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nichtsdesto-TROTZ XXVI

Tagesmail vom 04.06.2021

nichtsdesto-TROTZ XXVI,

jedes Kind braucht ein Dorf, um erwachsen zu werden. Gemeint ist das neolithische Dorf der Mütter, das für Heranwachsende eine Welt bedeutet. Das Dorf wurde abgelöst, vereinnahmt und überrollt von gigantischen Zitadellen-Städten der Männer, die zum Wahrzeichen der modernen Naturbeherrschung wurden.

Die Polis der Griechen war in ihren Anfängen noch eine Einheit aus Dorf und Stadt – bevor sie hellenistisch zur Megapolis ausartete.

Unsere Stadt der Zukunft muss eine durchgrünte, atmende Polis mit überschaubaren Proportionen und einnehmenden Wohnungen sein, groß genug für kinderfreundliche Lebenseinheiten, eine Polis, deren Mittelpunkt – ein schattiger Marktplatz – die Menschen zu Begegnungen, Gesprächen und Spielen einlädt.

Was zeichnete die Polis aus? Nur ein langes Zitat aus Mumfords Buch „Die Stadt“:

„Die Entwicklung der Polis brachte viele verheißungsvolle Abweichungen von früheren Megastädten mit sich. Die Griechen hatten sich in gewissem Umfang von den ausschweifenden Phantasien schrankenloser Macht befreit, wie sie die Religion der Bronzezeit und die Technik der Eisenzeit hervorgebracht hatten. Ihre Städte wurden mehr auf menschliches Maß zugeschnitten und von unsinnigen Ansprüchen halbgöttlicher Monarchen mitsamt zugehörigen Zwängen militaristischer Reglementierung und Bürokratie befreit. Die Griechen zerbrachen die starre Einteilung nach Kasten und Berufen, die sich mit der Zivilisation eingestellt hatte. Sie hatten noch die Biegsamkeit und Erfindungsgabe von Amateuren, die nicht bereit sind, einen Großteil ihres Lebens spezialisierten Tätigkeiten zu opfern.

Während sich die Stadt entwickelte, wurden häufig die demokratischen Gewohnheiten des Dorfes in die schon spezialisierten Aktivitäten hineingetragen, sodass menschliche Funktionen und bürgerliche Pflichten ständig wach blieben und jeder Bürger an allen Zweigen des Gemeinschaftslebens vollauf beteiligt wurde. Diese materiell dürftige Kultur, die an vielen Orten kaum über das Existenzminimum hinausging, machte allmählich einer Überflussgesellschaft Platz, da sie für Geist und Seele jungfräuliche Gebiete erschloss, die bisher kaum erforscht worden waren.

Das Ergebnis war nicht nur ein Sturzbach in Drama, Lyrik, Bildhauerei, Malerei, Logik, Mathematik und Philosophie, sondern ein Gemeinschaftsleben, das kraftvoller war und an ästhetischer Ausdruckskraft und vernünftiger Einschätzung alles übertraf, was man bisher erreicht hatte. Innerhalb von zweihundert Jahren entdeckten die Griechen über die Natur und die Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen mehr, als Ägypter oder Sumerer in zwei Jahrtausenden entdeckt zu haben schienen. All diese Errungenschaften konzentrierten sich in der Polis, zumal in der größten dieser griechischen Städte Athen.

In ihrer besten Zeit besaßen die griechischen Poleis keinen großen Überfluss an Waren. Was sie besaßen, war Überfluss an Zeit, also an Muße. Sie waren frei und ungebunden, nicht – wie das heutige Amerika – zu übermäßigem materiellen Verbrauch verpflichtet, sondern immer bereit zum Gespräch, zu Liebesleidenschaft, zu intellektueller Betrachtung und ästhetischem Entzücken.

Der Stolz auf ihre Elastizität und auf ihre Freiheit vom Zwang des Spezialistentums, hatte seine Wurzeln im Dorf. Die dörfliche Demokratie eroberte sich die wachsende Stadt. Auch die dörflichen Maße blieben anfänglich beherrschend. Armut war kein Grund zur Verlegenheit, allenfalls machte sich Reichtum verdächtig. Kleinheit war kein Zeichen von Unterlegenheit. Diese dörfliche Lebensart erfüllte die nachhomerischen Griechen mit Misstrauen gegen Königsmacht und zentrale Herrschaft. Selbst die Götter auf dem Parthenonfries waren von gleicher Statur wie die Menschen. Im 5. Jahrhundert machten sie die Götter sogar lächerlich und verächtlich, indem sie deren Liebestorheiten und Eifersüchteleien herausstellten.

