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nichtsdesto-TROTZ XXIII

Tagesmail vom 28.05.2021

nichtsdesto-TROTZ XXIII,

In Israel-Palästina geschehen Dinge, die es gar nicht geben kann, weil es sie nicht geben darf – aus Sicht der Springerpresse.

Inge Günther berichtet in der FR über Vorgänge, die sie erträumt haben muss, so unwirklich müssten sie deutschen Palästinenserfeinden erscheinen. Friedensaktivisten aus zwei verfeindeten Völkern, die sich schon vor sechs Jahren zur Bewegung „Standing Together“ zusammentaten, sind gemeinsam auf die Straße gegangen, um für Verständigung und Zusammenarbeit zu plädieren:

„Schon in den Tagen, als fast landesweit mit Raketenalarm zu rechnen war, gingen arabische und jüdische Israelis, die eine Lösung und keine Perpetuierung des Konflikts wollen, vielerorts gemeinsam auf die Straße. Zur zentralen Demonstration am vergangenen Samstag in Tel Aviv, zwei Tage nach Abpfiff der Angriffe, kamen unerwartet Tausende mehr als gedacht. Ihre Botschaft: „Ein Waffenstillstand reicht uns nicht, wir wollen mehr“ – um nicht zu sagen: alles. Soziale Gleichheit, ein Ende der Besatzung, eine echte Friedenspolitik. All das propagierten die prinzipiell zweisprachigen lila Transparente der vor sechs Jahren gegründeten Bewegung. „Das System trennt uns, wir wollen das Gegenteil, ein Zusammenstehen von Juden und Arabern“, bekannte die 30-jährige Doron Aruch, Kampagnenmanagerin aus dem Armenviertel Schapira im Süden Tel Avivs. Der „Standing Together“-Hit – Sie wissen schon, die bereits zitierte Parole “…wir weigern uns Feinde zu sein“ – wurde jedenfalls so vielstimmig wie enthusiastisch skandiert. Uri Avnery, unvergessene Ikone des linken Friedenslagers, hätte es gefallen. Ohne ein israelisch-palästinensisches, jüdisch-arabisches Bündnis, so das Credo des 2018 verstorbenen Avnery, lasse sich kein Nachdruck im Sinne einer Verhandlungslösung erzeugen.“ (Frankfurter-Rundschau.de)

Das Debakel für BILD ist perfekt. Ab jetzt ist das giftsprühende Blatt gezwungen, leibhaftige Juden als Antisemiten anzuklagen, weil sie sich nicht scheuen, Feinden Israels die Hand zu reichen. Womit sie sich als Verräter am heiligen Land entlarvten.

Der öffentliche BILD-Skandal, der keiner sein darf, markiert den weiteren Verfall der BRD – die beim Rückfall in ihre unheilvolle Geschichte keinen Stopp kennt.

„Im 21. Jahrhundert angekommen, scheint die Trennung hingegen obligatorisch: Wir haben den Wahnsinn ausgesperrt, um uns der Vernunft zu unterwerfen. Unser Leben hat vor allem angenehme Gefühle zu erzeugen. Für alles andere ist kein Platz. Das lässt sich am besten nach den Regeln der Vernunft orchestrieren. Also organisieren wir unser Leben so und vor allem die Kinder weg, dass wir alle im Gleichschritt funktionieren. Aber ist es das, was den Menschen ausmacht? Zu funktionieren? Vielleicht ist es Zeit, den Wahnsinn in unser Leben zu reintegrieren. Davon könnten wesentliche Impulse ausgehen. Wo wir doch inzwischen im digitalen und nicht mehr im industriellen Zeitalter leben. Sollen doch endlich die Maschinen einen größeren Teil unserer Arbeit erledigen, auf dass wir uns wieder mehr dem Irrationalen zuwenden können, anstatt unser Leben vor allem auf die Performancelogiken der Arbeitswelt zu verbringen.“ (Berliner-Zeitung.de)

Die lang schwelende, jetzt an die Oberfläche durchbrechende Verwerfung der Vernunft, die hemmungslose Leidenschaft für den Wahnsinn: das ist der Boden der deutschen Bewegung. In welches Desaster dieser harmlos daherkommende Wahnsinn ausarten kann, hat die deutsche Geschichte bewiesen.

Die deutsche Bewegung – oder deutsche Philosophie – begann als Widerstand der Deutschen gegen die westliche Aufklärung. Vor wenigen Jahren noch sprach man vom deutschen Sonderweg. Mittlerweilen wird er, im Zuge einer unauffälligen Geschichts-Bereinigung, geleugnet, indem auf ähnliche Elemente in anderen Ländern verwiesen wird.

