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nichtsdesto-TROTZ XXXIX

Tagesmail vom 05.07.2021

nichtsdesto-TROTZ XXXIX,

ich weiß, dass ich nichts weiß.

Dieses Zitat ohne Anführungszeichen wurde im Buch einer infamen Betrügerin gefunden, die sich anmaßte, ein Sokrates zu sein. Sie raubte das geistige Eigentum eines Prominenten, um – ja, was?

… um philosophischer zu scheinen, als sie ist? Um sich mit fremden Federn zu schmücken? Um mit betrügerischen Mitteln groß rauszukommen?

Oder um zu werben für Bescheidenheit, für Distanzierung vom eigenen Wissen, um es einer Überprüfung zu unterziehen? Um sich zu reinigen von allen selbstverständlich gewordenen Überzeugungen, damit man die Welt frisch und neu betrachten kann?

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Raube ich Kant aus, wenn ich seinen Imperativ ohne Anführungszeichen zitiere – oder ehre ich ihn, weil ich mich von ihm überzeugen ließ, jeder könne und solle seinen eigenen Verstand benutzen?

Habe ich von Kant abgeschrieben – oder ließ ich mich von ihm überzeugen, dass ich sagen kann: ich habe von ihm gelernt? Wollte Kant die Deutschen nicht aufklären? Zeige ich denn nicht – wenn ich seiner Aufforderung zum selber Denken nachkomme – dass ich seiner Meinung zustimme?

Wer dich auf den rechten Backen schlägt, dem biete auch den anderen dar. Wie oft wird dieser Satz zitiert, ohne die historische Quelle zu nennen – weil ohnehin jeder vermutet, sie sei jedem Menschen bekannt?

Oder sollte ich mich etwa – schrecklich zu denken – am geistigen Eigentum des Heiligen Geistes vergangen haben? Könnte es nicht sein, dass der Heilige Geist stolz wäre auf mich, weil ich ihn zu Wort kommen ließ?

Geistiges Eigentum! Hoppla, was ist denn das?

„Jedoch war der Gedanke des Schutzes des geistigen Eigentums bis ins 14. Jahrhundert unbekannt, weil der Gesichtspunkt der Ideenverwertung in der handwerklichen Produktion weniger wichtig war. Im Mittelalter gab es nur ansatzweise ein Recht am geistigen Eigentum. Vor der Erfindung des Buchdruckes durfte ein Buch beispielsweise abgeschrieben werden. Die Bearbeitung eines Stoffes durch viele verschiedene Künstler und Autoren war der Normalfall, ebenso die Übernahme oder Veränderung von Liedern und Musikstücken durch andere Musiker. Die im 16. und 17. Jahrhundert zum Privateigentum entwickelten Postulate, etwa von John Locke in der Arbeitstheorie wurden im 18. Jahrhundert auf Literatur, Kunst und technische Erfindungen übertragen. Wie nun jede Person über ihre eigenen Gedanken und Handlungen entscheiden dürfe, müssten auch ihre Schöpfungen als Produkt ihrer geistigen Arbeit und damit als ihr „geistiges Eigentum“ geschützt werden.“ (Wiki)

Bertolt Brecht berichtet von einem chinesischen Weisen, dessen Traum es war, ein Buch aus lauter Zitaten zu schreiben. Welch eine geistige Rauborgien-Phantasie. Heute würde der Weise im Gefängnis landen – wenn er seine verhängten Geldstrafen nicht zahlen könnte.

Es kann kein Zufall sein, dass das „geistige Eigentum“ zeitgleich mit der Entstehung des Frühkapitalismus aufkam. Alles, was ist, ist Eigentum – oder muss es werden, wenn jemand vorbeikommt, mit dem Finger auf das herrenlose Ding zeigt und erklärt: Meins! Wer sich an meinem neuen und alten Eigentum vergeht, kriegt eins auf die Pfoten, denn er ist ein Dieb und Räuber.

Das abendländische Eigentums-Recht unterstützt die Gewaltmethode der imperialen Welteroberung. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Wer zuerst fremden Boden betritt, macht ihn zu seinem Eigentum – gleichgültig, ob dieser schon seit undenklichen Zeiten anderen Völkern gehörte oder nicht. Nur der weiße Mann, der eine terra incognita erobert, darf sagen: Meins. Oder?

