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nichtsdesto-TROTZ XXIX

Tagesmail vom 11.06.2021

nichtsdesto-TROTZ XXIX,

„Wir müssen uns fragen, warum wir so sehr im Heute und für das Heute leben“, sagte die Kanzlerin.

Eine treffliche Selbstbeschreibung ihrer Morgen-morgen-nur-nicht-heute-Politik.

Wer nicht für das Heute sorgen will, kann sich das Morgen ersparen. Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle stummen Leute – die weder der Gegenwart noch der Zukunft mächtig sind.

Wer nicht für das Heute sorgen will, wird kein Morgen erleben. Heute wird ihn die Zukunft in Angst und Schrecken versetzen. Junge Menschen fühlen sich von den Erwachsenen im Stich gelassen. Sie wurden in die Welt gesetzt, um zu beweisen, dass sie allein die Welt bändigen können – in krassem Widerstand gegen ihre Erzeuger.

Löst euch von euren Helikopter-Eltern, die nie daran dachten, eure Zukunft zu sichern, um eure Gegenwart angstfrei zu machen. Warum hängt ihr so sentimental an euren Erzeugern, die ihr mit ihren Versagensgefühlen nicht allein lassen könnt?

Habt ihr etwa die Rollen getauscht? Seid ihr zu Tröstern eurer Erzieher geworden?

„Morgen sind wir eh alle tot, so kann man jedenfalls nicht auftreten. Ich meinte eher die weitere Zukunft: den Klimawandel. Da bin ich absolut pessimistisch. Ich glaube, das bekommen wir nicht hin. Da arbeiten so viele gegeneinander. Ich erkenne bei den Menschen keine Ambitionen, was zu ändern.“ (Berliner-Zeitung.de)

Spricht eine Tochter zu ihrer Mutter. Die Ängste der Jugendlichen bleiben im Verborgenen. Niemand will sie hören, schon gar kein Politiker. Kein TV-Brennpunkt, wo sie ihre Gefühle der Kanzlerin ins Angesicht mitteilen könnten.

Morgen ist die Hoffnung der Frommen – die das Heute als Zeit des Verderbens betrachten.

„Morgen ist ein Fest für den Herrn.“

„Morgen, wenn die Sonne heiß scheint, soll euch Hilfe werden.“

Wir müssen uns um die Zukunft kümmern, damit wir das Hier und Jetzt sichern können. Die Zeiten dürfen nicht gegenseitig ausgespielt werden. In die Zukunft zu blicken, um die Vergangenheit zu verdrängen, ist der Tod der Gegenwart.

Hic et Nunc ist der Kern aller Zeiten, der ewige Tag, der nicht vergehen soll, weil er die Zeit des erfüllten und heiteren Lebens bedeutet.

Als mittelalterliche Theologen das Hic et Nunc entdeckten, war ihnen nicht klar, dass sie zur heidnischen Zeit zurückkehren und dem Warten auf den Jüngsten Tag den Abschied geben wollten. Ob sie wollten oder nicht: das Zeitgefühl der Heiden hielt Einzug:

Pietro Pomponazzi stellte mit der Wendung in seiner Abhandlung über die unsterbliche Seele die Forderung auf, sich um die Gegenwart zu kümmern, da es seiner Auffassung nach keine unsterbliche Seele gibt. Der Mensch solle sich nicht für das Jenseits vorbereiten, sondern in diesem Leben und sofort für eine moralisch bessere Welt einsetzen.“

Das Hier und Jetzt wurde zur Rettung der irdischen Zeit. Doch so schnell war die religiöse Hoffnung auf ein paradiesisches Finale der Heilszeit nicht unterzukriegen. Die Hoffnung verwandelte untätiges Warten in eine selbsterfüllende Prophezeiung. Das Morgen wurde zum Fortschritt, der kein angebbares  Ziel kennt.

Seitdem geht die Fahrt ins Endlos-Ungewisse. Eine rationale Utopie darf es nicht geben. Eine Überprüfung der endlosen Hatz gibt es nicht, denn das ewige Werden zerstört alle Koordinaten eines definierten Ziels.

„So wachet nun (denn ihr wißt nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob er kommt am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder des Morgens), auf daß er nicht schnell komme und finde euch schlafend. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!.“

Für die Griechen war der Schlaf etwas Heiliges, für die Frommen ein Zeichen des Versagens.