Schon Armin Mohler, Privatsekretär Ernst Jüngers, der kurz nach dem Krieg ein Buch über „Die Konservative Revolution in Deutschland“ geschrieben hatte, verwies auf ähnliche Vorgänge in anderen Ländern, um die verwerfliche Eigenart der Deutschen auf viele europäische Schultern zu verteilen.

Er nennt die Namen „Dostojewski oder die beiden Aksakov für Russland, Sorel und Barres für Frankreich, Unamuno für Spanien, Pareto und Evola für Italien, die beiden Lawrence oder Chesterton für England, Jabotinski für das Judentum. Auch die Namen Lothrop Stoddard und Madison Grant, die beiden Lehrer des Rassenkampfes oder James Burnham, Theoretiker der „Revolution der Manager“ zeigen, dass selbst die USA an der Wandlung teilhatten.“

Die Verleugnung des Sonderwegs übersieht allerdings die Kleinigkeit, dass Vergleiche nicht quantitativ komplett sein müssen. Ähnliche Elemente wie die Hinwendung zum Irrationalen oder die Verfluchung der Vernunft hat es anderswo tatsächlich gegeben – aber im Westen wurden sie permanent bekämpft im Namen einer vitalen Vernunft.

In Frankreich, England, mussten Wahnsinn und Vernunft in einen Dauerclinch. Die Werte der Vernunft kamen in Bedrängnis, doch die Raison behielt die Überhand. Nicht so in Deutschland. Hier wurde die Vernunft abgeschafft.

Was war der Inhalt der Deutschen Bewegung oder Konservativen Revolution?

„Für große Teile der „Konservativen Revolution“ ist der Kampf gegen die Ideen der Französischen Revolution und damit der europäischen Aufklärung ein Kampf gegen eine von außen kommende „Überfremdung“, der zum Versuch der Wiedergewinnung einer über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte verschütteten Deutschheit wird. Die Selbstbegreifung ist eines der Hauptziele der „Deutschen Bewegung“.“ (ebenda)

Gab es denn nationale Eigenheiten, die sich die europäischen Völker im Verlaufe ihrer Geschichte in unverwechselbarem Maße angeeignet hatten?

Im Mittelalter stand Europa unter der religiösen Dominanz der Päpste und der politischen Herrschaft deutscher Kaiser. Italienische Renaissance und die Entdeckung Amerikas hatten die scheinbare Einheit zerbrochen, die eine permanente Auseinandersetzung war zwischen der civitas dei Roms und der civitas diaboli des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Am Ende hatten beide Mächte verloren.

Jetzt begann die Geschichte einzelner Nationen, die ihren individuellen Weg suchten – zuerst im universellen Geist der Renaissance, einer Wiederaufnahme der griechischen Aufklärung. Dann im Geist einer immer stärker werdenden Konkurrenz. Auf künstlerischem, wissenschaftlich-technischem, schließlich auf imperialem und kapitalistischem Gebiet. Noch heute rivalisiert jede Nation mit jeder unter dem gemeinsamen Schirm der EU. Von einer wirklichen Einheit kann keine Rede sein.

Auf Luthers Paukenschlag gegen Rom sind die Deutschen noch heute stolz. Auch wenn sie nicht wissen, was der Berserker aus Wittenberg wirklich wollte. Es gehört zur deutschen Geistesabwesenheit, ein ganzes Jahr lang Luther zu feiern – ohne die geringste Ahnung über Luthers Lebenswerk. Luther durchschnitt das Band seiner Nation mit der Supermacht jenseits der Alpen.

Das hätte ein Signal sein können zur allgemeinen Befreiung von allen geistlichen und weltlichen Obrigkeiten. Wurde es aber nicht.

a) Die Abkehr von der Unfehlbarkeit des Papstes, der Aufruf zur individuellen religiösen Selbstbestimmung , mündete in die Unterordnung unter eine unfehlbare Schrift (sola scriptura) und eine gottgleiche politische Obrigkeit (Röm. 13).

b) Die Renaissance entdeckte den selbstbewussten Menschen der Antike wieder, der keine Autorität über sich anerkannte und seine Talente frei entfalten konnte (l‘ huomo universale). Luther hingegen degradierte den Menschen zum büßenden, demütigen Sünder, der allein von der Gnade des Himmels lebt.

c) Die Renaissance fand unter den Trümmern des zusammenstürzenden Klerikalismus die Vernunft des autonomen Menschen, die Schönheit der Welt und den verführerischen Eros. Luther verfluchte die autonome Moral der Vernunft, die Seuche der Lust und die heidnische Verehrung der Natur.

d) Die Selbstbestimmung des antiken Menschen in allen Bereichen der Politik, Arbeit und Kunst pervertierte Luther zur Verdammung rebellischer Bauern, zum sklavischen Festhalten an einem lebenslangen Beruf („jeder bleibe in seinem Stand“) und zu einem sündenbewussten Leben, das ohne Gnade ins Verderben führt.

e) An die Stelle der kaiserlich-päpstlichen Doppelherrschaft trat in Deutschland der cäsaropapistische Kurfürst, der im Augsburger Religionsfrieden (cujus regio, ejus religio, wer das Land regiert, dominiert auch die Religion) über Leib und Seele seiner Untertanen bestimmte.