Wie begründet John Locke das Eigentum?

„Im ersten Schritt widerspricht Locke der absolutistischen These, die nur dem König legitime Eigentumsrechte zubilligt. Sie lautet, dass die Welt Adam, Noach und dann ihren Nachfahren, den Königen gegeben worden sei, um über sie zu herrschen. Nach Locke gab Gott die Natur allen Menschen gemeinsam (siehe 1. Mose), begründungsbedürftig ist vielmehr, dass Einzelne sich Privateigentum aneignen können und damit den anderen Menschen Zugriff auf diesen Teil der Natur verwehren.“ (Wiki)

Obwohl Aufklärer, war Locke ein frommer Mann – im Gegensatz zu französischen Aufklärern, die mit Gott weniger am Hut hatten. Eher wie deutsche Aufklärer, die keine Probleme mit einem Gott hatten. Zumeist machten sie ihn, wie Kant, zu einem abstrakten Vernunftgott: „Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.“

Lockes Gott war der des Alten Testaments. Diesem gehörte die ganze Welt, denn er hatte sie geschaffen. Das war der Ursprung der christlichen Eigentumstheorie.

„Das Eigentum rechtfertige sich aus dem Selbsterhaltungsrecht: Der Mensch sei folgend dem Freiheits- und Selbstbestimmungsrecht nicht nur Eigentümer seiner selbst und damit seiner Arbeit, sondern auch berechtigt, der Natur ein angemessenes Stück zu entnehmen, um sich selbst zu erhalten. Durch die Vermischung der Natur, die noch allen gehört, mit der eigenen Arbeit, die dem Individuum selbst gehört, ist der Mensch zur Aneignung dieses Teils der Natur berechtigt. Er selbst gibt als Beispiel die Aneignung eines vom Baum gefallenen Stückes Obst: Es gehört dem, der es aufgehoben hat, weil er es durch das Aufheben mit seiner Arbeit vermischt hat.“

 „… die natürliche Vernunft … sagt, dass die Menschen, nachdem sie einmal geboren sind, ein Recht haben auf ihre Erhaltung und somit auf Speise und Trank und alle anderen Dinge, die die Natur für ihren Unterhalt hervorbringt.“ (Locke)

Vermischung der Arbeit mit der Natur: das klingt nach Kopulation. Wie der Mann seinen Samen mit der Frau vermischt, um sich fortzuzeugen und zu vervielfältigen, so vermischt homo laborans seine Arbeit mit Mutter Natur, um die kärglichen Dinge des Daseins zu vermehren, denn die Menschen sollen sich durch Vermehrung die Schöpfung untertan machen wie Sand am Meer.

Sich die Schöpfung untertan zu machen ist ein Zeugungsakt, in der der Mann zeigt, wer das meiste Verdienst am Kinderzeugen hat. Schließlich gab es schrecklich lange Zeiten, in denen der väterliche Anteil am Zeugungsakt unbekannt war (pater semper incertus, der Vater bleibt immer unbekannt).

Dass die Männer unendlich lange Epochen unwichtig waren beim Schaffen neuer Generationen, muss sie dermaßen erbost haben – dass sie zurückschlugen mit der Erfindung der Hochkultur, in der ein König nicht nur Alleinherrscher des neuen Staatsgebildes – wie Gott Alleinherrscher der Welt –, sondern auch der Ehemann Alleinherrscher über die Familie war.

Kopulieren außerhalb der lebenslangen Ehe war absolut verboten – für die Frau. Männer waren vogel-frei. Als pater familias war der Mann Herr über Leben und Tod seiner versklavten Familienmitglieder. (Die Sklaverei war auch ein familiärer Akt.) Nun war klar, wer Oberhaupt und alleiniger Bestimmer über das lebendige und tote Eigentum der Familie war.

Allmählich wird erklärlich, warum die heutige Frau als Mutter keine angemessene, lohn-würdige Arbeit leisten darf, wenn sie Kinder erzieht, den Herd behütet und die Wohnung apart hält: der müde heimkehrende Mann braucht ein adäquates Refugium, um sich vom Kapitalismus zu erholen. Die Frau leistet keine Arbeit, um Besitz zu erwerben und anderen Konkurrenz zu machen beim Erbeuten der Welt. Das Heimchen am Herd kann nur Kinder großziehen, bei der Eroberung der Welt spielt sie keine Rolle.