„Der Schlaf, des Todes Bruder, war der Antike heilig. Für Sokrates war der Tod kein Übel, sondern etwas Gutes. Entweder ein Zustand wie ein traumloser Schlaf oder der Zugang zu einem besseren Leben. Nicht als Geschenk von Göttern, sondern als Teil der Natur. „Der Tod ist ein notwendiger Naturvorgang, der als solcher nichts Schreckliches hat.“ (Nestle)

In der abendländischen Geschichte wird Tod zu einem Übel, das man mit allen Mitteln bekämpfen muss. Denn wer nicht wach sein kann, der verrät den Herrn:

„Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.“

„Zudem sollten die Gläubigen im Bett gefälligst nichts anderes tun außer zu schlafen, aber selbst das bitte nur in Maßen. Schließlich war der Mensch aus dem Paradies verbannt worden, um auf Erden durch Arbeit seine große Schuld zu begleichen. Wer übermäßig schlief, galt als Faulpelz und damit als Sünder. Mit Beginn der Industrialisierung geriet der Schlaf gar zum überflüssigen Störfaktor. Nachdem Maschinen erfunden worden waren, die weder Pausen noch Schlaf brauchten und rund um die Uhr arbeiten konnten, erkannte man den menschlichen Makel, der den Produktionsprozess unnötig lähmte: Er wurde müde. Dem wurde im 19. Jahrhundert allerdings wenig Rechnung getragen. Um die Mitte des Jahrhunderts hatte die Arbeitswoche in Deutschland rund 80 Stunden und auch Kinderarbeit war an der Tagesordnung.“ (Schlafen-aktuell.de)

Kapitalismus ist schlaflose Zeit. Wer schläft, arbeitet nicht und macht keinen Profit. Kaufet die Zeit aus: ist das Todesurteil des Schlafes. Der Mensch ist nicht zu seinem Vergnügen auf Erden, sondern um des unermüdlichen Erwerbs willen. Arbeit war Strafe für die Sünde; unermüdlich musste der Mensch im Schweiße seines Angesichts malochen, um rund um die Uhr die Sünde zu bekämpfen.

Die immer rasanter werdende Bewegung der Zeit ins Numinose ist das einzige Aufputsch-Mittel, um Einschlafen zu verhindern. Eine Menschheit, die ausruhen und schlafen dürfte, wie es ihrem Bedürfnis entspräche, hätte den Zustand der Utopie erreicht. Das wäre der Triumph der Natur über alle Anmaßungen des Himmels. Doch solche heidnischen Utopien sind christlichen Nationen verboten.

Warum wären Roboter die idealen Arbeiter? Weil sie nie schlafen müssen. Das Ziel der Menschen muss es sein, zu scheinlebendigen Robotern zu werden, die weder Müdigkeit noch das Bedürfnis nach Ruhe kennen.

Nur, wenn Krisen kommen, beginnt die Suche nach dem Sinn des Lebens. Plötzlich hat man Zeit und weiß nichts mit ihr anzufangen. In normalen Hetz-Zeiten gibt’s keine Sinnsuche.

Denn der Sinn des Daseins ist Besinnungslosigkeit, Geistesabwesenheit, Vergangenheitsleugnung und Gegenwartsflucht. Plötzlich hat man Zeit, die man nie haben wollte. Was anfangen mit dieser verseuchten Gabe der Krise?

„Doch so ganz will sie nicht weggehen, diese Sehnsucht und Suche nach Sinn, nach Transzendenz und nach Spiritualität. Nicht einmal in den westlichen Gesellschaften, die sich als besonders aufgeklärt verstehen. Die Religion kommt zurück, allerdings in ganz eigener Gestalt, in neuen Formen, losgelöst von den Institutionen. Wir leben in einer Zeit, die sich als so säkularisiert versteht wie keine zuvor, in der aber gleichzeitig religiöse Symbole, Praktiken und auch Konflikte präsent sind wie nie. Aber warum tun sich Leute, die religiös praktizieren, eigentlich so schwer damit, sich auch als religiös zu bezeichnen? Auch wenn viele es nicht so bezeichnen würden, machen sie eigentlich eine religiöse Erfahrung, die ihnen Kraft gibt, Ruhe verschafft, Sinn stiftet. Spiritualität, Mystik und Transzendenz – wenn man sie in ihrer Vagheit ernst nimmt – bringen immer beides zusammen: Ordnung und Chaos, Halt und Abgrund, Ewigkeit und Endlichkeit und ja, auch: Gut und Böse.“ (ZEIT.de)

Da haben wir es wieder: das Erbe der deutschen Bewegung. Gut und Böse werden zur Einheit, wer Böses tut, ist ein Guter. Lasst die Fetzen fliegen, ihr Deutschen, ihr bleibt die Besten.

