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nichtsdesto-TROTZ XXIV

Tagesmail vom 31.05.2021

nichtsdesto-TROTZ XXIV,

„… nun sehen wir etwa bei uns zwar nicht eine Krise der Demokratie, mit dem Begriff gehen wir viel zu leichtfertig um, aber doch eine Erosion demokratischer Qualitätsstandards. Diese langfristige Erosion trifft nun auf drei Krisen, mit denen wir nicht richtig gelernt haben umzugehen. Die eine ist die Klimakrise, die zweite ist die Pandemie. Die dritte die Migrationsfrage, die ist aber komplexer. Bleiben wir bei den ersten beiden: Soziologisch könnte man hier von einer Neucodierung politischer Konflikte sprechen.“

Spricht Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel in einem FREITAG-Interview mit Jakob Augstein. (der-Freitag.de)

Ganz anders die Meinung der Juristin Sarah Lincoln von der „Gesellschaft für Freiheitsrechte“ (GFF):

„Wir haben im Jahr 2020 die massivsten Grundrechtseingriffe seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland erlebt: Die weitreichenden Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen, Gastronomie und Kultur wurden dichtgemacht, Gottesdienste verboten. Und zeitweise durfte man gar nicht mehr demonstrieren.“ (SPIEGEL.de)

Begründung:

„In der Asylpolitik spreche ich von Abschiebungen in Krisenregionen, der ausufernden Abschiebehaft und natürlich von der katastrophalen Situation im Mittelmeer und der deutschen Beteiligungen an illegalen Pushbacks durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex. Hinzu kommen diskriminierende Maßnahmen wie zum Beispiel Sozialleistungen deutlich unterhalb des Hartz-IV-Niveaus, wogegen die GFF verfassungsrechtlich vorgeht. Den institutionellen Rassismus verdeutlicht auch ein ganz aktuelles Beispiel aus Bremen, wo die städtische Baugesellschaft Brebau Menschen mit Migrationshintergrund von der Wohnungsvergabe ausschließt. Die Befugnisse von Polizei und Geheimdiensten zur heimlichen Überwachung werden seit Jahren immer weiter ausgebaut.“

Gleichwohl gebe es starken Widerstand gegen den verwahrlosten Merkel-Staat:

„Deutschland hat eine sehr starke und kritische Zivilgesellschaft. Viele Initiativen und Organisationen übernehmen eine Watchdog-Funktion und prangern Missstände an.“

Da liegt ein ABER in der Luft:

„Zugleich gibt es eine bedenkliche Entwicklung: Vielen Organisationen wird die Gemeinnützigkeit entzogen. Das fing an mit dem Attac-Urteil, hat aber auch weitere Organisationen getroffen. Es gibt also keine sicheren Rahmenbedingungen für Grund- und Menschenrechtsarbeit. Das betrifft indirekt auch viele andere Organisationen, die sich aus Sorge um die eigene Gemeinnützigkeit kaum noch trauen, Haltung zu zeigen. Daran muss sich etwas ändern. Wir brauchen eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts, damit Organisationen ohne Angst vor Konsequenzen Klartext reden können, wenn es um Menschenrechte geht.“

Das klingt verheerend. Wenn Demokraten Angst haben, für Menschenrechte einzutreten, wird’s gefährlich. Wenn es keine sicheren Rahmenbedingungen für „Grund- und Menschenrechtsarbeit“ gibt, befindet sich die Demokratie in abschüssiger Fahrt.

Herr Merkel, wissen Sie das nicht? Muss sich erst eine verfassungsfeindliche Partei an die Macht putschen, damit Sie die Demokratie in Gefahr sehen?

W. Merkel: Mit dem Begriff „Krise der Demokratie“ gehen wir viel zu leichtfertig um.

Ach so, auch Sie sind allergisch gegen „apokalyptische Warnungen “, weil sie Menschen eher lähmen würden, als sie zur Gegenwehr zu ermutigen, stimmt‘s?

