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nichtsdesto-TROTZ XXXVII

Tagesmail vom 30.06.2021

nichtsdesto-TROTZ XXXVII,

kann das Kind auf einem Bein hüpfen? Beherrscht es bestimmte Fingerspiele?

Mündliches Urteil der Obrigkeit, repräsentiert durch die objektive Testbehörde des Gesundheitsamts: das Kind ist psychosozial nicht auf der Höhe der staatlichen Anforderungen, wir empfehlen, es ein Jahr zurückzustellen.

Nachträglich-ausführliche und schriftliche Begründung? Fehlanzeige. Ein Gespräch mit den Eltern, um sich mit deren Meinungen auseinanderzusetzen? Fehlanzeige. Eltern sind subjektiv-voreingenommene, distanzlos-verzärtelnde, narzisstische Helikopterwesen, auf deren Erfahrungen man an höherer Stelle verzichten kann.

Früher waren es Priester, die das unfehlbare Urteil des Himmels verkündeten. Heute sind es Wissenschaftler, die ihre unbezweifelbaren Erkenntnisse den irrenden Menschen übermitteln. Wer gegen die Vertreter des Himmels aufbegehrte, war ein Ketzer und musste bestraft werden. Wer heute gegen die Unfehlbarkeit des Staates aufbegehrt, ist ein Querulant – der von den Medien mit Häme überzogen wird.

Am Beginn der schulischen Karriere des Kindes steht ein Gottesurteil der Behörde – im Namen einer Wissenschaft, deren Objektivität durch Tests begründet wird, deren szientifische Qualität auf schwankenden Einschätzungen der Tester beruht, die nicht mal die Stufe solider Quantitäten erreichen, sondern angemaßte Überheblichkeiten staatlicher Funktionäre sind – die keinerlei Auskunft geben können über die Validität der Tests, ja, über das Problematische aller Tests überhaupt.

Der Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften:

a) Naturwissenschaftliche Erkenntnisse beruhen auf der absolut-verlässlich-gleichbleibenden Struktur der Naturgesetze. (Heisenbergs Unschärferelationen können an dieser Stelle vernachlässigt werden.)

b) Geisteswissenschaften wollen die Gesetze des Menschen durch Imitation der Naturwissenschaften erkennen, was unmöglich ist, weil die Natur des Menschen nicht die gleichbleibende Struktur der Naturgesetze aufweist.

Auch der Mensch ist Natur. Die Natur aber hat ihm die Fähigkeit des Geistes gegeben, sich selbst zu überlegen, wie er mit den Gesetzen der Natur umgehen will. Er ist nicht gezwungen, das Ist der Natur zu reproduzieren. Ihm obliegen Freiheit und Pflicht, sein Leben in der Natur mit einem vernünftigen Sollen zu gestalten. Nicht, um das Sollen in einen Krieg mit der Natur zu führen, sondern alle Ziele seiner Freiheit in Einklang mit ihr zu bringen.

Bis zum heutigen Tag hat er Freiheit als pubertierende Arroganz missverstanden, die der Natur in gottähnlicher Pose zeigt, wo Bartels den Most holt. Weshalb er sich Götter erschuf, die sich anmaßten, Schöpfer der Natur aus Nichts und ins Nichts zu sein. Aus der überlegenen Natur wurde eine Magd, die eine gewisse Zeit lang den Freiheitsspielchen der Menschen zur Verfügung steht, am Ende aber wieder vernichtet wird – um völlig neu wiedergeboren zu werden.

Der Geist der frühen Moderne, fasziniert von der Verlässlichkeit der neuen Naturwissenschaften, wollte ebenfalls die Solidität der quantitativen Methode erreichen. Ergo suchten sie nach Quantitäten des menschlichen Verhaltens, um von ihnen Rückschlüsse zu ziehen auf die Qualität seines Geistes. Seitdem sind sie auf der Suche nach Symptomen, mit denen sie per Analogie den Charakter des Menschen entschlüsseln wollen.

