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nichtsdesto-TROTZ XXX

Tagesmail vom 14.06.2021

nichtsdesto-TROTZ XXX,

der Kampf gegen Antisemitismus geht in die Irre. Er klärt nichts, verwechselt Verdacht und Vermutung mit Diagnose, verurteilt im Geist der Unfehlbarkeit, lässt sich auf keine Debatte ein.

Klare Definitionen liegen nicht vor. Wissenschaftliche Maßstäbe existieren nicht. Kritik an der Religion wird zunehmend verdächtigt. Das geistige Klima der BRD wird theokratischer. Die Unschärfe der Begründung wird kompensiert mit apodiktischer Verurteilung.

Geisteswissenschaften können nicht mit Zahlen und Quantitäten dienen. Aber mit unbestechlicher Wahrnehmung und logischer Schärfe.

Der Kampf gegen Antisemitismus hat wissenschaftlich zu sein. Ketzerverdächtigungen haben mit Wissenschaft nichts zu tun.

Versteht sich von selbst, dass die Regierung gar nicht daran denkt, sich klärend einzumischen.

Zunehmend rückt der Begriff Unvergleichbarkeit ins Zentrum der Scharmützel. Was verglichen wird, vermindert angeblich den Wert des Verglichenen. Erkennen und urteilen aber heißt vergleichen. Was unvergleichlich ist, ist unerkennbar.

Das Unvergleichliche und Unerkennbare sind Schutzwälle der Religion gegen Angriffe der Vernunft. Das Klima wird zunehmend aufklärungs- und vernunftfeindlicher.

Religion begnügt sich nicht mit privatem Glauben, sondern will die politische Atmosphäre bestimmen. Wenn immer mehr Staaten in autoritäre Religion zurückfallen, will die BRD nicht zurückstehen.

Unvergleichlichkeit ist ein Begriff religiöser Esoterik. Esoteriker der Straße werden gescholten, Esoterik der Meinungsführer ist tabu.

Ursprünglich wurde der Begriff eingeführt, um den Holocaust, das schrecklichste Verbrechen der Deutschen, nicht peu à peu zu verharmlosen. Inzwischen zeigt sich, dass der Begriff dazu nicht fähig ist.

Das Leid anderer Völker darf nicht gekränkt werden mit dem satanischen Stolz der Deutschen: wir aber sind die einzigartigen Weltmeister des Bösen. Mit uns kann sich niemand vergleichen. Es ist ein Kennzeichen der Deutschen Bewegung, die Symbiose des Guten und Bösen zu krönen mit der Unvergleichlichkeit der eigenen Verbrechen.

Das Leid der Opfer ist wissenschaftlich nicht zu erfassen. Es bleibt die subjektive Wunde derer, die keinen objektiven Vergleich benötigen, um die Erinnerung an das Unheil zu bewahren. Der Schmerz der Klagenden muss in vielen Erzählungen geschildert werden, um den Nachfolgenden im Gedächtnis zu bleiben. Wer Opfer verstehen will, muss ihren Geschichten zuhören, um eine Ahnung zu erhalten, was wir tun müssten, um die Wiederholung des Schrecklichen für immer zu vermeiden. Quantitative Unvergleichbarkeiten bleiben erkenntnis- und folgenlos.

Wenn Antisemitismus nicht scharf definiert wird, ist es unmöglich, die Krankheitsherde zu orten und der Gefahr der Wiederholung prophylaktisch zu begegnen. Assoziationen und bloße Symptome können uns Hinweise geben, wo wir genauer hinschauen müssten. Aber sie genügen nicht, um unsere Urteile zu begründen. Wenn Begründungen vage bleiben, wird der Kampf gegen Hass noch mehr Hass erzeugen, anstatt ihn durch Schulderkenntnis abzubauen.

Der Kampf gegen Antisemitismus hat der Humanisierung der Gesellschaft zu dienen. Das gelingt nur durch Nachvollziehbarkeit der Anschuldigungen und Rechtfertigungen. Wie Gerichte dazu da sind, gewöhnliche Verbrechen in Anklage und Verteidigung zu klären, so sollte die öffentliche Debatte die Funktion einer öffentlichen Gerichtsverhandlung haben, um die beiden Seiten des Vorwurfs und der Schuldzurückweisung allen Beobachtern verständlich zu machen.

