Kategorien
Tagesmail

nichtsdesto-TROTZ XXV

Tagesmail vom 02.06.2021

nichtsdesto-TROTZ XXV,

die Deutschen schwärmen ins Weite. Die Zeit der Fron neigt sich dem Ende zu. Die Arbeit des langen Jahres ist nur erträglich durch den Lohn eines kurzen Urlaubs – in der Fremde. Da, wo sie leben und sind, ist Plackerei und Verdrießlichkeit. Aber am Horizont, weit hinten auf den Inseln des Mittelmeers (die nicht Moria heißen dürfen), suchen sie, was Experten als Glück bezeichnen.

Glück ist in Deutschland ein Begriff mit migrantischen Wurzeln. Eingewandertes Glück wird hierzulande mit Misstrauen betrachtet. In Tarifverträgen wird Glück als Lohn der Arbeit totgeschwiegen. Nur wenn Arbeit pausiert, darf Glück gesucht werden.

Nicht aber vor der Haustür. Dafür sorgen Monsterbauten, Autoraserei und Abwesenheit jeglicher Natur. Welchen Erholungswert deutsche Wohnungen besitzen, hat Corona recherchiert und entlarvt: höchstens für den Feierabend, um abzuschalten. Wenn Maschinen abgeschaltet sind, werden sie funktionsunfähig.

Bei abgeschalteten Maschinen hilft nur die Kurzformel: ich muss los. Dann, nach einigen Wochen kommt die tröstliche und erschreckende Nachricht: erst in Neuseeland fanden wir Freiheit. Arbeit und heimatliche Geselligkeit vertragen sich nicht, Menschsein in vertrauter Umgebung ist eine Fata Morgana.

Über zwei Ereignisse wird medial nicht oder kaum berichtet: über die Selbstmordquote derer, die ihre Welt nicht ertrugen und über die Quote der Auswanderer, die ihre Heimat nicht ertrugen und Glück dort suchen, wo sie nicht sind – weit hinter dem Horizont.

Urlaub ist die Abwesenheit einer Person von ihrer ausgeübten Tätigkeit zum Zwecke der Erholung. Bei einem Arbeitsverhältnis ist der Urlaub als der Zeitraum definiert, in dem arbeitsfähige Arbeitnehmer, Beamte oder Soldaten – meist unter Fortzahlung des Arbeitsentgelts – von der Arbeitspflicht zur Erbringung von Arbeitsleistungen befreit sind.“

Ist eine externalisierte Glückswelt die erwünschte Post-Corona-Welt?

Wo bleibt der Wettbewerb um die humanste Zukunft?

Wo bleiben die Utopien – die derer spotten, die sie für Höllen auf Erden halten, weil sie reale Vernunft nicht von Himmelsvisionen unterscheiden können?

Was wir brauchen? Eine Muße-Gesellschaft!

Was, eine Gesellschaft für Faulenzer, Müßiggänger, Hartz4- Schmarotzer und Grundeinkommen-Parasiten? Wo bleibt da unsere Wettbewerbsfähigkeit? Deine Utopien sind der Untergang des Abendlands. Weiche von mir, du Satan in der Maske eines Menschheitsbeglückers.

Okay, erst abrüsten und zuhören, Gutester. Traust du dir das ausnahmsweise zu? Danach gehen wir in den Clinch. Also setzen und die Ohrwascheln aufmachen.

Muße hab ich gesagt und nicht Müßiggang. Alle Begriffe der Heiden haben die Frommen begierig übernommen – und deformiert. Wir leben in zwei Kulturen, in denen die eine der anderen das Blut absaugt – aber immer in perfekter Nächstenliebe.

Müßiggang ist aller Laster Anfang: das war der heidnischen Lebensfreude eins reingewürgt. Muße aber ist schole, woher das deutsche Wort Schule kommt.