Doch hören Sie, das ist eine Infantilisierung der Menschen. Wären sie wehrhafte Demokraten, müssten sie in der Lage sein, die Dinge zu sehen, wie sie sind und zu überlegen, welche Abwehrmaßnahmen die besten wären. Unter dem Deckmantel pädagogischer Fürsorge werden die Menschen immer mehr entrechtet.

Die Verhältnisse seien zu komplex, weshalb Laien überfordert wären; nur Experten könnten sich ein sachverständiges Urteil bilden, die Überforderten sollten sich raushalten.

Eine tausendjährige Arbeitsteilung hat die Gesellschaft in Fachidioten und Schwachköpfe gespalten. Doch in lebendigen Demokratien müsste sich jeder über alle wichtigen Themen kundig machen, lebenslang dazulernen, um  seine eigene Meinung zu entwickeln. Sich im Streit der Standpunkte seinen eigenen Standpunkt zu bilden, ist Recht und Pflicht jedes Mündigen.

W. Merkel: „Unsere Verfassung hat moralische Überlegungen ja fest institutionalisiert. Dagegen kann man nichts haben. Das sind unabdingliche Orientierungen, wie sie etwa im Grundgesetz – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“– oder den Freiheitsrechten kodifiziert wurden. Mit reiner Machtstrategie lässt sich demokratische Politik nicht machen. Aber zwischen Moral und Moralisierung sollten wir unterscheiden. Bei der Moralisierung setze ich meine Position selbstgerecht und ignorant als absolut, abweichende Meinungen sind unmoralisch. Und ich dehne fatalerweise diese moralischen Urteile auf Teile unserer Gesellschaft und der Politik aus, wo sie einfach nichts zu suchen haben, zum Beispiel in der Kunst.“

Wäre die Kanzlerin selbstgerecht und ignorant, wenn sie bei Netanjahu die Einhaltung der Menschenrechte anmahnen würde? Oder bei Putin den Fall Nawalny, in Peking die Entrechtung der Uiguren ansprechen würde?

Dann wäre jeder Vertreter der Menschenrechte in Unrechtsstaaten ein Geck und eitler Selbstgerechter??

Wäre das der Fall, befände sich unsere Demokratie nicht in einer Krise, sondern wäre längst untergegangen – auch wenn sie äußerlich florierte.

Eine Sache von mehreren Seiten zu betrachten, war der Sinn der antiken Disputationskunst oder des Redewettkampfs. Nicht anders als im sportlichen Agon ging es im streitbaren Dialog darum, den Gegner – der kein Feind war – „niederzuwerfen“ oder „niederzuringen“. Mit besseren Argumenten.

Voraussetzung waren klare Kriterien, mit denen man die Reden bewerten konnte. Ohne Glauben an eine objektive Wahrheit war ein Streitgespräch unmöglich. Wer mit logischer Klarheit und Schärfe die Wahrheit besser formulieren konnte, der sollte Sieger sein. Der Unterlegene sollte nicht beschämt, sondern ermuntert werden, seinen Irrtum einzusehen und zur Wahrheit überzugehen. Mit besseren Argumenten könnte er seine alte Meinung jederzeit erneut zum edlen Streit um die Wahrheit anmelden.

Es konnte nicht ausbleiben, dass die Redekunst auch dazu benutzt wurde, „der schwächeren Sache zum Sieg zu verhelfen“.

„Es war eine Art geistiger Athletik. Mit ihr kam es zur Erschütterung der alten Autoritäten, was sie bei der großen Masse des Volkes verdächtigt machte. Besonders die Jugend begeisterte sich für die Meister der Rede- und Disputierkunst, dass sie sie förmlich auf Händen trugen.“ (Nestle)

Dies war der Grund, warum die Jugend dem Dialogvirtuosen Sokrates anhing, denn mit dessen Kunst konnten sie ihre Autoritäten dem Hohn und Spott ausliefern.