Der Kampf muss so transparent und nachvollziehbar sein, dass die Quellen der Menschenfeindschaft gestoppt werden und nicht durch Wut des Unverstandenseins noch stärker fließen.

Wir haben nur eine Chance, das Unheil der Unmenschlichkeit zu vermindern und die ist: wir müssen uns verstehen. Wir müssen begreifen, warum normale Menschen zu Tätern wurden, um Wiederholungen ihrer Untaten für immer zu verhindern.

Der Kampf gegen Antisemitismus ist ein spezieller Kampf gegen die generelle Inhumanität der Welt. Da er religiöse Wurzeln besitzt, müssen Religionen erforscht werden, um die Feindschaft zwischen rechtem und falschem Glauben zu verstehen.

Hier blicken wir in einen nationalen Abgrund. Weder wollen die Deutschen „ihre“ christliche Religion, noch die Religion ihrer Opfer zur Kenntnis nehmen. Sie fühlen sich aufgeklärt und souverän, wenn sie den Inhalt ihres Glaubens ignorieren. Wird schon seine Richtigkeit haben, was ihre Prediger auf der Kanzel zu sagen haben. Ist denn Religion nicht der Gipfel der Menschlichkeit?

Da sie fürchten, den Forderungen dieser Religion nicht gerecht zu werden, vermeiden sie es, ihre Schwächen bestätigt zu sehen. Ja, sie wissen, dass sie keine Moralapostel sind. Was aber nicht bedeutet, dass sie Unmenschen seien. Mit ihrer Durchschnittlichkeit wollen sie zufrieden sein.

Über das Judentum wissen sie noch weniger als über ihr Christentum. Offizielle Vertreter beider Religionen legen nicht den geringsten Wert darauf, dass ihre esoterischen Glaubenslabyrinthe von den Massen erforscht werden. Lasset alles im Numinosen, damit die Geheimnisse der Religion gewahrt werden.

Nun aber ist es – welch Wunder – zum ersten Mal geschehen, dass Religion zum Gespräch des Tages wurde. Wem gebührt das Verdienst, wem verdanken wir diese kühne Erstlingstat? Festhalten, liebe Gemeinde: einer ordinären Lobbyisten-Nudging-Organisation namens INSM.

Christian Stöcker:
„Am Freitag dieser Woche schaltete die Lobbyorganisation »Initiative neue soziale Marktwirtschaft« (INSM), die maßgeblich von der deutschen Metall-, Elektro- und Automobilindustrie finanziert wird, in vielen großen deutschen Zeitungen großformatige Anzeigen. Diese Anzeigen zeigen die Grünen-Spitzenkandidatin Annalena Baerbock als Moses ausstaffiert, mit zwei Steintafeln, auf denen neun Verbote stehen, die die Grünen sämtlich nicht anstreben, aber das ist ja egal. Daneben steht: »Warum wir keine Staatsreligion brauchen.“ Ich kann mich nicht erinnern, dass in der jüngeren deutschen Geschichte jemals eine Lobbyorganisation im Auftrag von Ultrareichen und Konzernen so offen und mit so viel Aufwand versucht hätte, Einfluss auf einen Bundestagswahlkampf zu nehmen.“ (SPIEGEL.de)

Stöcker ist zu Recht empört. Doch er übersieht, dass die Söldnertruppe der Superreichen – vermutlich, ohne es zu wollen – dem Land einen Riesendienst erwiesen hat: sie hat Religion als Gegenstand des Streits in die Öffentlichkeit gebracht. Welch eine Chance, den Urgründen des Antisemitismus nachzuforschen. Oder doch nicht?