Wie bitte, das ganze Leben ein Schulaufenthalt? Ohne mich, meine 13 Jahre unter der Knute haben mir gereicht. Und tschüss.

Stopp, Meister, sitzen bleiben und Klappe halten, hab ich gesagt. Ist das etwa deine vielgerühmte Diskursfähigkeit?

Also, gehen wir erst über die Dörfer. Ah, da vorne sehe ich Ernst Curtius. Ich glaube, er hat Interessantes zu sagen:

„Die Bildung eines Menschen beurteilen wir danach, wie er seine Muße genießt. Die richtige Teilung zwischen Arbeit und Muße bleibt eine der höchsten Aufgaben der Lebenskunst, welche man nie zu Ende lernt.“ („Arbeit und Muße“ 1875)

Das schrieb er, als die Deutschen ihr erstes Wirtschaftswunder zustande brachten. Na klar, Herr Professor war ein Bewunderer der Griechen!

Was Muße ursprünglich war?

„Uns pflegt die Muße inmitten der Arbeit als eine erquickende Pause zu erscheinen; den Griechen erschien sie als der normale Zustand, für den Begriff der geschäftigen Arbeit hatten sie den Begriff Unmuße (ascholia).“

Also stimmt es, dass die Griechen arbeitsscheu waren?
Arbeitsscheu? Dann sag mir mal, von wem das Wort stammt:

„Keinerlei Arbeit ist Schande; nur Nichtstun ist Schande.“

Wenn du so fragst. Nun sag schon!
Von Hesiod, einem der wichtigsten Dichter der Griechen.

Ein moderner Kommentator schreibt dazu:

„Unter den Menschen soll das Recht herrschen. Deshalb soll sich der Mensch seinen Lebensunterhalt nicht mit Gewalt zu verschaffen suchen, sondern auf dem Weg redlicher Arbeit. Der Nichtarbeitende gleicht den Drohnen im Bienenstand. In Vermeidung von Gewalt und Unrecht, in rechtlichem Handeln, fleißiger Arbeit und redlichem Erwerb besteht die Tüchtigkeit (arete), die einem nicht in den Schoß fällt, sondern zu der es in harter, aber auch von Erfolg gekrönter Anstrengung sich durchzuringen gilt.

„Weit und steil ist der Pfad, der zu ihr führet den Wandrer
Und gar rauh im Beginn; doch hat er die Höhe gewonnen,
Geht es sich leicht darauf hin, war auch beschwerlich der Anstieg.“ (Hesiod)

Arbeit ist nicht immer leicht, aber sie macht unabhängig. Selbstbestimmte Arbeit gibt den Menschen Zuversicht und Selbstvertrauen.

Als es den Reichen und Mächtigen gelang, die Bauern ins Verschulden zu treiben, indem sie ihnen Geld liehen, weil deren bebautes Land nicht mehr ausreichte, um sie zu ernähren, begann – der Kapitalismus.

Jetzt übertreibst du! Kapitalismus! Marx spricht von Wundern des Kapitalismus, die er anhimmelte. Wo waren die technischen Wunder der Griechen?

Gut, dass du diesen Punkt ansprichst. Man kann ein bewunderter Kapitalismuskritiker sein und dessen autonom-moralischen Kern dennoch missverstehen. Marx bewunderte den Schönheitssinn und die Kunst der Griechen, die Erfindung des Kapitalismus aber wollte er ihnen nicht zugestehen. Der musste dem bombastischen Fortschritt vorbehalten bleiben, sonst hätte Marx keine linear aufsteigende ökonomische Heilsgeschichte entwickeln können, die eines Jüngsten Tages ins Paradies führen würde, in der alle Arbeit von Maschinen geleistet wird.

Nicht Geldfluten, nicht technische Errungenschaften, nicht das anschwellende Elend der Abhängigen sind Wesensmerkmale des Kapitalismus, sondern – hör zu – die erste unmoralische Tat eines Reicheren, mit der er einen Ärmeren über den Tisch zieht. Er wird reicher, der andere wird ausgenommen.