Wo liegt der Denkfehler? Dass die Geisteswissenschaftler den Unterschied zwischen primärer Natur und der „Natur“ des Geistes nicht verstanden haben. Nicht mal die Körper der Menschen, obgleich der primären Natur am nächsten stehend, funktionieren in absolut gleicher Weise – denn der Leib wird beeinflusst vom Geist, der in ebenso vielen Variationen auftritt, wie es Individuen gibt. Wäre es anders, gäbe es weder Placebo- noch Nocebowirkungen. Was für den Ängstlichen eine schwere Krankheit sein kann, ist für den Ausgeglichenen nur eine Unpässlichkeit.

Der Geist bleibt ein unsicherer Kantonist, solange er sich nicht durch eigenes Denken zum verlässlich-moralischen Charakter entwickelt. Nicht nur für Sokrates gilt: jeder autonome Mensch sagt und tut immer dasselbe.

Weshalb moderne Sensationisten nichts Langweiligeres kennen als verlässliche Moral. Selbst Politiker wollen ständig ein Neues und wundern sich, dass ihre Wähler sie für unzuverlässig halten.

Verlässlichkeit schließt Lernen und Erwerb neuer Erkenntnisse nicht aus. Doch das Neue ist Frucht des Erkennens, nicht umgekehrt: indem ich das Neue um des Neuen willen suche, würde ich automatisch zu neuen Erkenntnissen gelangen. In letzterem Fall wäre das Neue nichts als die Wiederholung eines Alten, das man verdrängt hat.

Der Test wurde geboren, als sich Geisteswissenschaftler entschlossen, per Quantitäten auf den Charakter des Menschen zu schließen. IQ-Tests wurden entwickelt, indem die Forscher das, was sie selbst für typische Intelligenz hielten, quantitativ erfassten, um Geist und Charakter der Testperson zu ermitteln.

Hier beginnt der Selbstbetrug der Geisteswissenschaften. Was Forscher als repräsentativ-objektives Wissen betrachteten, beruhte auf zufällig-persönlichen Einschätzungen, einem „Wissen“ von Menschen, die zumeist aus bürgerlichen Kreisen mit einer wissenschaftlichen Ausbildung stammten. Sie haben ein anderes Allgemeinwissen, können problemloser mit Zahlen umgehen, besitzen ein fundierteres räumliches Vorstellungsvermögen, sind belesener und weltkundiger als Sprösslinge der Unterklassen. Wer Hornisten von Posaunisten unterscheiden kann, muss zu Hause ein Grammophon und musikliebende Eltern gehabt haben. IQ-Tests wurden zu Intelligenz-Barrieren bürgerlicher Eliten, die jeder überspringen muss, der den Aufstieg schaffen will.

Die Notengebung in den Schulen gibt sich unfehlbar, ist aber nichts anderes als subjektiv-schwankende Einschätzung, die sich Objektivität anmaßt. Die Kinder in den Schulen unterstehen einer Zensurbehörde, die so unfehlbar auftritt wie das Urteil des Himmels gegenüber den Gläubigen.

Wir müssen von den Anmaßungen aller Wissenschaften sprechen. Selbst die Naturwissenschaften sind nur verlässlich, solange sie Gesetze der Natur in beliebig wiederholbaren und allseits überprüfbaren Experimenten reproduzieren.

Haben sie Erkenntnisse gefunden und überlegen sich, was mit diesen geschehen soll: neue Maschinen erfinden oder gar gefährliche Waffen entwickeln? haben sie das sichere Terrain der reinen Wissenschaft verlassen. Ihre technischen und politischen Wunschvorstellungen sind kein Deut wissenschaftlicher als die Ideen von Nichtwissenschaftlern.

Virologen sind nicht kompetenter im Transformieren ihrer Laborerkenntnisse in politische Schutzmaßnahmen als besorgte Eltern oder Pflegekräfte in Altersheimen. Es war ein Riesenfehler naturwissenschaftsgläubiger Kanzler und Minister, keine Sozialfachleute, Pädagogen und Therapeuten in ihre Beratungsteams aufgenommen zu haben.

Nehmen wir an, es gäbe tatsächlich Studien, die den Zusammenhang zwischen Fingerübungen und psychosozialem Verhalten erforscht hätten, so könnte man dennoch nicht von verlässlichen Erkenntnissen sprechen, denn jede Population der Probanden ist zumeist so klein, dass sie nicht repräsentativ sein kann.