„Das Motiv selbst bedient antisemitische Klischees, das findet zumindest der baden-württembergische Antisemitismusbeauftragte Michael Blume. Das Motiv benutzt auch die in rechtsradikalen Kreisen beliebte Unsinnsthese, beim Wunsch nach einer Verhinderung der Klimakrise handele es sich um eine »Religion«.“

Hier irrt Stöcker, sonst einer der Klarsten unter deutschen Kommentatoren. Nicht erst seit gestern ist die gesamte Politik des Westens zur Religion geworden. Die abendländische Geschichte ist Verwandlung von Glauben in Macht. In Macht über Natur und die ganze Menschheit. Religion hat die zyklische Zeit der Heiden in eine lineare Heilsgeschichte transformiert. Fortschritt ist eine selbsterfüllende Prophezeiung des Reiches Gottes auf Erden oder der Wiederkehr des Herrn.

Es gibt keine moderne Politik, die nicht eine Realisierung göttlicher Verheißungen wäre. Der Glaube wurde zur Tat, die die Welt veränderte. Was hat Blume gegen die mosaische Aktion einzuwenden?

„Über die Gleichsetzung einer Kanzlerkandidatin mit einer orientalischen Moses-Gestalt, die angeblich bedrückende Verbote und eine Staatsreligion erlassen wolle, kann ich da überhaupt nicht lachen“, sagte der baden-württembergische Antisemitismus-Beauftragte.“ (Die-Rheinpfalz.de)

Merkwürdige Formulierung: eine orientalische Moses-Gestalt. Soll das eine Distanzierung vom jüdischen Urvater Mose sein? Noch merkwürdiger die Begründung des Antisemitismus-Verdachts: darüber könne er gar nicht lachen. Muss alles antisemitisch sein, worüber er nicht lachen kann? Das intellektuelle Niveau der Auseinandersetzung um Antisemitismus steigt unaufhaltsam.

Will der weibliche Moses eine Staatsreligion einführen – oder der bestehenden Religion Konkurrenz mit einer neuen machen? Mit dem Christentum haben wir bereits eine Staatsreligion, die zur politischen Struktur der BRD wurde. Eine Staatsreligion einzuführen, wäre demnach überflüssig. Es könnte also nur darum gehen, die bekannten zehn Gebote mit neuen auszuwechseln.

Das wäre a) eine Kritik an den traditionellen 10 Geboten, b) gleichzeitig die Bestätigung, dass Gott das Recht hat, auch heute noch den Deutschen diverse Vorschriften zu machen. Wenn Kritik an Mose antisemitisch sein sollte, müssten fast alle jüdischen Aufklärer Antisemiten gewesen sein. Denn sie waren rabiate Kritiker des jüdischen Glaubens.

Kommen wir zur „Gleichsetzung“ der grünen Kandidatin mit Mose. Ist das Blasphemie? Auf keinen Fall. Jeder Gläubige sollte sich an vorbildlichen Glaubensgestalten orientieren. Selbst an Jesus:

„Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen.“

„Denn ein Vorbild habe ich euch gegeben, damit auch ihr tut, wie ich euch getan habe.“

„Nun aber spiegelt sich in uns allen des HERRN Klarheit mit aufgedecktem Angesichte; und wir werden verkläret in dasselbige Bild von einer Klarheit zu der andern als vom Geist des HERRN.“

„Und ich sage euch nun: Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebet habe, auf daß auch ihr einander lieb habet.“

Christen sollen ihren Herrn nachahmen und werden wie Er. Das ist keine Sünde, das ist ihre Glaubenspflicht. Bei gehorsamem Lebenswandel ist Nachahmung möglich. Was nicht bedeuten muss, man könne die Perfektion Jesu erreichen. Das Höchste der Gefühle ist „simul justus et peccator“, gerecht und Sünder zugleich.

Gibt es nicht das Dogma von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen? Das steht schon auf den ersten Seiten des Alten Testaments. Als Jesus sich zu „Gott machte“, wurde er von den Juden attackiert. Du, der Du ein Mensch bist, hast dich zu Gott gemacht?

Christen hatten es leichter, sich mit Gott oder seinem Sohn zu identifizieren. Sie mussten nicht die Vollendung seiner göttlichen Qualitäten erreichen. Der Glaube an ihn genügte, um sich das Prädikat der Heiligen zu verdienen.