Eine Tauschgesellschaft muss noch nicht kapitalistisch sein. Das ereignet sich erst, wenn der Überlegene den Tauschpartner übers Ohr haut. Er wird immer reicher, sein Partner bleibt auf der Strecke. Dabei muss es nicht um raffinierte Hedge Fonds, undurchschaubare Bankengeschäfte und sonstigen Plunder gehen, mit dem man die Schwachen immer weiter schwächt. Es geht um – doch hör selbst:

„In der Urzeit demokratischer Anfänge, vollzog sich der Sturz der Adelsherrschaft und die Bildung der Polis, was nicht ohne schwere Kämpfe abgeht. Damit begannen grundsätzliche Veränderungen auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet. Das Geld wird erfunden. Der Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft führt vielfach zur Verschuldung, ja Versklavung der Kleinbauern, damit zur Erhebung gegen die adligen Großgrundbesitzer. Neben die Agrarwirtschaft tritt der Seehandel, der das städtische Bürgertum zu Macht und Wohlstand führt. Es begann die Klassengesellschaft der immer Reicherwerdenden über die immer Ärmerwerdenden. Keine vornehme Abstammung, sondern der Reichtum an mobilem Besitz wird ausschlaggebend für Geltung und Ansehen. „Das Geld, das Geld macht den Mann.““ (Nestle)

Bei Homer gab es noch einen „naturwüchsigen“ Dualismus aus heroischen Adligen und einfachen Bauern. Erst mit der Geldwirtschaft kommt es zur wachsenden Kluft zwischen expansiven Kaufleuten und statischen Landwirten. Die Zufriedenen wurden von grenzenlos Gierigen überrundet und in die Pfanne gehauen. Die Klassengesellschaft verlor ihr aristokratisches Gesicht und wurde zur ordinären Gesellschaft der immer Reicherwerdenden und der immer Elenderwerdenden.

Die alte Gesellschaft war eine ökonomische Bedarfsdeckungsgesellschaft, die nur ein Ziel kannte: zu überleben und gut zu leben, Punkt. Das neue Prinzip nannte der scharfsinnige Aristoteles chrematistisch.

„Der Begriff wurde von Aristoteles geprägt, der zwischen Ökonomik (Hausverwaltungskunst) und Chrematistik (Kunst des Gelderwerbs) unterscheidet. Die Ökonomik beschäftigt sich mit der Beschaffung und Bewahrung jener Güter, die für das Haus oder den Staat nützlich und notwendig sind. „In diesen Dingen besteht ja auch wohl einzig der wahre Reichtum.“ (Aristoteles)

Oikos ist das Haus. Oikonomia will nichts anderes, als das Haus gut über die Runden zu bringen. Wirtschaft hat den natürlichen Bedürfnissen des Sattwerdens zu dienen. Das war‘s. Die Chrematistik hingegen löst sich aus dem Zusammenhang endlicher Bedürfnisse und will immer reicher werden. Reichwerden an sich wird zur grenzenlosen Gier erhoben, die keine endlichen Bedürfnisse mehr erkennt.

Diesen Unterschied lernte Marx von Aristoteles, dennoch verweigerte er den Griechen das Prädikat einer kapitalistischen Gesellschaft. Obgleich sein Dogma lautet: jede Klassengesellschaft ist kapitalistisch. Nach der homerischen Epoche hatten die Griechen sich rasant in eine ökonomische Klassengesellschaft verwandelt.

Die Gründe nennt Iring Fetscher in seinem Aufsatz „Karl Marx und die Antike“: „Wenn es auch in der Antike schon Schatzbildung, Anhäufung von Geld und Waren in einer Hand gab, so diente diese Anhäufung doch nicht, wie im späteren Kapitalismus, der Intensivierung und Verwandlung in neues Kapital. Die Alten dachten nicht daran, das Mehrprodukt in Kapital zu verwandeln.“

Mit anderen Worten: die Griechen waren noch nicht grenzenlos gierig auf Mehr und immer Mehr.