Die Welt ist das Gebärorgan der Mutter Natur, die der Mann durch Arbeit im Schweiße seines Angesichtes und seines fleißigen Phallus befruchtet, um über Generationen hinweg seiner Familie, seinem Volk, den größtmöglichen Anteil an der Erde zu verschaffen. Dazu benötigt pater familias das Privileg, seine Annexionen gegen allen Neid der Besitzlosen, Impotenten und Schwachbrüstigen in der Pose unverrückbaren Rechts zu verteidigen.

Warum die Arbeit nur dem Arbeitenden gehören soll, erschließt sich nur dem, der den Menschen als asoziales Wesen definiert. Obwohl der Mann in hohem Maße von der „Liebes- und Beziehungsarbeit“ seiner Frau und Kinder profitiert, soll diese nichts wert, hingegen seine eigene lieblose, zumeist abgelehnte, ja gehasste Abhängigenarbeit allein etwas wert sein. Wenn ich zu Boden gefallenes Obst aufhebe, soll es mir gehören, denn ich verrichte Arbeit. Verrichte ich denn keine, wenn ich fremdes Obst nicht vom Boden aufhebe, sondern vom Baum pflücke? Wie viele Mühen machen sich Bankräuber und Kunstdiebe: warum steht ihnen nicht zu, was sie sich mühselig erbeuten mussten?

In gewisser Hinsicht ist Locke supermodern und übertrifft die blinde Erwerbsgier der Moderne, die nur einen unerbittlichen Egoismus kennt – ohne Rücksicht auf Verluste:

„Das Eigentum ist bei Locke zunächst durch mehrere Einschränkungen begrenzt: Man darf der Natur nicht mehr entnehmen, als man selbst verbrauchen kann. Andere Menschen müssen ebenfalls genug von der gemeinsam gegebenen Natur zurückbehalten, um selbst überleben zu können.“

Das müsste sich die heutige Ökonomie hinter die Ohren schreiben: der Natur darf nicht mehr entnommen werden als man ihr – zurückgibt? Nicht ganz, richtige Antwort à la Locke: … als man selbst verbrauchen kann.

Michael Braungarts sinnvolles Kreislaufprinzip „Cradle to Cradle“ war Locke noch unbekannt. Bei ihm soll man der Natur nicht mehr entnehmen, als man selbst verbrauchen kann – um nichts verderben zu lassen. Das ist der Grundsatz der sparsamen Hausfrau, aber noch nicht das Prinzip einer Symbiose mit der Natur.

Der rücksichtslos egoistisch auftretende Eigentumsbegriff wird von Locke im zweiten Schritt im berechtigten Interesse aller eingeschränkt:

„So viel, als ein jeder zu irgendwelchem Vorteil für sein Leben nutzen kann, bevor es verdirbt, darf er sich zu seinem Eigentum machen. Was darüber hinausgeht, ist mehr als ihm zusteht, und gehört den anderen. Nichts wurde von Gott geschaffen, um zerstört zu werden.“ (Locke)

Hätte der Westen sich den gesamten Eigentumsbegriff Lockes zu eigen gemacht, hätte er sich zwar alle Länder und Kontinente unter den Nagel reißen dürfen. Denn überall lebten, wenn überhaupt, nur Eingeborene, die im Sinne Lockes nichts arbeiteten. Sie lebten ja nur von gefährlicher Jagd und sorgten sich um nachhaltige Erhaltung der Natur, was war das schon? Doch die Ureinwohner hätten sie weder töten noch ihren Besitz durch Gewalt nehmen dürfen. Alle Menschen haben das Recht zum Überleben.

Wird das Recht auf Überleben heute von den Weststaaten allen Völker dieser Welt gewährt?