Im Judentum steht nicht die Gnade im Vordergrund, sondern die selbsterarbeitete Tugendleistung. Hier beginnt die Differenz der Religionen. Im Judentum die Mühe, den Geboten gehorsam zu sein; im Christentum der Glaube an die Gnade. Hier die Juden, die sich bemühen, ihre Vorschriften täglich zu erfüllen. Dort die Christen mit der „fahrlässigen Einstellung“: sündiget tapfer, wenn ihr nur glaubt.

Angeblich bedrückende Gebote? Waren denn die wirklichen Gebote leicht einzuhaltende Empfehlungen, keine strengen Pflichten, deren Nichteinhaltung harte Strafen nach sich ziehen?

„Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.“

Ständig gingen die alten Hebräer mit anderen Göttern fremd. Polytheismus war die Regel der damaligen Völker. Nun plötzlich sollte man nur einem Gott folgen? Alle anderen Religionen hatten ihre Götterskulpturen, die man anbeten konnte. Nur sie sollten sich mit einer bildlosen Religion begnügen? Auch von Himmel, Erde und der ganzen Natur sollten sie sich keine Abbilder machen? War das nicht das ästhetische Vergnügen anderer Völker, sich von der Welt Bilder zu machen, um sie nach Belieben zu bestaunen und zu bewundern?

Zudem war der Gott ein schrecklicher Rachegott, der die Sünden der Väter bis ins dritte und vierte Glied rächen würde. Waren das nicht bedrückende Gebote und Verbote?

Dann das Sexverbot mit Fremden. War das im Umfeld freizügiger Sexpraktiken keine sinnenfeindliche Einbuße? Huren waren Tempelpriesterinnen, die mit Fremden schliefen – als Gottesdienst. Freier Sex war Bestandteil des matriarchalischen Dorfes.

Im jüdisch-christlichen Glauben wurde es zur Pflicht, Kinder zu zeugen, damit die Frommen sich die Erde untertan machen könnten.

Kann die INSM-Werbung eine effektive Abschreckung gegen die Grünen sein? Mitnichten. Sie ist viel zu dubios und unklar, als dass sie bei bibel-entfremdeten Menschen ankommen könnte. Sie wird ein Schlag ins Wasser werden.

Eins hingegen könnte sie: die Gesellschaft endlich einmal zu Streitgesprächen über Juden- und Christentum  animieren. Aber auch das soll nicht sein:

„Auch die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, warnte auf Twitter vor Vorurteilen: »Die INSM wäre gut beraten, das Thema Religion, von dem sie offensichtlich nichts versteht, anderen zu überlassen«, twitterte Knobloch. Die Initiative habe »sich völlig im Ton vergriffen«.“ (SPIEGEL.de)

Demokratisch sind solche Worte nicht, denn in öffentlichen Dingen sollte jeder seine Meinung sagen können. Aufklärerisch schon gar nicht. Im Gegenteil, Knoblochs „Besserwisserei“ klingt beinahe, als wolle sie demnächst jede Kritik an der Religion als antisemitischen Akt einstufen. Dann wären wir in einer theokratischen Gesellschaft gelandet.

Warum sollte Kritik an einer uralten Religion Judenhass sein? Kein lebender Jude muss sich verantwortlich fühlen für die Erfindungen seiner Vorfahren. Zudem sind die meisten Juden nicht mehr streng gläubig. Kritik an einer Religion ist Kritik am politischen Herrschenwollen dieser Religion. Wäre sie ein Glauben im verborgenen Winkel, wäre sie uninteressant.

Kritik an der Religion wäre nichts als eine Reaktion auf den Angriff der Religion gegen die Heiden.

„In einer freien Gesellschaft gäbe es keine Verse mehr wie: „Gieß deinen Zorn aus über die Heiden, die dich nicht kennen, über jedes Reich, das deinen Namen nicht anruft“, schreibt Avraham Burg in seinem bewegenden Buch „Hitler besiegen“.

Heute gibt es kaum eine nennenswerte jüdische Kritik an der Religion ihrer Väter. Im liberalen Israel seufzt man zwar über die zunehmende Dominanz der Ultraorthodoxen in der Politik, dennoch lässt man die Dinge geschehen.