Wie ungenau sind etwa die Wahl- Prognosen der großen Institute, die noch am ehesten eine große Anzahl von Menschen befragen können. Mediziner und Psychologen verfügen so gut wie nie über die technischen Möglichkeiten, eine ähnlich repräsentative Umfrage durchzuführen. Ärzte zumal haben von Statistik keine Ahnung. Sie rasseln die Gebrauchsanweisung der Tests herunter, ohne zu verstehen, was sie tun. Schon gar nicht sind sie in der Lage, sinnvolle Gespräche mit den Eltern zu führen – um ihre Pseudo-Test-Erkenntnisse durch elterliche Nähe-Erfahrungen zu korrigieren und zu erden. Die Entmündigung der Eltern in wirtschaftliche Versorgungsorgane beginnt in der Kita oder bei der Einschulung.

Dann beginnt die Überwachungs- und Bewertungsorgie des allwissenden Staates, jenem Gott gleich, der alle Menschen bis ins Herz durchschaut. Diese allgegenwärtigen Notenorgien dienen nicht der Selbsteinschätzung der Überwachten, auch nicht der liebevollen Begleitung bei dem Bildungsprozess.

Um Bildung geht es überhaupt nicht, sondern um Dressur im Dienst der Wettbewerbsfähigkeit des Staates. Kinder werden nicht um ihretwillen gefördert, damit sie selbstbestimmt ihren Weg ins Leben finden, sondern im Interesse des Staates, der im Kampf aller gegen alle den Sieg erringen will. In keiner Diktatur werden Kinder sorgsamer überwacht und beurteilt, als in einem sogenannten liberalen System mit technischen und kapitalistischen Ego-Interessen.

In der Coronazeit wurden Alte und Junge am meisten geschädigt – natürlich nur zu ihrem Schutz. Es war deutlich zu spüren, dass die Verantwortlichen keine Kinder haben – oder sie höchsten am Wochenende für wenige Stunden sehen. Nicht, dass sie absichtlich die Kinder vernachlässigt hätten, nein, sie hatten sie einfach nicht auf dem Schirm. Gut erzogene Kinder erkennt man daran, dass sie sich nie unrühmlich bemerkbar machen, sondern unauffällig durch das Räderwerk ins Arbeitsleben schnurren.

Nicht nur, dass sie in der übermäßigen Isolierzeit nichts lernen konnten. Die zweite, noch schlimmere Quittung kommt hinzu: der Schaden soll irreparabel und lebenslänglich sein. Bildungsökonomen, die sich nicht schämen, Kinder auf berechenbare Zukunftsinvestitionen zu reduzieren, glauben zu wissen, welchen Schaden die Geschädigten dem Staat zufügen werden. Das Bildungsdefizit – man höre und staune – sei ein unauslöschliches Siegel.

Nur graduell ist das deutsche Bildungssystem vom chinesischen unterschieden. Generell gilt die Regel: wenn ein leitender Bildungsbeamter morgens um 10 auf die Uhr schaut, weiß er auf die Stechsekunde genau, was seine jugendlichen Drill-Marionetten im ganzen Lande in den verschiedenen Klassen gerade inhalieren müssen.

Da sie keine Individuen sein dürfen mit unterschiedlichen Begabungen, Interessen und Motivationen, haben sie im synchronen Rhythmus wie auswechselbare Rädchen zu funktionieren. Versagen sie eine kurze Zeit, werden sie die versäumten Pflichten nie mehr aufholen, denn der Zug fährt mit der immer gleichen Geschwindigkeit in die Zukunft. Da gibt es kein Luftholen, keine Selbstbesinnung oder Selbstbestimmung über das, was die Einzelnen wollen. Sie haben nichts zu wollen, sie haben zu müssen – im vorgegeben Takt staatlicher Maschinen.