Nur eine Tradition des Mittelalters führte Luther weiter, indem er sie zugleich verschärfte: sein Hass gegen die Juden, mit dem er zum Vorbild der Nationalsozialisten avancierte. Hass gegen Juden, Hass gegen aufrührerische Bauern, blinder Gehorsam gegen eine heilige Schrift, Verfluchung der Vernunft und der aufkommenden Naturwissenschaft (Kopernikus lehnte er scharf ab), Verdammung der Schönheit des Menschen und der Natur: das alles führte Deutschland in Gegenstellung zum Westen.

Der folgte unbeirrt seinem Weg zur politischen Revolution, zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis, zur Entwicklung einer machtgierigen Technik, einer kapitalistischen Beherrschung von Mensch und Natur und zur Eroberung der Welt.

Als das zerrüttete Deutschland sich zudem den zweifelhaften Luxus eines 30-jährigen Religionskriegs gönnte, fiel es für mehr als ein Jahrhundert in vollständige Bedeutungslosigkeit. Nur auf dem Gebiet der Musik gediehen noch die Talente. Doch Händel emigrierte nach London, um Anerkennung zu finden und Bach musste 200 Jahre später von Felix Mendelssohn wieder entdeckt werden.

Einige Gelehrte hatten noch an der europäischen Entwicklung zur Vernunft teilgenommen: Thomasius, Leibniz, Wolff und Kant. Den inneren Bankrott der Deutschen konnten sie nicht verhindern. Mit dem Volk hatten diese versprengten Geister nichts zu tun. Die Gläubigen wandten sich mit Grausen von den Zänkereien ihrer Kanzelprediger ab und entdeckten die Herzensfrömmigkeit der Stillen im Lande.

Das war der Nullpunkt einer Nation, die keine Perspektive mehr sah. Dann stürmten aus der Tiefe des Raums hungrige Talente, die die Vorherrschaft des Westens trotzig zurückwiesen und ihren individuellen Weg suchten.

Die Stürmer und Dränger warfen der westlichen Vernunft vor,

a) die Natur in eine Maschine verwandelt zu haben. Was nicht dem neuen Maßstab der Messbarkeit und Berechenbarkeit genügte, wurde verworfen. Vom Glauben des Volkes blieb nichts übrig. Alles Zarte, Poetische nationaler Traditionen zählte nichts. Erst mit Winkelmann begann die Suche nach der edlen Einfalt und stillen Größe der Griechen – alles, was den zerrissenen Deutschen fehlte.

b) zur lebensfeindlichen Theorie verkommen zu sein. „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum.“

c) alles, was ihr widersprach, mit der Schärfe des Verstandes zu verurteilen und die Eigenarten der Menschen und Völker zu verwerfen. Den Reichtum der Meinungen und Lebensstile würden sie weder verstehen noch mit ihrer angeblichen Toleranz dulden.

Die christliche Prägung der Nationen seit Beginn des Mittelalters wurde zunehmend als Dominanz einer gewalttätig importierten Religion empfunden. Kaum anders die weltliche Renaissance, die nichts war als ein Aufguss der Kultur einer fernen Nation. Religion und Vernunft wurden von verschiedenen Seiten angezweifelt. Wissenschaft und Technik waren eine Verstümmelung der Natur zu einem leblosen und deterministischen Mechanismus, der keine menschliche Freiheit duldete.

Wo blieb das Leben? Das Lernen brachte nichts, das Lesen von Büchern, das Grübeln und Denken eines lebensfernen Verstandes: alles war vergeblich.

Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor!

Bilde mir nicht ein, was Rechts zu wissen,
Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren,
Die Menschen zu bessern und zu bekehren.

Weh! steck ich in dem Kerker noch?
Verfluchtes dumpfes Mauerloch!

Beschränkt mit diesem Bücherhauf,

Das ist deine Welt! das heißt eine Welt!