Wie anders war das bei jüdischen Aufklärern, etwa bei dem Breslauer Maskil Hirschel, der „hinter den antijüdischen Tiraden Voltaires nicht zurück stand. Mit einem Motto Voltaires eröffnet Herschel sein Buch. Tatsächlich ist sein Büchlein die wildeste und unreflektierteste Suada gegen die Rabbiner aus einer jüdischen Feder, die wüsteste und beleidigendste Kampfschrift der Haskala wider die rabbinische Autorität.“ (Schulte, Die jüdische Aufklärung)

Hasste Voltaire wirklich seine jüdischen Zeitgenossen – oder war er nur ein scharfer Kritiker der jüdischen Religion, keinen Deut anders, als er Kritiker des Christentums war?

Sich vergleichen mit großen Vorbildern gilt in Deutschland als Sünde wider die Demut. Harald Martenstein vergleicht die Rede von Carolin Emcke bei den Grünen mit der berüchtigten „Jana aus Kassel“:

„Sich mit den Opfern der Naziverbrechen oder mit Widerstandskämpfern zu vergleichen, gilt in Deutschland zu Recht als Verharmlosung und Tabubruch. Es wird aber immer wieder gemacht, warum? Weil die Versuchung so groß ist. Man kann sich selbst als das absolut Gute darstellen und den politischen Gegner als das absolute Böse, als jemanden, gegen den jedes Mittel legitim ist.“ (TAGESSPIEGEL.de)

An diesen Sätzen ist alles falsch. Einerseits werden die Scholl-Geschwister den Jugendlichen als leuchtende Vorbilder des Widerstands vorgestellt, andererseits soll es eine Sünde wider den Geist sein, sich falschen Verhältnissen heute ebenso klar entgegenzustellen wie Sophie Scholl dem Nationalsozialismus.

Das sind keine totalen Gleichsetzungen, sondern partielle Vergleiche unter veränderten Verhältnissen. Den Vergleich mit Sophie Scholl mag man als jugendliche Überidentifikation abtun: ist er deshalb ein „Tabubruch“? Welches Tabu wird gebrochen? Kein anderes als die Grundregel der Demokratie, sich lautstark zu Wort zu melden, wenn man die Gesellschaft in Gefahr sieht. Das ist nicht nur erlaubt, das ist für jeden mündigen Menschen geboten.

Man muss kein Gandhi sein, um mit eigenen beschränkten Kräften dessen Prinzipien zu folgen. Dadurch muss man sich noch lange nicht als das absolut Gute und den Gegner als absoluten Bösen betrachten. Schon gar nicht folgt daraus, dass jedes Mittel im Kampf gegen das Böse legitim sei. Schon was von griechischen Philosophen gehört, Herr Martenstein?

Was ist eine paradoxe Intervention? Wenn ich jemandem etwas rate – und ihn anschließend dafür bestrafe, dass er dem Rat folgte. Mit paradoxen Interventionen kann man Abhängige in den Irrsinn treiben.

Die öffentliche Debatte in Deutschland ist in hohem Maße eine kollektive paradoxe Intervention. Den Jugendlichen werden Widerständler gegen Hitler als leuchtende Vorbilder vorgestellt. Doch wehe ihnen, sie kämen auf die Idee, diesen Vorbildern – unter veränderten Verhältnissen – tatsächlich zu folgen. Wer sich mit anderen vergleicht, vergleicht sich immer nur in bestimmten Aspekten. Totale Gleichsetzungen gibt es nicht. Ab jetzt heißt es im deutschen Geschichtsunterricht: bewundert Sophie Scholl, doch wehe, ihr ahmt sie nach. Das wäre fluchwürdig.

Niemand vergeht sich an der Erinnerung an den Holocaust, wenn er alles in seiner Macht Stehende unternimmt, um die Wiederholung der Verbrechen frühzeitig zu verhindern.

In einem Land der paradoxen Intervention ist es schwierig, Vorbilder zu wählen, um ihnen nachzueifern. Werden gute Taten als totalitäre verunglimpft, bliebe Gutwilligen nichts anderes übrig, als sich vom Bösen treiben zu lassen. Dann wird es heißen: Zyniker haben die Macht übernommen.

Fortsetzung folgt.