Hier eine ketzerische Reaktion auf ein Coronazeugnis:

„Dieses Zeugnis ist ein Armutszeugnis, ein Anachronismus. Aber selbst damit hätte es Möglichkeiten gegeben, die besonderen Herausforderungen zu würdigen. Auf dem Standardzeugnis ist Raum für „Bemerkungen“. Da wäre Platz gewesen für ein paar anerkennende Worte. Man hätte bei den Noten auf- statt abrunden können. Oder man hätte alternative Zeugnisse ausstellen können, die das Selbstlernen im Homeschooling berücksichtigt und gelobt hätten. Man hätte den Kindern vermitteln können: Ihr habt in einem Jahr mehr gelernt als in einen Lehrplan passt. Und ihr habt das herausragend absolviert.“ (Berliner-Zeitung.de)

Die Jugendlichen werden behandelt, als seien sie selbst schuld an ihren Schulversäumnissen. Warum ist das Gefährt nicht einfach weitergefahren, als man ihm das Tanken verbot? Empathie für Rädchen in einem Skinner‘schen Konditionierungssystem ist überflüssig und ein Götzendienst.

Fast nicht zu glauben, dass es Lehrer gibt, die dem Notenterror die rote Karte zeigen:

„Noten sind in der Schule omnipräsent, sie dominieren die Lernprozesse und machen sie kaputt. Erfolgreiches Lernen hat praktisch nichts mit Bewertung zu tun. Die Noten haben auch bei den Lehrenden eine viel zu hohe Priorität, sie richten den Unterricht auf die Endnoten aus – dabei geht viel verloren. Noten sind aber auch einfach ungenau und verzerrt, sie lassen keine akkurate Leistungsbewertung zu. Seit 60 Jahren ist das wissenschaftlich erwiesen und dennoch halten wir daran fest Noten sind das Symptom einer fremdbestimmten und hierarchischen Lernkultur.“ (Berliner-Zeitung.de)

Dem Staat muss die Allwissenheits-Kompetenz abgesprochen werden. Das ganze IQ-Theater hat ohnehin nie den Zweck, alle Jugendlichen in ihrer selbstbestimmten Ich-Suche zu unterstützen. Es geht immer nur um dieselben Auserwählten: die hochbegabten Garagengenies wie Bill Gates, die die Welt erobern und der eigenen Nation zu Ruhm und Ehre verhelfen. Da soll es tatsächlich bornierte Eltern geben, die der exzellenten Begabung ihrer Sprösslinge nicht gerecht werden. Man sollte ihnen die Kinder wegnehmen und Internaten für Superschlaue übergeben. Gibt es eine hemmungslosere Kinder- und Menschenverachtung als im Bildungskult einer ungebildeten Obrigkeit, die nichts will als in der Welt mit austauschbaren Zuckerbergs und Musks zu brillieren?

„… es gibt an manchen Schulen eine Reihe von tollen Extra-Angeboten für Begabte – solche »Enrichment-Angebote« haben sich in der Forschung insgesamt auch als wirksam erwiesen. Aber insgesamt sind die bestehenden Möglichkeiten und Maßnahmen unzureichend, zu unspezifisch und vor allem zu unsystematisch – im normalen Unterricht, im Ganztag sowie in der Verzahnung von Schule und außerschulischen Angeboten.“ (SPIEGEL.de)

Gleiche Bildungschancen für völlig ungleiche Menschen? Was für eine Idiotie. Kinder dürften nicht nach Schema F gefördert werden. Sie müssten von endlos verschiedenen Förderungsmaßnahmen begleitet werden. Welche eine Ursünde an den heranwachsenden Generationen, dass arrogante Staatsbeamte sich einbilden dürfen, am besten zu wissen, was ihnen frommt.

Wie groß ist die Empörung der Medien über besserwissende Diskutanten, während allwissende Bildungsexperten problemlos von ihnen hingenommen werden?

Das darwinistische Selektionsprinzip in der Gesellschaft wird von Tag zu Tag rigider. Haben wir zu viele Reiche? Wir haben zu wenige, wir brauchen immer mehr, bis wir eine Nation aus lauter Reichen sind. Kränker und suizidaler können Größenphantasien nicht sein. Kinder müssen nicht nur immer genialer werden, ihre Schlauheit muss sich auch in Mark und Pfennig niederschlagen. Mit der Geniekrankheit begann die deutsche Bewegung ins Gefährliche abzudriften. Der Mensch, der nichts anderes wollte, als sich nur seines Lebens zu erfreuen, war hinfort kein echter Deutscher mehr.