Heute gibt es nur sophistische Reden und Debatten. Selbst die Talkshows, einst als intensive Streitgespräche gedacht, sind zu Austauschforen leerer Plattitüden verkommen. Dauersieger, weil sie meinungslos erstarrt sind: die smarten ModeratorInnen.

Hier hülfen nur Zwiegespräche, die nicht von selbstgefälligen GesprächsleiterInnen ins Nichts gelenkt werden, damit der postmoderne Zeitgeist Recht behalte: siehste, weit und breit keine Wahrheit, nur Wortgeklingel und Spirenzchen.

Welcher Disputant die besseren Argumente hatte, müsste vom Publikum bewertet werden.

Heute gibt es keine universelle Wahrheit, keine objektive Sprache, keine logischen Maßstäbe, um die Qualität der Argumente zu beurteilen. Sollte Demokratie auf Wahrheitsfähigkeit, dialogischer Widerlegungs- und Verständigungskunst beruhen, wäre Deutschland längst im Morast der Beliebigkeit versunken.

Die Erneuerung der Demokratie, die nach der Coronakrise fällig wird, müsste bei den Grundlagen beginnen: den verhunzten Werkzeugen der Wahrheitssuche. Politiker sind dazu unfähig. Sie hängen an ihrer Macht, die sie mit durchschaubar-ordinären sophistischen Tricks bis zum letzten Atemzug verteidigen. Solange der Pöbel mit Talmireden abgefertigt werden kann, werden die führenden Klassen nicht aus ihren Sesseln weichen.

Jede echte Aufklärungsbewegung muss zuerst durchs Dorf und über den Markplatz. Beginnen kann sie, wo sie will. In Athen begann sie bei jedem, der die Adelsherrschaft satt hatte und seine eigene Wahrheit suchte. In der französischen Aufklärung begann sie im höheren, gebildeten Bürgertum. Selbst Adlige bevölkerten die Salons kluger und selbstbewusster Damen, wo der Geist in funkelnden Gesprächen zum revolutionären Ferment zugeschliffen werden konnte.

Heutige Machthaber legen keinen Wert auf Geist. Sie verteidigen ihre Pfründe in dreister Unverfrorenheit. Weisheit? Haha. Klugheit? Dito. Wahrheitssuche? Solchen heidnischen Schwindel verbitten sie sich. Fehlt ihnen etwas? Besitzen sie keine unverrottbaren Schätze an himmlischen Werten?

Die Kanzlerin weiß, warum sie sich dem Stadium der vollendeten Stummheit nähert. Will sie denn anmaßend erscheinen, indem sie ihre Gegner im geistigen Duell degradiert? Das wäre Hochmut. Und die Hochmütigen bestraft der Herr. Nur in vollendeter Demut, das weiß sie, wird ihre Macht unangreifbar.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble meldet sich selten zu Wort. Und wenn doch, klingt das so:

„In dieser Lage hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) bei der Veranstaltung »Leipzig liest extra« einen bemerkenswerten Satz über die Klimakrise gesagt, der hilft, die politische Lage zu sortieren. »Wir haben doch größere Probleme auch schon bewältigt.« »Wir haben in der Geschichte viel größere Herausforderungen bewältigt.« »Wenn ich vor der Alternative stehe, etwas schnell oder langsam durchzusetzen, bin ich eher für langsam. Denn der Preis für schnelles Handeln ist der Verlust der Freiheit.«“ (SPIEGEL.de)

Bemerkenswerte Nonsenssätze. Hat Schäuble von der Dringlichkeit der Klimakrise noch nie gehört? Hat er nie wissenschaftliche Bücher von Klimaexperten gelesen?

Wer, wie die Kanzlerin, im Bann der Offenbarung lebt und regiert, kann auf nichtige Weltweisheit verzichten. Gibt es denn kein wichtigeres Problem als die Rettung der Welt? Doch freilich, über weltlich-apokalyptische Reden kann ein Christ nur müde lächeln. Weiß er doch, dass das Ende der Welt allein von seinem Herrn abhängt – und der kommt, wann er will.