Was machten sie denn mit ihrem wachsenden Reichtum? Sie werden es doch nicht den Armen gespendet haben, oder?

Sie machten mit ihrem Geld etwas, was Marx ihnen nicht „vergeben“ konnte. Sie waren keine endlosen „Reichtumsakkumulateure“ und nimmersatte Ausbeuter der Armen – wie die Christen der Moderne.

„Den größten Teil ihres Profits verwandelten sie in unproduktive Ausgaben für Kunstwerke und öffentliche Arbeiten. Noch weniger war ihre Produktion auf Entfesselung und Entfaltung der materiellen Produktionskräfte gerichtet. Als da sind: Teilung der Arbeit, Entwicklung der Maschinerie, Anwendung von Naturkräften und Wissenschaft zum Zweck der Privatproduktion.“

Mit anderen Worten: die Griechen verfielen nicht dem Wahn eines endlosen wissenschaftlichen und technischen Fortschritts und eines nicht zu befriedigenden immer Reicherwerdens. Das war, nach Marx, eine Dummheit der Griechen, die mit dem Wissen zur Macht des Abendlands nicht mithalten konnten.

Theologisch könnte man, aus der Sicht von Marx, von einer fehlenden Gottähnlichkeit der Heiden sprechen. Trotz Religionskritik blieb Marx im Bann der christlichen Heilsgeschichte. Mit der Aura christlicher Gotteskinder konnten es primitive Heiden nicht aufnehmen.

Okay, ihr Schönheitsfimmel war ja ganz lustig. Aber deshalb nichts wissen zu wollen von der grenzenlosen Gottebenbildlichkeit des Fortschritts und der gigantischen Beherrschung der Natur: das verzieh der angebliche Griechenfreund Marx den Schönen, Guten und Wahren nie.

Vor allem den Guten. Das war der schärfste Vorwurf von Marx an die Griechen: Wirtschaft beurteilten sie nach moralischen Grundsätzen und übersahen, dass Kapitalismus ein moralfreies Naturgesetz war, das man mit Tugenden nicht in den Griff bekam. Man musste die Struktur des kapitalistischen Werdens verstehen, dann verstünde man auch das Gesetz des revolutionären Ziels der Geschichte – die seltsamerweise identisch war mit der christlich-jüdischen Heilsgeschichte, die eines fernen Tages ins Paradies für die Erwählten und in die Verdammnis der Verworfenen führen würde. Nein, Ausbeuter waren keine Bösen, die Elenden keine Tugendbolde. Naturgesetze sind immun gegen moralische Normen, Moralpredigten können invariante Gesetze nicht herumkommandieren. Hier hilft nur eiskalte Erkenntnis der Gesetze und ihrer determinierten Wirkung auf die Menschen.

Marxens eigene Worte sind entlarvend:

„Die Heiden, ja die Heiden! Sie begriffen nichts von politischer Ökonomie und Christentum. Sie begriffen nicht, dass die Maschine das probateste Mittel zur Verlängerung des Arbeitstages ist … dazu fehlte ihnen das das spezifisch christliche Organ.“

Man höre und staune: der Religionskritiker verehrte das Christliche am Kapitalismus. Wie verträgt sich das mit der Entdeckung ökonomischer Naturgesetze, wenn Kapitalismus im Grunde ein christlich-heilsgeschichtlicher Vorgang war?

Auch die Proletarier werden von Marx in genauer Analogie mit den Christen charakterisiert: „Selig sind die Leidtragenden, denn sie werden getröstet werden.“

Wie Christen nicht in das Gesetz der Heilsgeschichte eingreifen und nach Belieben das Wiederkommen des Herrn befehlen können, so sind Proleten unfähig, autonom über den rechten Zeitpunkt der Revolution zu bestimmen. Die einen müssen beten und hoffen, die anderen dem „Prinzip Hoffnung“ folgen, wie Ernst Bloch sein Hauptwerk nannte.