„Wir brauchen nicht weniger Millionäre, wir brauchen mehr. In Deutschland gibt es jetzt gut 1,5 Millionen Dollarmillionäre. Das ruft natürlich sofort die Umverteiler und Gleichmacher auf den Plan, die dem Erfolg anderer grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen. In Wahrheit aber braucht das Land so viele Erfolgreiche wie möglich. Diese Kultur mit jungem und schönem Geld ist der Grund, warum es der Kapitalismus und die Erfolgreichen so viel schöner haben in den USA als hierzulande.“ (WELT.de)

Alle Probleme mit Kindern, selbst in Coronazeiten, haben die Familien zu tragen, vornehmlich die Mütter.

„Der Staat verlässt sich nur noch darauf, dass alle familiären und beruflichen Probleme im Privaten gelöst werden. Die sogenannte Flexibilität erweist sich als Unwort – wer abends noch am Laptop sitzt, wenn die Kinder im Bett sind, hat keinen Feierabend. Eltern erleben das Zuhause dadurch als Ort nie endender Belastung. Mütter übernehmen laut Studien nach wie vor zwei Drittel des Haushalts. Dass seit Beginn der Pandemie kein Entscheidungsträger auf die Idee gekommen ist, sie für ihre Mehrarbeit angemessen zu entschädigen, ist ein echter Skandal. Wir leben in einem Jahrhundert, in der das Kinderaufziehen zur individuellen Aufgabe geworden ist. In der sich die Gesellschaft von jeglicher gemeinschaftlichen Verantwortung für Betreuung losgesagt hat und sie an einzelne Personen abgibt – die Mütter und Väter, mehr noch natürlich an die Frauen. Das ist meines Erachtens grob fahrlässig. Statt die Sorge mit anderen zu teilen, müssen Eltern – gerade in der Corona-Krise – ihre täglichen familiären und beruflichen Aufgaben in einer Art Einzelhaft verrichten. Ganz typisch für die doppelt belastete Mutter ist ihre Dauererschöpfung.“ (ZEIT.de)

Eltern sind nur noch dazu da, für genialen Nachwuchs zu sorgen. Wehe, ihre Gören sind Durchschnittsware, die dem Staat keinen Mehrwert in der Welt verspricht. Dann werden die Kinder und Jugendlichen zu Durchschnittsware zermahlen. Der Staat fordert, und die Familien haben dafür zu sorgen, dass der Rachen des Staates adäquat gesättigt wird. Solche Familien kennen nur einen Lebenszweck: wann dürfen wir endlich nach Mallorca, um mit arroganten Engländern um die besten Strandplätze zu raufen?

Versteht sich, dass demokratische Kompetenz nicht zu den Lernzielen der Schulen gehört! Erwacht die Jugend dennoch und wider Erwarten zu Klimaaktivisten, werden sie von christlichen Politikern aus dem Paradies verstoßen.

Welch schreiende Misstöne. Während die Kinder nicht schlau und herausragend genug sein können, um ihre Umgebung in Staunen zu versetzen, verharren die Eliten in träger und gedankenloser Immer-weiter-so-Stimmung. Wir machen, was wir schon immer gemacht haben. Der Zug fährt, wohin der Zug will, und wir schüren das Feuer, das genügt.

Demokratische Politik sollte ein überprüfbares Handeln sein, damit jeder anhand von Zielen und Taten sich ein Bild machen kann, ob die Politiker ihren Worten treu geblieben sind. Davon kann keine Rede mehr sein.

„Die Kanzlerin hatte nie eine Vision für die deutsche Gesellschaft. Doch wer auf sie schaute, wusste verlässlich, wo gerade die Mitte lag.“ (SPIEGEL.de)

Wenn Politiker nicht angeben, welche Ziele sie ansteuern, können sie anhand ihrer Taten nicht gemessen werden. Wo die Kanzlerin ist, da ist die Mitte – also die Mehrheit der Gesellschaft, die sich ziellos treiben lässt. Das wäre ein ganz neue Definition von Führungskraft: wer sich von der trägen Mehrheit treiben lässt, der kann keine Fehler machen.