Da haben wir sie wieder: die deutsche Sehnsucht nach dialektischer Versöhnung aller Widersprüche – merkwürdigerweise nur in Krisenzeiten, wo der Wirtschaftsprozess ins Stottern kommt. Sonst wäre es Sünde wider das BIP, sich der Suche nach Sinn hinzugeben.

Wenn Maschinen im Höchsttempo sirren, gibt es keine unerfüllten Bedürfnisse. Das Anhäufen von Gütern, die Zerstörung der Natur, die akkumulierenden Probleme des Klimas vergüten die Ruhelosigkeit in Heller und Pfennig.

Ruhelosigkeit, Gier, die Jagd nach dem Unerreichbaren, die wachsenden Müllberge und das Gefühl der gottgleichen Macht: all dies muss die beschädigte Lust am Leben mit Schrott ersetzen. Homo laborans wurde zum nie stillstehenden Rädchen der Gesamtmaschine Natur.

Suche nach Sinn ist – Religion. Versteht sich von selbst. Mit einem Nebensatz wird das Aufgeklärtsein der Gesellschaft abgeräumt. Zur Aufklärung fällt religiösen Sinnsuchern in diesem Lande nichts mehr ein. Vernunft ist abgehakt.

Den Unterschied zwischen Kant und den Romantikern kann man niemandem erklären, der noch nie von der Unvereinbarkeit zwischen Denken und Glauben gehört hat. Die Deutschen kennen nur Probleme mit Negativzinsen oder der schwarzen Null, geistige Probleme sind hierzulande unbekannt.

Im beginnenden Wahlkampf wird kein einziger philosophischer Begriff zu hören sein. Kein Wort wird fallen über den Tod der Kirchen, den Verfall aller Autoritäten vom Sport über die Regierung bis zu den Autotycoons. Niemand wird über Antisemitismus reden, über unverstandene deutsche Geschichte, über Fortschritt und den doktrinären Blick in die Zukunft. Nicht nur die Kanzlerin ist in Stummheit abgetaucht. Der Lärm der Medien verdeckt die totenstille Leere der Gesellschaft.

Wann wurde die Sinnfrage zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit gestellt? Als jene Kulturen zerstört wurden, die den Sinn des Lebens – lebten. Ungekränkelt, saftig und das ganze Leben bestimmend. Es waren jene Kulturen, die man Matriarchate nennt und an die kein männlicher Forscher glauben will.

Der männliche Forscher spricht von der Mär einer paradiesischen Urzeit, zu der die Menschheit in krisenhaften Zeiten zurückzublicken pflegt. Allein, die Mär sei ein Phantom. Steht nicht in der Schrift eines Männergottes geschrieben, durch die Schuld einer vorwitzigen Frau sei das Paradies verschwunden?

Keine Trauer, liebe Genossinnen und Genossen, glaubt wieder an Marx & Engels, und das Paradies wird mit wissenschaftlicher Exaktheit morgen, morgen, nur nicht heute kommen.

Wie sinnlos muss das Leben geworden sein, dass sein Sinn krampfhaft unter dem Sofa gesucht werden muss.

Die Dörfer der Mütter waren zyklisch orientierte, in sich ruhende Hier-und-Jetzt-Lebensfreuden.

„Solche „Religionen“ waren frei von neurotischen Fragen nach einem unbestimmten „Sinn“ des Lebens, weil sie nie von der Notwendigkeit ausgingen, dass sich das Leben rechtfertigen müsse. Sie waren frei von Gefühlen der Angst, von Schuldgefühlen und Gefühlen der Sünde, wie patriarchalische Religionen sie den Menschen aufbürden. Wer die Macht hat, hat das Recht auf seiner Seite – diese Moral war typisch für die lineare männliche Theologie. Die weibliche Moral war bejahender und unterstützte den Geist der Zusammenarbeit, durch den die Zivilisierung der Menschheit möglich wurde.“ (Walker)

Eine Gesellschaft, die nach dem religiösen Sinn des Lebens suchen muss, ist tiefer verwundet als jeder Virus zu verwunden imstande ist. Die desolate Gesellschaft bleibt eisern-unverändert. Jeder mache im persönlichen Winkel seinen spirituellen Hokuspokus. So wird Religion zur Hauptstütze des Kapitalismus.

Der Sinn des Lebens im Dorf der Mütter musste nicht durch priesterliches Impfen einer kranken Sozietät von außen injiziert werden. Das Leben der Gleichen und Freien strotzte vor Leben.