Dass der ganze Politapparat schmählich versagt hat, beweist der Klimaspruch aus Karlsruhe. Das oberste Gericht fühlte sich genötigt, der Regierung konkrete Hausaufgaben ins Heft zu diktieren. Ein einmaliger Vorgang, eine Beschämung der gewählten Politiker.

Politik, so hört man, darf keine Moral sein. Was sonst? Was war die Alternative zu Moral? Hören wir den Politologen Merkel:

„Nein, unsere Verfassung hat moralische Überlegungen ja fest institutionalisiert. Dagegen kann man nichts haben. Das sind unabdingliche Orientierungen, wie sie etwa im Grundgesetz – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“– oder den Freiheitsrechten kodifiziert wurden. Mit reiner Machtstrategie lässt sich demokratische Politik nicht machen. Aber zwischen Moral und Moralisierung sollten wir unterscheiden.“

Jetzt wissen wir‘s: Macht ist die Alternative zur Moral. Wer immer Moral vom Tisch wischt, setzt auf Macht. Würde das nicht bedeuten, dass deutsche Eliten nur noch machtbesessen sind?

Moralfreie Macht nannte man in besseren Zeiten Staatsraison. Unter dem Einfluss Machiavellis hatten die Deutschen sich entschlossen, der Spießermoral zu entsagen und zu Hauen und Stechen überzugehen. Ab jetzt gab es eine strikte Abgrenzung zwischen privater Edelmoral und kaltblütiger Gewalt. Dass die verbrecherischsten Nationalsozialisten die herzlichsten Väter waren, nein, das war keine erfundene Legende.

Die Tilgung der Moral auf dem Gebiet der Politik begann im Neuanfang Deutschlands in der Zeit Friedrichs des Großen, der als junger Mann einen „Antimachiavell“ geschrieben hatte, im Gewühl seiner Kriege aber seine Jugendtorheit abstieß.

Woher kamen, wie aus dem Nichts, die vielen erstaunlichen Talente und Genies von Herder bis Nietzsche? Es waren vor allem ehrgeizige Pastorensöhne, schon zu Hause in alten Sprachen ausgebildet und in der Welt der Bibel, Griechen und Römer zu Hause, die, erfüllt vom Antagonismus himmlischer und weltlicher Weisheit, sich daran machten, den europäischen Geist von vorne zu begreifen.

Heute sind die Deutschen geistig so leer wie damals – doch heute fällt ihnen das nicht mal auf. Der Song-Contest war das erste schwache Signal, das morgen vergessen sein wird.

Die wissbegierige Jugend von damals genoss die beste Bildung, um den Widersprüchen des Abendlandes auf die Spur zu kommen. Heute gibt es keine Bildung mehr, die in der Lage wäre, die Vergangenheit zu entschlüsseln, um die Gegenwart zu verstehen. Sie wurde ersetzt vom Drill karrieristischer Wissenstechniken: Englisch, am besten Chinesisch, Ellbogen einsetzen, Digitalisch, Gesellschaftsmanieren, einen gewissen Gesichtsausdruck, Sport nach Belieben, am besten Golf.

„Die Schweizer Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm spricht von »Terminkindheiten«, von Heranwachsenden, deren Alltag getaktet ist wie der eines Managers. Nach dem bilingualen Kindergarten geht es zur musikalischen Früherziehung, später wird »English for Kids« gelernt oder Geige geübt. Und wenn durch Corona kein Präsenzunterricht möglich ist, dann bekommen sie Online-Teachings vor dem Rechner, vor dem selbst Grundschüler viele Stunden verbringen.“ (SPIEGEL.de)

Wie nennt man heute dieses System des elitären Kinderdrills? Chancengleichheit durch Bildung. Wer keine reichen und ehrgeizigen Eltern besitzt, die ihn mit teuren Privat- Kursen auf Vordermann bringen können, der guckt in die Röhre.