„Der Begriff der „Fluchtursachenbekämpfung“ wurde jedoch schon bald nach dem Sommer 2015 von der Merkel-Regierung gepusht, um davon abzulenken, dass unsere Lebens- und Produktionsweise zur Schaffung von Fluchtgründen beiträgt. Stattdessen wurde er euphemistisch eingesetzt dafür, dass Entwicklungshilfe-Gelder zunehmend zweckentfremdet und in Grenzschutz- und Rückführungsmaßnahmen oder in die Abfederung von Investitionsrisiken transnationaler Unternehmen gesteckt werden. Zu lange schon wurde Politik auf Kosten der Anderen gemacht: zukünftiger Generationen, entfernter Weltregionen und marginalisierter Menschen. Was wir brauchen, ist eine Regierung, die Verantwortung übernimmt, und zwar über Legislaturperioden und Landesgrenzen hinaus. Nur so kann sie den großen Themen wie Klimakrise, globale Gesundheit und Fluchtmigration wirksam begegnen. Statt Entwicklungshilfegeld in fragwürdige Projekte zu stecken, muss die ernsthafte Anerkennung von Kolonialverbrechen und die Restitution geraubter Kulturgüter vorangetrieben werden. Ein wichtiger Schritt in Richtung Verantwortung für globale Prozesse wäre auch die Stärkung der Vereinten Nationen. In der Weltgesundheitsorganisation WHO zum Beispiel entscheiden zunehmend private Geldgeber:innen über die Ziele und Strategien, und beim UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR wirken die Hauptgeberländer darauf hin, dass ihre innenpolitischen Interessen durchgesetzt werden. Es bedarf neuer, öffentlicher Finanzierungsmechanismen für die UN, um ihrer weiteren Entdemokratisierung entgegenzuwirken und sie handlungsfähiger zu machen. Die neue Bundesregierung könnte hier eine wichtige Rolle spielen.“ (Frankfurter-Rundschau.de)

Merkels Politik kennt eine einzige gute Tat, um viele böse Taten zu rechtfertigen – das ist wortlos- unüberbietbare Heuchelei. Weder denkt die Kanzlerin wirklich an die Nöte schwacher Staaten, noch an die zukünftigen Generationen oder an die benachteiligten Schichten in aller Welt.

Dass Impfproduzenten ihre Patente weiterhin abschirmen dürfen, zeigt die Allmacht der Starken und das heilige Eigentumsrecht bei wissenschaftlichen Erfindungen, die nicht der Welt zur Verfügung stehen, sondern nur dem eigenen Profit dienen. Und dies, obgleich die Firmen selbst von staatlichen Finanzhilfen unterstützt wurden, also vom Geld aller Steuerzahler profitierten.

Welch eine Pervertierung der UN, die zunehmend von privaten GeldgeberInnen unterwandert werden. Dazu kein einziger klärender Satz aus Berlin. Unsere Regierung funktioniert nur noch schlecht und recht bei der Bekämpfung der Coronakrise (in der die Interessen der Kinder gnadenlos ignoriert werden), bei allen anderen Weltproblemen bleibt sie untätig, abweisend und schweigsam.

Einst begann die Wissenschaft als Wohltäterin der ganzen Menschheit, inzwischen ist sie zur Magd der nationalen Wirtschaft und Politik verkommen. Das geistige Eigentum wurde zum eisernen Bestandteil autoritärer Staaten und internationaler Monopole.

Arbeit berechtigt zum Erwerb von Eigentum? Das würde bedeuten, dass Milliardäre so viel mehr arbeiten müssten als sie ungeheure Reichtümer besitzen?! Ein schlechter Scherz?

Aber sie sind doch begabter und risikobereiter als die arbeitende Durchschnittsware!? Möglich, wer aber taxiert den ökonomischen Wert von Begabungen und Risiken? Arbeiten sie denn, wenn sie tatenlos Geld im Überfluss scheffeln? Arbeit wäre dann nichts als die Fähigkeit, sich durch Börsenspiele zu bereichern – alles auf Kosten jener, die sich mit einem einfachen Leben zufrieden geben.

Das schlichte, gesättigte Leben war einst die Devise weiser Denker, deren Ruf in heutigen Zeiten systematisch destruiert wird.

Die Unendlichkeit himmlischer Götter hat die Bedürfnisse und Triebregungen der Menschen grenzenlos ausgeweitet und das Endliche entwertet. Nicht mehr irdische Sättigung und Befriedigung endlicher Bedürfnisse spielen die entscheidende Rolle, sondern das krankhafte Sehnen ins Transzendente, das alles Immanente mit Hohn überzieht und zerstört.