Die Pflege der alten Beziehungen zu Hof und Dorf, dies Aufrechterhalten von Stammes- und Familienzugehörigkeit bedeutete für die Stadt in schwierigen Zeiten eine Quelle der Kraft. An einem heißen Sommertag spazierten Sokrates und Phädrus aus der Stadt hinaus, um in ländlicher Stille im Ilissos zu planschen.

Stadt und Land bildeten in Athen eine Einheit, von gegensätzlichen Lebensweisen konnte nicht die Rede sein.

Als Wohnorte waren die größten Städte nicht viel mehr als übermäßig große Dörfer. So erreichte die athenische Kultur, die höchste der antiken Welt, ihren Gipfel in einem Gemeinwesen, das vom Standpunkt der Stadtplanung beklagenswert rückständig war.

Aus dem Dorf stammten aber auch, was man nicht übersehen sollte, gewisse negative Züge: Misstrauen gegenüber Fremden und Engstirnigkeit, die Kehrseiten des Selbstvertrauens und der Selbstgenügsamkeit.

Und nicht zu vergessen: vom Bauern, nicht vom Adel, stammte das Misstrauen gegen Händler und Bankiers, gegen Makler und Geldverleiher. Gegen alle Leute, die die neue Geldwirtschaft schufen, um Handel und Reichtum zu mehren, Sitten, die sich mit der attischen Armut nicht vertrugen.

Im Zeitalter Solons wehte ein frischer Wind durch die Städte. Vor allem in Attika zerstreuen sich die Nebel des Aberglaubens und der Verwirrung im Licht der Morgensonne, deren Strahlen in die tiefsten Höhlen eindrangen. Der Geist, seines Daseins und seiner Macht bewußt geworden, verfällt in Betrachtungen seines eigenen Bilds. Die Götter mussten sich menschlichen Maßen anbequemen.

Infolge dieser Verwandlung wurde die griechische Polis, zumal Athen, für die Dauer von ein oder zwei Jahrhunderten zum Sinnbild alldessen, was wahrhaft menschlich war. Die frühesten Segnungen der griechischen Kultur erwuchsen aus demokratischen Grundsätzen.

Die Einrichtung der olympischen Spiele bedeutete das Gegenteil eines körperfeindlichen Geistes oder eines geistfeindlichen Körpers. Verachtung des Körpers oder mönchisch-masochistische Freude waren unbekannt.

Die Griechen versuchten, dem städtischen Organismus das Gefühl unmittelbarer Bürgerverantwortlichkeit und Teilhabe zurückzugeben, die es im Dorf gegeben hatte. Man ging davon aus, dass alle Bürger gleich seien, verteilte die Ämter durch das Los und beschränkte die „Amtszeit“ auf höchstens ein Jahr. Dieses System beschnitt den Einfluss reicher Familien, die die Gewohnheit hatten, die öffentliche Macht zum Besten ihrer Sippe auszunutzen.

Das schwerste politische Versagen der griechischen Städte bestand vermutlich darin, dass sie unfähig waren, von der unmittelbaren Demokratie zur repräsentativen Regierungsweise überzugehen.

Athens Ruhm – und vielleicht das Geheimnis seiner 200 Jahre währenden Schöpferkraft – lag darin begründet, dass es sich eine große Schar von Bürgern zu erhalten suchte, die keinerlei Privilegien aus dem Rang ihrer Familien, ihrem Reichtum oder ihrer berufliche Stellung herleiteten.

Die Griechen fügten der Stadt eine neue Komponente ein, die früheren Kulturen so gut wie unbekannt war und jedem System willkürlicher oder geheimer Macht gefährlich war: sie schufen den freien Bürger. Dieser war sein eigener König, wenn nicht sein eigner Gott. Er handelte autonom und suchte mit seinem Verstand „eine Hand zu erheben über sein Schicksal.“

Niemand schuldete etwas einer Fürstengunst oder einer einflussreichen Stellung. Jeder nahm den Platz ein, der ihm einst in der dörflichen Kultur gehört hatte: vor allem war er Mensch und ausgestattet mit allen menschlichen Gaben, denen jeder Bereich des Lebens offenstand.

Die Häuser der Reichen lagen direkt neben denen der Armen. Abgesehen von ihrer Größe und Innenausstattung waren sie kaum unterschieden. Im frühen 5. Jahrhundert galt edle Armut mehr als schändlicher Reichtum, öffentliche Ehrungen und Ansehen der Familie zählten mehr als privater Wohlstand.