Herder war einer der Ersten, der den kommenden Generationen seiner Landesleute die prägende Hymne vorsang:

Was ist das für eine Zeit, die stolz darauf ist, „nicht mehr den Mut und die Kraft zum Verbrechen“ aufzubringen? „Gnade Gott eurer neuen, freiwilligen Tugend.“

„Das Inventar der Sittlichkeit ist einfach: Helden und Halbgötter, die Leben haben und Leben mitteilen, aber nicht nach Regeln handeln, sondern allein aus ihrer Kraft. Ziel ist nicht die schwächliche Glückseligkeit der Aufklärung mit ihrer Frage nach dem Nutzen, sondern eben das Leben.“

Keine graue Theorie darf das Leben mit abstrakten Vorschriften einengen. Das Leben bestimmt sich aus seinen unergründlichen Tiefen. Keine von außen und oben kommende Moral hat dem Leben Vorschriften zu machen. Das Leben ist mächtig genug, sich in allen Dingen selbst zu bestimmen: vom Besten bis zum Bösesten. „Gehöret nicht ein guter Teil Grausamkeit ebenso gut zur wahren Tapferkeit als Kienruß zur grauen Farbe?“

Verstand ist ein Sekundäres, ein Nachhinkendes wie die ganze Philosophie. So viele individuelle Lebensformen es gibt, so viele Philosophien und Moralen gibt es. Die Menschen beriefen sich nicht mehr auf ihren Verstand oder Urteilsvermögen, sie bekannten nur ihres Herzens Sinn, ihren Affekt, den dunklen Abgrund ihres Unbewussten.

Vor allem darf heroische Größe nicht in ein Bündel von Tugenden zerlegt werden. An die Stelle der alten Moral trat die Anbetung der eigenen Kraft. Jede Kraft ist an sich gut und darf nicht geschwächt werden. Wegen seiner Kraft ist sogar der Verbrecher zu beneiden, der größer ist als jeder schwächliche Tugendbold.

Schillers Karl Moor liest in seinem Plutarch von großen Menschen und verlangt nach der Kraft der alten Helden. In der unterdrückten Vorrede zu den Räubern schreibt Schiller von „Bösewichtern, … die Erstaunen abzwingen, … Geistern, die das abscheuliche Laster reizet, um der Größe willen, die ihm anhänget. Man stößt auf Menschen, die den Teufel umarmen würden, weil er der Mann ohne seinesgleichen ist.“ „Ich bin mein Himmel und meine Hölle.“ (alles nach Herman Nohl, Die Deutsche Bewegung)

Es gibt auch eine neue Liebe, die den „sozialen Atomismus der Aufklärung“ überwindet. Sie ist keine allgemeine Menschenliebe mehr, sondern überall individueller Gefühlsüberschwang. Es gibt kein abstraktes Gesetz, das die Verhältnisse zwischen den Menschen bestimmen könnte. Alle Gesetze sind individuell. Was für den einen als vorbildlich gilt, kann für den andern unsittlich sein. Niemals kann mir der Verstand sagen, was ich tun soll. Auch hier ist die Tat so genial wie schöpferisch. Jedes Zeitalter hat seine eigene Wahrheit. In gewissem Sinn ist jede menschliche Vollkommenheit „national und individuell“. (ebenda)

Sich mit dem Guten nicht gemein machen: die Nichtmoral der heutigen Presse ist – deutsche Bewegung. Grenzenloser Amoralismus als ungezügelte Freiheit ist – deutsche Bewegung. Der Hass auf den ökologischen Moralismus der Grünen ist – deutsche Bewegung.

Wenn man bedenkt, dass der Antinomismus der Deutschen Bewegung sich bis zum Völkermord steigerte, kann man sich nur wundern, wie die Kräfte der Mitte heute vor Bosheit prahlen und Wirrköpfe auf der Straße als Sündenböcke benutzen.