„Wo immer der Wechsel der Jahreszeiten durch Feste und Zeremonien gefeiert wird; wo die Lebensstadien durch Familien- und Gemeinschaftsfeste unterstrichen werden; wo Essen, Trinken und sexuelles Spiel den Mittelpunkt des Lebens bilden; wo Arbeit, selbst Schwerarbeit, selten getrennt ist von Rhythmus, Gesang, menschlicher Empathie und ästhetischem Genuss; wo vitale Aktivität in gleichem Maße als Lohn der Arbeit betrachtet wird wie das Produkt; wo weder Macht noch Profit Vorrang vor dem Leben haben; wo Familie, Nachbarn, Freunde alles Teile einer sichtbaren, fühlbaren, unmittelbaren Gemeinschaft sind: wo ein jeder, Mann oder Frau, Aufgaben erfüllen kann, für die auch jeder andere geeignet ist – das sind wesentliche Elemente der neolithischen Kultur, in der das Tätigkeitsfeld abwechslungsreich, anstrengend und vergnüglich zugleich war. Die tägliche Arbeit vereinigte nicht nur das Realitätsprinzip mit dem Lustprinzip, sie brachte auch das äußere und innere Leben in Einklang. „Die Gärten der Gemeinschaft“, betont Malinowski, sind nicht bloß Böden zum Anbau von Nahrungsmitteln; sie sind eine Quelle des Stolzes und der Hauptgegenstand kollektiven Ehrgeizes. Höchste Sorgfalt wird auf Schönheit, auf Vollendung und Aussehen der Nahrungsprodukte verwendet. Das Vergnügen, gemeinsam mit der Familie zu arbeiten, Überfluss zu erzeugen und miteinander zu teilen , machte aus der täglichen Arbeit ein Zeremoniell und Sakrament, eine Quelle physischer Gesundheit, statt Strafe und Plage.“ (Mumford)

Mütterliche Dorfarbeit war alles andere als Sündenarbeit des Mannes im Schweiße seines Angesichtes. Das waren autonome Tätigkeiten im Dienste des guten Lebens, die die Menschen mit Stolz und Selbstbewusstsein erfüllten.

Kein Getümmel, Athener! Das lange Zitat war notwendig, um den Schimmer einer Alternative auf den Schirm zu bringen. In die Richtung des Dorfes nämlich müssen wir: das ist die conditio sine qua non allen Überlebens.

Was nicht bedeuten muss, dass wir alle Erfindungen des Fortschritts auf den Müll werfen sollten. Alles ist nützlich und kann übernommen werden, was Mensch und Natur unbeschädigt lässt. Wir müssen unseren Maschinenpark sichten und ausmisten.

Einen Fortschritt, der unwiderstehlich über uns kommt, den wird es nicht mehr geben. Die Wissenschaft kann erfinden, die Technik konstruieren, was sie wollen: die Völker entscheiden, was sie für nützlich halten. Die Diktatur einer technischen Heilsgeschichte ist für immer passé.

Die Parteien sind schlecht beraten, nur das Machbare in ihr Programm aufzunehmen, wie Habeck es gerade fordert. Politik besteht aus Theorie und Praxis. Die Praxis kann der Theorie nicht vorschreiben, was sie zu denken hat. Kompromisse entscheiden nicht über die Wahrheit. Sie sind nur Provisorien auf dem langen Weg zum Leben.

Wir stehen am Ende dieses Weges, der die Wahrheiten eines gelungenen Lebens systematisch vernichtet hat. Wir können nur vorwärts gehen, wenn wir zurückschauen und aus der Vergangenheit lernen.

Ohnehin weiß jeder, dass es keine Praxis ohne Kompromisse gibt. Doch diese Kompromisse müssen jenes Menschenmögliche versuchen, das aus utopischer Notwendigkeit zwingend folgt. Der Kampf der Parteien muss wieder zum Kampf der Geister werden, nicht der Kleinkrämer, die kaum bis Drei zählen können.

Das mütterliche Dorf kannte noch keine Arbeitsteilung, die Spaltung der Menschen in Fachidioten. Demokratien leben vom alles überblickenden Menschen, der sich in allen relevanten Dingen sein eigenes Urteil bildet. Er wagt es, mit seinem eigenen Kopf zu denken und sich nicht von Hohepriestern der Macht vorschreiben zu lassen, wie er die Dinge des Zusammenlebens beurteilen soll.