Marxismus ist nichts anderes als ein in der Wolle gefärbter christlicher Glaube an eine vorherbestimmte Heilsgeschichte, deren Gesetzen die Menschen hilflos ausgeliefert sind.

Kapitalismus ist nicht moralisch zu bewerten, geschweige zu korrigieren oder gar aufzuheben. Er folgt unberührbar „göttlichen“ Gesetzen, denen man sich nur passiv unterwerfen kann.

Das war eine parallele Entmündigung des Menschen zu willenlosen Geschichtsuntertanen – im Christentum wie im Marxismus. Wundert es jemanden, dass die heutigen Linken schleichend immer frömmer werden?

In ihrem neuen Buch findet Sahra Wagenknecht kein einziges Wort zu den Themen Religion, Geschichte als Heilsgeschichte, Entmündigung des Menschen zu Geschichtsmarionetten.

Hello, mein Freund, kann es sein, dass du leicht vom Thema abgekommen bist? Wolltest du nicht über Muße reden? Was haben Marx und Christentum mit Muße zu tun?

Alles. Muße hat mit Kapitalismus zu tun. Wer Muße definieren will, muss sich um eine humane Wirtschaftsform bemühen. Im Kapitalismus kann es keine Muße geben. Weder für die Reichen, die der christlichen Vorschrift folgen müssen: Kaufet die Zeit aus; geschweige für die Armen, die lebenslang abhängig sind. Muße aber ist autonome Zeitgestaltung.

Solange Menschen von anderen Menschen abhängig sind, bleiben sie – streng genommen – deren Sklaven. Die Situation der Sklaven in Athen war vergleichsweise menschlich – abgesehen von den unwürdigen Umständen der Bergwerkssklaven. Sie lebten zumeist inmitten der Familie und hatten durchaus Chancen, in Freiheit entlassen zu werden.

Aristoteles würde die Milliarden Abhängigen des modernen Kapitalismus bedenkenlos – Sklaven nennen. Ihr Leben lang bleiben sie abhängig von Reichen, welche sie mit allen Tricks  ausnehmen. Nur im Urlaub und Rentenalter sind sie äußerlich frei. Den Urlaub müssen sie in eine Freiheitsorgie hochjubeln, im Alter sich bemühen, das Gefühl der Nutzlosigkeit zu überwinden.

„Der Unfreie, sagt Aristoteles, hat keine Muße. Für ihn gibt es nur Arbeitszeit und Arbeitspause. Sie ist das höchste aller Güter, das wahre Leben, weil sie allein freie Verfügung über Zeit und Kraft gestattet. Das aber muss gelernt sein. Denn der Muße muss ein würdiger Inhalt gegeben werden, sonst geht der Mensch an ihrem Missbrauch zugrunde. Muße ist auf keinen Fall Nichtstun oder Faulenzen. Sie soll freie Bestimmung über die eigene Zeit sein. Muße hat das Eigentümliche, dass sie durch keinerlei äußeren Bedürfnisse hervorgerufen wird, sondern eine vollkommen freiwillige, selbstgewählte und freudige, keineswegs launenhafte und regellose Tätigkeit ist, dass sich alle geistigen und körperlichen Kräfte harmonisch entfalten.“ (Curtius)

Die Kunst, in freier Tätigkeit seinen Charakter zu entwickeln, war der Grund, warum es den Athenern gelang, ihre Polis zum strahlenden Mittelpunkt der Kunst und Philosophie zu erheben.

