachhaltigkeit, doch das ist nur der verschämte Ausdruck für ewige Dauer, die sie aus postmoderner Allergie gegen das Unveränderliche und Ewige mehr diskriminieren müssen als der Teufel das Weihwasser. Solange wir keine hieb- und stichfeste Naturphilosophie entwickeln, so lange werden die ADHS-Ökos auf Sand bauen.
Man kann kein unendlich-lineares Wachstum, keinen Fortschritt, keine Geschichte propagieren, ohne die zirkuläre, nie fortschreitende und geschichtslose Natur zu demontieren. Die Griechen schrieben keine Geschichte, weder Herodot, noch der „Vater der abendländischen Geschichtsschreibung“ Thukydides. Sie hatten weder einen Anfang noch ein Ziel als Raster ihrer schlichten Erzählungen im Auge. Keine Frage: woher kommen wir, wohin gehen wir, wo stehen wir? Menschen sind Naturwesen, was sie treiben, unterliegt den Naturgesetzen und wiederholt sich. Niemals wird sich etwas grundsätzlich ändern.
Die Heilsgeschichte wird von einem bewussten oder säkular kostümierten Messianismus angetrieben, dem Motor des Marxismus wie des amerikanischen Technik- und Geldfortschritts. Doch was ist die Kehrseite dieses Fortgangs ins Paradies, über die heute nicht mehr gesprochen wird? Der Nihilismus, der Untergangsglaube. Wenn Gott tot ist, bleibt nur das Nichts. Wenn der Glaube an den wiederkehrenden Christ abhandenkommt, verfallen sie dem Glauben an den Antichrist, dem geistigen Urheber des Nihilismus. Der Höhepunkt des deutschen Pessimismus war der Untergang des Abendlandes von Spengler. Doch die Chose begann schon früher. Selbst Olympier Goethe, der Gesunde an Leib und Seele, hatte bereits im Alter verdüsterte Visionen:
„Das Hässliche, das Abscheuliche, das Grausame, das Nichtswürdige mit der ganzen Sippschaft des Verworfenen ins Unmögliche zu überbieten, ist ihr satanisches Geschäft. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff, den er bearbeitet. Von reiner Einfalt kann die Rede nicht sein, einfältiges Zeug gibt es genug. Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt [da kommt wohl die „sterile Aufgeregtheit“ her, die meistbenutzte Scheltrede gegen die 68er] und dann im Zeitstrudel fortgerissen. Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt. Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten [= Erleichterungen, heute Internet] der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbilden, und dadurch in der Mittelmäßigkeit verharren. Und das ist ja auch das Resultat der Allgemeinheit, dass eine mittlere Kultur gemein werde. Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende, praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind … Wir werden, mit vielleicht noch Wenigen, die Letzten sein einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt.“ Das ist schon die Kritik der gesamten Moderne und unserer Gegenwart in illustrem Deutsch vorweggenommen.
Schopenhauer will den Lebens-, Zeugungs- und Lusttrieb an der Wurzel vernichten, denn das ewige Fortzeugen verewigt nur das unausrottbare Elend. Nietzsche sieht mit dem Tode Gottes das Nichts wie eine Sintflut über das degenerierte Europa heranrollen. Doch tapfer wie er ist, will er diesen Nihilismus aus Schwäche mit einem bewusst gewollten Nihilismus der Stärke überwinden. Deshalb sein Appell, den Willen zur Macht auszubilden, alles Lebensunwerte zu tilgen und – zurückzukehren zur griechischen Wiederholung des Gleichen.
Wie Wille zur Macht und Wille zur ewig gleichen Natur zusammenpassen, das blieb ihm verborgen. Was fällt, soll man noch stürzen und eine gnadenlose Katharsis exekutieren: um in „aller Unschuld“ von vorne zu beginnen. Das war auch das Programm der Nazis, die ihre Düsternis, ihre Untergangsängste, ihren notorischen Pessimismus verdrängten und ins Gegenteil verkehrten, um mit Gewaltakten ohnegleichen die Welt vor ihren Verderbern zu retten und einen generellen Neuanfang zu starten: Nihilismus aus martialischer Stärke.
Es bedurfte zweier Weltkriege, um dieses alteuropäische Gemisch aus messianischen Träumen und nihilistischen Ängsten zur Explosion zu bringen. Der siegende Amerikanismus hat diesen noch immer schwelenden Untergrund durch biblische Fortschrittsgloriole übertüncht. Der importierte Optimismus verdrängt die Kehrseiten des american way of life. Bei ihnen ist der Buchstabenglaube noch so intakt, dass sie den Weltuntergang den Ungläubigen reservieren, das Happy End sich selbst, den Wiedergeborenen, vorbehalten. Wo soll da Untergangsstimmung aufkommen?
Die Ökobewegung hat inzwischen mehrere Epochen durchlaufen. Der Anfang war geprägt von Apokalypse. Als die Schreckensprognosen nicht haarfein eintrafen, wurde Apokalypse abgeblasen und verhöhnt: jaaja, die Deutschen, die geborenen Unheilspropheten, Bedenkenträger und Zukunftsverweigerer. Danach Atempause, bis die Katastrophen mitten im Wohnzimmer standen. Ozonloch, Klimakatastrophe, Tschernobyl.
Heute herrscht gedankliche Anarchie, keiner traut sich aus der Deckung. Die polemischen Waffen für und gegen alles sind in den Waffenkammern der Feuilletonisten noch vollständig gelagert. Jeder Warner hat Schiss, als Untergangsguru oder Heilsbeschwichtiger abgestempelt zu werden, steht dennoch unter Druck, die Brisanz der unbestreitbaren Daten der Öffentlichkeit unter die Weste zu jubeln.
So gehen wir weder vorwärts noch rückwärts. Der Messianismus wird immer gefährlicher, doch sein Alter Ego, den apokalyptischen Nihilismus, will niemand mehr reaktivieren. So sind wir eingeklemmt zwischen Baum und Borke einer allmächtigen Alles-oder-Nichts-Religion.