Die Deutschen kennen nur den Staat, den Begriff Demokratie meiden sie wie die Pest. Demokratie ist für sie eine Über-Ich-Leistung, die ihnen von weißhaarigen Bundespräsidenten an Feiertagen erklärt wird, kein elementares Bedürfnis ihres Verstandes und ihrer Gefühle nach einer humanen Gesellschaft.

Die jetzigen Machthaber können es nicht. Sie müssen abgelöst werden von frischen jungen Talenten, die nicht unterwürfig nachfragen, was der Souverän gern hören möchte. Sie sagen unerschrocken, was sie selbst für richtig halten. Das bieten sie der Gesellschaft an und werben dafür mit den besten Argumenten, die sie sich erarbeitet haben. Dann warten sie das Ergebnis ab und akzeptieren die Wahl des Volkes, auch wenn es bitter für sie sein mag. Das Volk entscheidet. Wenn es falsch entscheidet, ist es schuld am Niedergang seiner Demokratie. Nach jeder Wahl allerdings geht der Wettstreit der Meinungen um den besten Weg weiter. Demokratie ist ein unermüdlich kollektiver Lernprozess. Niemand ist von Natur aus unbelehrbar. Selbst die affektivsten Gegner fremden Besserwissens sind überzeugt – es besser zu wissen.

Heute muss man an die trivialsten Erkenntnisse der Demokratie erinnern. Was ist Kritik? Die „Überheblichkeit“, es besser zu wissen als andere. Weshalb es zum Agon der Geister kommen muss. Das Volk entscheidet über Sieger und Verlierer des edlen Wettstreites.

Im folgenden Artikel wird jede Kritik, die sich anmaßt, etwas besser zu wissen, vom Tisch gefegt. Von einem Schreiber, der alles am allerbesten zu wissen glaubt. Was er indirekt fordert, wäre das Ende der Demokratie:

„Der Urteilende maßt sich nicht nur die Beurteilung einer Handlung selbst an, sondern erklärt auch gleich noch süffisant, dass die Handelnden – leider, leider – auch noch an ihren eigenen Ansprüchen gescheitert sind. Zur Logik der rhetorischen Eskalation unserer Tage gehört allerdings auch, dass einer gönnerhaften Herablassung immer die nächstgrößere folgt. Alle reden jetzt sehr gern davon, dass irgendetwas Politisches – Riesterrente, Rüstungs-Bestellungen, Anti-Corona-Maßnahmen – zwar gut gemeint gewesen, aber „handwerklich schlecht“ umgesetzt worden sei, als ob sie auch noch genau wüssten, wie es ganz leicht hätte besser gemacht werden können.“ (Sueddeutsche.de)

Demokratische Bildung darf nur ein Ziel anstreben: es besser zu wissen als alle anderen. Dieses Ziel gilt ganz selbstverständlich für jeden Schönheitswettbewerb, für sportliche Wettkämpfe und sonstige Leistungsvergleiche. Ausgerechnet im Kampf der Geister um das humanste Leben darf dieses Prinzip nicht gelten?

Wer nicht anmaßend genug ist, in jeder Bürgerversammlung seine Meinung als beste anzubieten, sollte schweigen. Ihm fehlt der Mumm des kämpferischen Demokraten. Zur Anmaßung, es besser zu wissen, gehört freilich – auch eine Trivialität – die Fähigkeit, die besseren Argumente des Rivalen anzuerkennen und zu würdigen. Kluge Menschen lernen am meisten von klugen Mitstreitern.

Das Ziel der Demokratie, ein menschenwürdiges Leben, verdient den leidenschaftlichsten Kampf um die Wahrheit. Wir müssen lernen, zu siegen – und zu verlieren. Danach werden die Karten neu gemischt. Solange das Sterbensglöcklein nicht ertönt, sollte gelten: immer der Demokratischste zu sein und voranzustreben den anderen.

Schluss also mit Demutsgefasel und Kannitverstan-Posen. Demokraten haben Angst vor niemandem. Schon gar nicht vor der Möglichkeit, sich zu irren und öffentlich des Irrtums überführt zu werden.

Morgen ist bereits ein neuer Tag: neues Spiel, neue Debatte, das alte Ziel: wir müssen Menschen werden.

Jeder kann täglich dazu lernen. Seinen Körper zu trainieren, um gesund zu bleiben, wird von jedem Vernünftigen gefordert. Warum gilt diese Forderung nicht für die Erkenntnisfähigkeit und soziale Kompetenz des Menschen?

Der Kampf der Geister ist – ein liebender Kampf. Um das Beste, was wir Sterblichen zu bieten haben: eine Menschheit in Eintracht mit sich und der Natur.

Fortsetzung folgt.