Was für die Presse gilt (natürlich nicht für alle Schreiber), gilt noch mehr für die Polit- und Wirtschaftseliten. Sie halten Balkonpredigten über „unsere neue Betriebsphilosophie“, doch die Sucht nach Gewinn darf von ethischen Taten nicht blamiert werden. Ab und an ein gutes Werk als Alibitat moralischer Sieger, doch im normalen Leben herrscht Machiavell. Man kann ja nicht den ganzen Tag in Agape schwelgen – und das Leben auf Erden aufs Spiel setzen.

Die hohe Politik muss dem listigen Machiavelli gewidmet sein, das Leben der Kammerdiener hat den Geboten des Himmels zu folgen.

Als das Volk noch nicht vertraut war mit den Gepflogenheiten der Politik, war ihm der Machiavellismus der Oberen kein Problem. Der lutherische Untertanengeist flüsterte ihm zu: haltet euch raus aus den hohen Dingen der Politik, davon versteht ihr nichts. Inzwischen tragen die Medien dem Publikum die Machenschaften der Oberen täglich ins Wohnzimmer. Damit beginnt ein Phänomen, das man machiavellistisch-nächstenliebende Überlappung nennen könnte. Was früher als Brutalität, Lüge oder Betrug durchgegangen wäre, wird vom neuen Sensorium der Meute immer mehr als Heuchelei empfunden. Immer deutlicher merken die Untertanen den Widerspruch zwischen Festreden, Ankündigungen, Versprechen – und den realen Taten. Mit anderen Worten: der machiavellistische Bonus, den das Volk früher den Regierungen vorstreckte, hat ausgedient.

Obwohl die Kanzlerin 99% ihrer Taten machiavellistisch entmoralisiert, werden fast all ihre Taten als samaritanische Liebeswerke gedeutet. Was vermitteln Schulen am effektivsten? Wie man sich im täglichen Wettbewerb am besten durchsetzt. Im normalen Leben hat man sich in allen Disziplinen als Siegertyp zu beweisen, nur im Suchen der Wahrheit darf man Schlusslicht sein.

Die Bejahung einer rapiden Lösung der Klimafrage kann nicht moralisch sein, weil es hier nur um Sein oder Nichtsein geht. Wenn wir untergehen, gehen wir alle unter. Wie langweilig. Kein Preis, keine Sonderprämie in Aussicht. Wenn man in Schulen und Unis lebenslang programmiert wurde, um als Erster das Ziel zu erreichen, kann die Rettung der Gattung nicht sexy sein. Wer durch mechanischen Drill funktionsfähig gemacht wurde, muss als Erwachsener Risiko und Abenteuer suchen, um seine Nivellierung erträglich zu finden.

Weshalb ich beim Moralisieren selbstgerecht und ignorant sein soll, bei der Moral aber nicht, bleibt das süße Geheimnis des Prof. Merkel.

Jetzt haben wir die Hypermoral vergessen. Der Begriff stammt von Arnold Gehlen und meint die Idiotie einer universell überdehnten Moral, nicht nur seine Nächsten zu lieben, sondern ebenso die Inuit in Grönland. Mit dieser Ausweitung würde man auch die private Moral beschädigen.

M .Merkel denkt hingegen an die amerikanische cancel-culture als Erfinderin der Hypermoral:

„Entstanden ist diese Art zu debattieren an der Ostküste der Vereinigten Staaten von Amerika, auf dem Campus der Eliteuniversitäten. Da etablierte sich ein Diskurs, der stark moralisiert hat und die Betroffenheitsperspektive einnahm. Darf von Shakespeare noch das N-Wort verwendet werden? Dürfen weiße Schauspieler Schwarze Personen auf der Bühne darstellen? Diese akademische Hypermoral gibt es nun auch etwa in der ökologischen Debatte. „Existieren oder einfach verbrennen“, wie das mal ein Direktor des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung gesagt hat. Man peilt sofort die denkbar höchste moralische Stufe an. Zwischen Moral und Unmoral gibt es keinen Kompromiss mehr und zwischen Leben und Tod vermeintlich auch nicht. Abweichende Meinungen sind unmoralisch.“