Der griechische Bürger war arm an Komfort und Bequemlichkeit, aber reich an einer Fülle von Erfahrungen, denn es war ihm gelungen, viel materiellen Zwang der Zivilisation zu vermeiden. In den meisten Berufen arbeitete der Freie neben dem Sklaven, der Arzt wurde nicht besser bezahlt als der Handwerker. Alles, was Menschen taten, konnte inspiziert werden, auf dem Marktplatz so gut wie in der Werkstatt, im Gericht so gut wie im Stadtrat oder Gymnasium.

In zwei Männern wird das neue Ideal der Ganzheit und Ausgewogenheit, des Gleichmaßes und der Selbstzucht leibhaftig: Sophokles und Sokrates. Nicht zufällig war jeder auf seine Weise ein Meister des Dialogs.

Sophokles war das Gegenteil des Spezialisten, des verkrüppelten, torsohaften Menschen, den die Zivilisation prägte. Er war in jeder Umwelt zu Hause, fähig, jede Lage zu meistern, immer bereit, die moralische Verantwortung für seine Entscheidungen zu übernehmen, mochte auch die ganze Polis gegen ihn stehen.

Sokrates lebte gleichmäßig nach innen und nach außen. Er verstand sich genauso gut auf einsame Versunkenheit wie auf endloses Forschen im Gespräch. Von Beruf war er Steinmetz, seine Eltern waren Werktätige, der Vater ebenfalls Steinmetz, seine Mutter Hebamme.

Die Verantwortung für das Gemeinwesen wurde Königen und Tyrannen weggenommen und einfachen Bürgern übertragen, die abwechselnd die Ämter ausübten. Fast jeder athenische Mann hatte früher oder später als Mitglied der Ekklesia (Volksversammlung, im Christentum zur „Kirche“ deformiert) am öffentlichen Leben teilzunehmen und dafür zu sorgen, dass die Beschlüsse der Versammlung ordnungsgemäß ausgeführt wurden.

Auch die Teilnahme an musischen Veranstaltungen gehörte zu den bürgerlichen Tätigkeiten. Jedes Frühlingsfest brachte einen Wettstreit zwischen Tragödiendichtern.

Eine Zeitlang waren Stadt und Bürger eins, kein Teil des Lebens schien ihrem schöpferischen Wirken entzogen zu sein. Die Erziehung des ganzen Menschen hat in keinem Gemeinwesen von solcher Größe ihresgleichen gefunden.

Niemals erreichte die Idee der Stadt, die in Sokrates und Sophokles Gestalt angenommen hatte, eine höhere Stufe der Verwirklichung.

Niemals war das Leben der Menschen in der Stadt so bedeutungsvoll ausgefüllt, so abwechslungsreich und lohnend gewesen, niemals hatten äußerer Zwang und bloße Mechanik das Leben so wenig beeinträchtigt wie in jener Epoche. Arbeit und Muße, Theorie und Praxis, privates und öffentliches Leben standen in rhythmischer Wechselwirkung, während Kunst, Leibesübungen und Musik, Gespräch und Philosophie, Politik, Liebe, Abenteuer und sogar Krieg alle Seiten des Daseins erschlossen.

Das Tempelritual erweiterte sich zur Tragödie, Neckereien und Späße wurden zur Komödie. Philosophische Versammlungen wurden zu einer neuen Art Schule, einer wahren Universität, worin die Wissenschaft soziale Verantwortung lernte und sich einem Sittengesetz verpflichtete, das selbstkritisch und vernünftig geworden war.“ (verstreute Zitate aus Mumford, Die Stadt)

Was fehlt? Die Beantwortung der Frage: wenn die Polis so exzellent war, welche Gründe führten dann zu ihrem Untergang? Mumford hat die Verfallsgründe nicht unterschlagen, sondern sorgfältig untersucht und analysiert. (Darüber ein andermal.)

Wollen wir unsere heutige Demokratie vor Verwahrlosung retten, bleibt nur eins: wir müssen sie mit der athenischen Polis Punkt für Punkt vergleichen. Hier helfen keine vereinzelten Schönheitsretuschen mehr, hier hilft nur eine penible Überprüfung aller Aspekte vom Punkte Null an.

Die heutige Demokratie muss werden, was einst die griechische Philosophie lehrte: eine Einheit aus Natur und Kultur und ein Gemeinwesen von Freien und Gleichen, in der Menschen in Frieden mit ihren Brüdern und Schwestern der ganzen Welt leben.

Diese Utopie ist kein despotischer Himmel auf Erden, sondern die Realisierung der praktischen Vernunft, nicht mit Hilfe von Gewalt, sondern mit unwiderlegbaren, dem Leben dienenden Argumenten.

Die Stadt der Zukunft ist eine prächtige Gartenstadt mündiger Wesen.

Fortsetzung folgt.