Das Recht auf Eigentum wird nicht auf berechtigte Bedürfnisbefriedigung bezogen, sondern auf gottähnliche Überlegenheit der Wenigen auf Kosten der Vielzuvielen. Bei den Abgehängten herrscht Hunger – nicht immer nach materiellen Dingen, sondern nach der demokratischen Anerkennung: alle Menschen sind gleichwertig und besitzen dieselbe unantastbare Würde. Der Kapitalismus hat die Unantastbarkeit dieser Grundforderung längst zertrümmert. Alle Regierungen schauen regungslos zu, wie mächtige Konzerne immer mehr die Kontrolle über die Welt an sich reißen.

„Der Lobbyismus, speziell der Profitlobbyismus, hat überhandgenommen. Die Macht konzentriert sich auf einige wenige Akteure.“ (SPIEGEL.de)

Das Eigentumsrecht ist pervertiert zum Annexionsrecht weniger Akteure, die mit ungeheurer Macht immer mehr die Weltpolitik bestimmen. Seit Dezennien schaufeln sie zudem am Grab der Menschheit, indem sie alle Klimarettungsmaßnahmen schamlos unterminieren. Wiederum schauen die Regierungen zu und scheuen sich, den offenen Kampf mit den Weltmarodeuren zu führen. Wegen Ökozids müssten nicht nur die Bolsonaros dieser Welt angeklagt werden, sondern vielmehr die terrestrisch vernetzten Multimilliardäre.

„Der eingangs zitierte Exxon-Lobbyist Keith McCoy berichtete in einem von Greenpeace inszenierten Gespräch, in dem es um einen vermeintlichen Jobwechsel ging, freimütig von den Desinformationsaktivitäten, die sein Unternehmen nach wie vor betreibe. Natürlich habe man »aggressiv die Wissenschaft bekämpft« und »Schattengruppen« unterstützt, die den menschengemachten Klimawandel leugneten, und man lobbyiere heimlich und heftig gegen Joe Bidens »wahnsinnige« Klimapläne, aber das sei ja »nicht illegal«. Dem kurzfristigen Gewinn wird alles andere untergeordnet, auch die Zukunft der Menschheit.“ (SPIEGEL.de)

Das sind Nachrichten, die zum Himmel schreien. Wie reagiert Berlin? Mit dem Schweigen auserwählter Lämmer, die sich von irdischen Turbulenzen nicht irritieren lassen. Denn sie befinden sich geschützt in der Hand Gottes.

Ohnehin haben wir nur noch eine Fassadendemokratie. Wer hinter die Kulissen schaut, wird vom Grauen erfasst:

„Was ich kritisiere, ist die heutige Ausprägung unseres parlamentarischen Systems. Dieses System entfernt sich von dem, was im Grundgesetz angedacht war. Und das Parlament entfernt sich von unserer Gesellschaft. Der Lobbyismus, speziell der Profitlobbyismus, hat überhandgenommen. Die Macht konzentriert sich auf einige wenige Akteure. Wir erleben einen enormen Machtverlust der Fraktionen gegenüber der Regierung. Die Regierungsfraktionen nicken ab, was kommt. Und die Gesetze kommen fast alle von der Regierung. Oppositionsanträge werden ohnehin nie übernommen.“

Doch das Schlimmste kommt noch, das bislang von Öffentlichkeit und Medien ignoriert wurde:

„Da aber auch nur, weil die Kanzlerin die Abstimmung zur Gewissensfrage gemacht hat. Was ja schon nahezu pervers ist: dass die Kanzlerin entscheidet, was eine Gewissensfrage ist, und nicht der Abgeordnete.“

Der Fraktionszwang raubt den Abgeordneten das Recht zur selbstbestimmten Entscheidung und die Kanzlerin enteignet das Gewissen der Einzelnen, um ihr eigenes Gewissen an die Stelle aller Gewissen zu setzen. Eigenmächtiger und anmaßender geht es nicht.

Da prahlen die Christen, das Gewissen erfunden zu haben – und dann raubt die führende Christin ihren Schwestern und Brüdern eben dieses Gewissen.

Was ist Gewissen?