Die Beispiele Merkels sind keine Forderungen überdehnter Moral, sondern a) nach Ende der Heucheleien. Die Studenten wollten sich nicht länger mit der üblichen Doppelmoral begnügen, sondern die Realität mit eben der Moral durchsäuern, die ständig gepredigt wird. b) allerdings werden persönliche Empfindlichkeiten zur universellen Norm erhoben – was unstatthaft ist. Dass nur Schwarze Übersetzer das Gedicht einer Schwarzen Dichterin übertragen dürfen, kann man als persönliches Bedürfnis äußern: zur universellen moralischen Norm kann die Forderung nicht erhoben werden.

Das Phänomen der cancel-culture zeigt den Mut der jungen Generationen, sich mit der täglichen Norm der westlichen Bigotterie nicht länger abzufinden. Doch inzwischen artet sie aus in den Versuch, die Moral der eigenen Gruppe als universelle vorzuschreiben.

Keine Moral ist in der Theorie kompromissfähig. Nur die Umsetzung in einer Gesellschaft gleichwertiger Individuen zwingt zu praktischen Kompromissen. Das utopische Ziel der Theorie darf dennoch nie aufgebeben werden – was deutsche Parteien in ihrer denkfaulen Kompromisswut nicht begreifen wollen. Dann wundern sie sich, wenn sie nach endlosen Kompromissen nichts mehr Klares und Zielorientiertes zu bieten haben.

Ganz anders ist es mit der Klimafrage. Hier widerspricht sich W. Merkel frappant. Einerseits handele es sich bei der Klimakrise um eine „Neucodierung“ politischer Konflikte, die keine Kompromisse mehr dulde.

„Weil es nicht mehr wie bei Verteilungskonflikten um ein Mehr oder Weniger, nicht um Kompromisse geht, sondern um wahr und unwahr, richtig oder falsch, um moralisch und unmoralisch. Da geht es nicht mehr primär um die Verteilung von Lebenschancen, von Einkommen und Gütern, sondern um Moralisierung und Abwertung. Das ist ein Riesenproblem für unsere Demokratie.

Andererseits bemängelt er an der Hypermoral:

„Man peilt sofort die denkbar höchste moralische Stufe an. Zwischen Moral und Unmoral gibt es keinen Kompromiss mehr und zwischen Leben und Tod vermeintlich auch nicht. Abweichende Meinungen sind unmoralisch.“

Wer Menschenrechte für den Inbegriff der Moral hält, muss jede Abweichung kategorisch als unmoralisch bezeichnen. Alles andere wäre Feigheit und Rückgratlosigkeit.

Theoretische Moral kennt – wie jede Erkenntnis, die wahr sein will – keine Kompromisse. Nur in der Stückwerkpolitik des Tages sind Kompromisse erlaubt.

Jetzt aber beginnt eine ganz neue Situation. Da die Klimafrage das Überleben der ganzen Gattung betrifft, kann es kein suizidales Sowohl-Als auch geben. Wer auf die Dringlichkeit des Überlebens aller Menschen hinweist, ist nicht totalitär – denn er will niemanden zu seinem Glück zwingen –, sondern realistisch und konsequent. Er vertraut der Überzeugungskraft seiner Argumente und der Möglichkeit friedlicher Verständigung.

Menschen sind von Natur aus vernünftig. Diese Natur zu entfalten, sie mit Vernunft und Gefühlen zu überprüfen und ihr schließlich Folge zu leisten: das wäre das Gebot der Stunde.

Damit es nicht die letzte Stunde der Gattung werde.

Fortsetzung folgt.