„Von dem Maß der Muße macht Aristoteles die phänomenale Entwicklung Athens abhängig, indem die Bürger mit kühnem Selbstbewusstsein über den Notbedarf des Lebens hinausgingen und jeder geistigen Anregung folgten. Mit ihrer Muße des klugen Gleichgewichts ihrer Kräfte gelang es den Athenern, das Schöne ohne Verweichlichung zu lieben, mit dem offenen Sinn für Wissenschaft und Kunst die pflichttreue Arbeitsamkeit des Bürgers zu verbinden.“ (ebenda)

Der beste Inhalt der Muße war philosophische und politische Betätigung. Für Bauern war es ein großes Problem, die zeitintensive Politbetätigung in der Stadt mit ihren landwirtschaftlichen Pflichten zu vereinbaren. Weshalb Perikles auf die Idee kam, den politisch Aktiven Tagesgelder (Diäten) zukommen zu lassen. Ohne diese Diäten hätten die Bauern sich nicht politisch engagieren können.

Sich politisch betätigen ist heute zeitlich aufwendig. Vielleicht mehr als in Athen.

Doch der Kapitalismus schert sich nicht um zeitliche Pflichten demokratischen Tuns seiner Lohnabhängigen. Im Gegenteil, wer zu viel Zeit für außerbetriebliche Betätigungen aufwendet, macht sich verdächtig.

Nicht anders bei Müttern, die, äußerlich gesehen, am meisten selbstbestimmte Zeit hätten, um – mit oder ohne Kinder – sich um das Gemeinwesen zu kümmern. Doch gnadenlos werden sie zu unpolitischen Heimchen am Herd reduziert.

Wehe, sie würden sich den Luxus politischer Betätigung gönnen. Dann wären sie als arbeitsflüchtige Müßiggängerinnen endgültig abgeschrieben. Um der Diskriminierung zu entgehen, flüchten die Mütter, anstatt sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen und sich gegenseitig zu unterstützen, in depressive Selbstüberlastungen. Dem Gesetz des Kapitalismus müssen sie treu bleiben: jeder für sich, niemand unterstützt niemanden, alle haben sich zu lösen von eben den Menschen, mit denen sie am meisten verbindet. Jeder muss zum fungiblen Rädchen der Megamaschine werden. Wer das nicht schafft, wird aussortiert.

Im Mittelalter wurde die Muße der Heiden zur mönchischen Regel Benedikts: Ora et labora, bete und arbeite. Wie immer, wurde die Übernahme einer freien Vernunftdevise ins Gegenteil eines göttlichen Gebots deformiert. Gottes eiserne Regeln verwandelten das Kloster endgültig in eine göttliche Maschine, die zum Vorbild der gesellschaftlichen Megamaschine wurde. Oder mit den Worten Mumfords:

„Der freiwillige Verzicht des Mönchs auf seinen eigenen Willen kam jenem gleich, den die frühere Megamaschine ihren menschlichen Bestandteilen aufgezwungen hatte. Die christliche Kirche ergriff mit ihrer ganzen Autorität Partei für die auf Macht versessenen Kräfte: Absolutismus, Militarismus und Kapitalismus.“

Max Weber irrte: nicht der Calvinismus war der Begründer des modernen Kapitalismus, sondern der früheste Katholizismus, der Europa ein heiligmäßiges, natur- und menschenausbeutendes Wirtschaftssystem lieferte. Soli Deo Gloria.

Wenn die Deutschen eine humane Wirtschaft wollen, müssen sie die herrschende bis zu ihren frühesten Wurzeln ausgraben – und eine Ernährungsweise entwickeln, die allein dem endlichen Bedarf und einem Leben in Muße gewidmet ist. Wer sich seiner Grenzen bewusst ist, kann Frieden schließen mit der Natur und in konkurrenzloser Eintracht mit allen Menschen und Völkern leben.

Die Megamaschine des endlosen Fortschritts und der unersättlichen Begierde muss geschleift werden. Besser jetzt als morgen. Nur eine Welt der Muße wäre eine lebenswerte und überlebensfähige Welt.

Fortsetzung folgt.