„… theologisch-ethischer Begriff, der das menschliche Vermögen bezeichnet, eigenes Urteilen und Handeln nach moralischen Gesichtspunkten zu begründen. Wurde in der früheren Philosophie (Hochscholastik) Gewissen als eine allen Menschen innewohnende intellektuelle Veranlagung gesehen, zwischen Gut und Böse unterscheiden und danach handeln zu können (entsprechend der Herkunft des Wortes aus dem Begriff des „Bewusstseins“), so ist Gewissen nach theologischem Verständnis ein Gefühl des unmittelbaren Schuldigseins vor Gott.“ (Wissen.de)

Das sind die Niederträchtigkeiten christlicher Gottesmänner: die autonome Antike wird unterschlagen. Ein „Urteilen und Handeln“ nach moralischen Gesichtspunkten ist unter dem Gesichtspunkt der erblichen Sünde ausgeschlossen. Wer moralisches Handeln als „selbstgerechte Werkgerechtigkeit“ verfluchen muss, muss jedes ethische Verhalten als Gnadenakt Gottes erflehen. Dann erhält er einen Freifahrtschein zum bösen Tun, das ihm aber jederzeit verziehen wird, wenn er Buße und Reue zeigt.

„Liebe und tu, was du willst.“ Bei Augustin kann auch das verruchteste Böse getan werden, wenn der Sünder um Gnade bittet.

Das christliche Gewissen zeigt nicht, was der Mensch tun soll. Es zeigt die grundsätzliche Verderbtheit menschlichen Tuns an. Gewissen ist Con-scientia, Mitwissen. Was wird immer mitgewusst? Die Verderbtheit allen menschlichen Tuns. Mit einem autonomen Gewissen, das dem Menschen Gut und Böse zeigt, hat christliches Mitwissen nichts zu tun.

Es waren griechische Denker und Tragödiendichter, die die Gewissenskämpfe selbstbestimmter Wesen in allen Variationen zeigten.

„Trotzdem ist sich der Mensch des Guten und Bösen, das er tut, wohl bewusst; bei Euripides findet sich einer der frühesten Belege für den Begriff des Gewissens. Die Versenkung in die großen Probleme des Kosmos weitet seinen Blick, er fühlt sich allen mitstrebenden Wahrheitssuchern verbunden, in welchem Lande sie auch sein mögen. Insofern ist er über die engen Grenzen der Polis hinausgewachsen und ein Vorläufer des Hellenismus geworden.“ (Nestle)

Auf griechischem Boden wächst die universelle Ethik der Humanität, keine Abwertung der moralischen Kräfte des Menschen, um ihn Gott zu unterwerfen. Das selbstbestimmte Gewissen zeigt das falsche und gute Handeln des Menschen. Einsicht in das falsche Tun ist keine Selbstzerstörung, sondern sinnvolle Selbstkritik, um dem Bösen zu wehren und das Gute zu fördern. Darauf kann der Mensch stolz sein. Das Gewissen stimuliert nicht zur Selbsterniedrigung, sondern ermutigt zu moralischer Selbstertüchtigung und humanem Stolz.

Warum werden Gedanken und Einsichten zu privatem Eigentum degradiert? Der Geist hat die Aufgabe, alle Menschen zu verbinden und miteinander ins Gespräch zu bringen. Das geht nicht, wenn der Geist umzäunt wird und alle Erkenntniswilligen abschreckt.

Am Geist des Menschen sollten sich alle Mitmenschen ohne Kontrolle und Katzbuckelei bedienen können – um zu lernen. Lernen ist ein unbekannter Begriff in der heutigen Kultur, in der das Genie seinen geringsten Einfall zum göttlichen Ereignis verklären muss, das man nur käuflich erwerben kann. Alles in Deutschland muss genial sein, um die tröge Masse auf Abstand zu halten.

Lernen als sich inspirieren lassen von der Weisheit anderer gilt hierzulande als frevelhaftes Plagiieren. Doch es ist nur dann ein bloßes Imitieren, wenn es beim einsichtslosen Nachahmen bleibt. Gleichgültig, von wem ich lerne: mein eigener Kopf muss selbstständig dabei gewesen sein.

Wird der funkensprühende Geist zum Eigentum pervertiert, welches gegen das Lernen anderer geschützt werden muss, dann hat sich der Geist endgültig zur käuflichen Ware erniedrigt.

Denken muss frei, unantastbar und jedem Menschen zugänglich sein. Jeder Mensch hat das Recht, von jedem anderen nach Belieben zu lernen – wofür er dankbar sein darf. Einen Bückling mit Anführungszeichen aber muss er nicht machen.

Fortsetzung folgt.