Nun sehen wir die Gründe des deutschen Utopieverbots. Utopie ist jenes Ziel, das man ansteuern muss, um der Misere der Gegenwart zu entgehen. Hab ich keine Utopie, bleibt alles im Modus des unveränderlichen Schicksals – oder der Direktive der Unsichtbaren Hand.

„Das Grundproblem eigentlich aller bisherigen Versuche, Angela Merkel zu analysieren, als Mensch wie als Politikerin, in Buchform wie filmisch, liegt wohl darin begründet, dass sie ihre Prinzipien und Grundhaltungen nie wirklich bündig in einer Rede oder einem anderen öffentlichen Auftritt geschildert hat. Man kann ihre Handlungen, Entscheidungen, Taten tatsächlich an kaum etwas final Formulierten messen. Das Fehlen der einen großen Rede ist sogar Voraussetzung ihres Politikstils des Abwartens, des Die-Dinge-sich-entwickeln-lassen. Warum gelingt auch uns es nicht, die Person Angela Merkel wirklich zu ergründen, wenigstens aus ihren Handlungen, Entscheidungen, Taten heraus?“ (ZEIT.de)

Die deutsche Nation erlaubt sich etwas Unfassbares: Merkel wird gehen und niemand wird wissen, was sie politisch wollte. Sie gab kein Ziel zu erkennen, an dem sie gemessen werden konnte. Der Physikerin scheint Poppers Devise von der Überprüfbarkeit (Falsifizierung) eines rationalen Tuns unbekannt. Ihren Untertanen ist die Frau aus dem dunklen Osten ein Rätsel geblieben.

Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister,
und bauen dich, du hohes Mittelschiff.
Und manchmal kommt ein ernster Hergereister,
geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister
und zeigt uns zitternd einen neuen Griff.  (Rilke)

Nicht mal einen neuen Griff hat sie uns gezeigt, die ernste Hergereiste, um dem urdemokratischen Ziel der Humanisierung der Welt näher zu kommen.

Doch stimmt die Mär von der Fremden, die allen fremd geblieben ist? Wusste man nicht von ihrem lutherischen Glauben? Sprach sie über ihre „Vision“ nur deshalb nicht näher, weil sie das Desinteresse ihrer Untertanen spürte?

Jeder Deutsche hätte es wissen können. Nein, die Deutschen wollten es nicht wissen. Sie wollten sich nicht mit Themen herumärgern, die sie längst abgehakt haben: mit den „christlichen Fundamenten“ ihres Glaubens. Das sollen Selbstverständlichkeiten im Hintergrund bleiben, über die man nicht mehr reden muss.

„Herr! schicke, was du willt, Ein Liebes oder Leides; Ich bin vergnügt, daß Beides Aus Deinen Händen quillt. Wollest mit Freuden Und wollest mit Leiden Mich nicht überschütten! Doch in der Mitten Liegt holdes Bescheiden.“

Die Verse des schwäbischen Pastors Mörike treffen präzis die Stimmung der lutherischen Pastorentochter. Kein deutscher Christ (der nicht gerade nach Gods own Land ausgewandert ist) hat die Pflicht, das Paradies auf Erden zu errichten. Das Reich des irdischen Bösen muss erhalten werden, solange es Gott gefällt.

In den Augen ihres Herrn, der selbstgerechte Werke und Taten verabscheut, hat die Kanzlerin nur Seinen Willen zu vollstrecken. Diese Aufgabe erledigte sie – mit Unterstützung ihres Volkes – in bravouröser Demut.

Ihren politischen Glaubenstest hat die Kanzlerin mit Glanz und Gloria bestanden. Mit Eins plus wird sie ins Paradies einfahren.

Mach‘s gut, du Engelgleiche, bitt für uns Sünder alle – damit wir uns in den himmlischen Wohnungen wieder sehen.

Fortsetzung folgt.