Karl Moor verfluchte das „tintenklecksende Säkulum“. Lenz schrieb im „Engländer“: „Hab ich nicht zwanzig Jahre mir alles versagt, was die Menschen sich wünschen und erstreben? Wie ein Schulmeister hab ich mir den Kopf zerbrochen; über nichts gelebt als Büchern und leblosen Dingen, wie ein abgezogener Spiritus in einer Flasche, der in sich selbst verrauscht.“

Was für eine kopfgesteuerte, moralisierende, wesenlose Lebensferne, gegen die die jungen Deutschen rebellierten. In seinem Buch „Die deutsche Bewegung“ schrieb Herman Nohl:

„Es war die Wirklichkeit der absterbenden Aufklärung. Der Verstand war die allein regierende Macht. Natur erschien als Mechanismus, der bis in die Seelen reichte und einen schwächlichen Fatalismus zur Folge hatte. Das pralle Leben war verkümmert zu einem lustbegierigen Rechensystem, zu einer philiströsen Ordnung, die leer und hohl war. Die Dichtung war untergegangen im untertänigen Dienst einer abstrakten Moral, einer berechnenden Regelhaftigkeit und einer grenzenlosen Unbegabtheit.“

Sind wir mit dieser Rückschau nicht mitten in der Gegenwart? Auch heute will eine ungebärdige Freiheit keine moralischen Vorhaltungen, duldet die Aversion gegen rationales Denken keine Besserwisserei, will niemand seines Irrtums dialogisch überführt werden. Die Deutschen beginnen, ihre innere Leere wahrzunehmen, ihre plagiierende Nachäfferei fremder Nationen. Von den Amerikanern mussten sie mühsam Demokratie, dazu grenzenlose Begierde nach Erfolg und Reichtum lernen. Zugleich bewunderten sie ihre Musik von Jazz bis Pop, kannten alle Hollywoodfilme, ihre seichten Unterhaltungskünste, ihre Starbewunderung, ihre technische Idolisierung der Zukunft und ihre Verleugnung der Vergangenheit.

Das halbe Jahrhundert der Nachkriegszeit war nichts als eine Aufholjagd in wirtschaftlicher und technischer Kompetenz. Bis sich das satte Gefühl einstellte: wir sind wieder wer. Wir schwimmen mit bei den Siegern. Nichts fehlt uns, Luxus ist bei uns Normalität. Leben wir nicht mitten im Paradies?

Außer Wirtschaft und Export gab es nichts mehr. Kunst und Literatur verkümmerten zu Selbstbefriedigungsorgien der Feuilletons. Die Theater wurden zu obszönen Schreibühnen, die immer aggressiver werden mussten, um das blasierte Publikum bei der Stange zu halten.

Corona hat all diesen Flitter von der Bühne gefegt. Wie hohl und leer die Nation schon seit Jahren ist, zeigte selbst der oberflächliche Song-Contest europäischer Nationen. Das Fernsehprogramm lebt nur von amerikanischen Vorbildern. Die Wirtschaft, die den Hals nicht vollkriegen kann, ist eine Imitation der Wallstreet.

Wir sind wieder angekommen, wo die Deutschen nach dem 30-jährigen Krieg von vorne beginnen mussten. Die Deutschen werden ihre Kreativität erst entdecken, wenn sie nicht länger vor ihrer Vergangenheit fliehen, sondern ihre nationalen Defekte zur Kenntnis nehmen – und durch reife Vernunft überwinden. Es geht nicht um die Entwicklung einer deutschen, sondern einer authentischen Kultur. Jeder Mensch, der sich findet, findet die Menschheit.

Erneut beginnt dieselbe Mischung aus aufpolierten Religionsresten, Verachtung der Vernunft und einer Hatz nach wildem Leben. Heribert Prantl empfiehlt eine „Wer-mag-Synthese“ aus Glauben und Vernunft. Katharina Brienne hat die Nase voll von mechanischem Funktionieren, das sie als Werk der Vernunft betrachtet. Sie ist süchtig nach Wahnsinn, Ausrasten und Ausflippen. Die Gier nach Abenteuer und Risiko waren ohnehin die ständigen Begleiter der Jagd nach Grenzenlosigkeit. Menschen dürfen keine befriedeten, endlichen Wesen sein, sie müssen zu göttergleichen … Irrläufern im Weltenraum werden.

Was bleibt? Ein Faustschlag in die Fresse der „Vernunft“, ein Tritt in die Weichteile der Moral, ein kindisches Flüchten in die Arme einer Religion, die niemand mehr kennt. Die nervenberuhigende Wirkung unserer Gottesmagd darf nicht gemindert werden.

Wilhelm Dilthey gilt als Begründer der Lebensphilosophie, einer seriösen Verpackung der deutschen Bewegung:

„»Leben ist die Grundlage, die den Ausgang der Philosophie bilden muß. Es ist das von innen Bekannte, es ist dasjenige, hinter welches nicht zurückgegangen werden kann. Das Leben kann nicht vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht werden«. Dilthey kritisierte wie alle Lebensphilosophen die traditionelle neuzeitliche Philosophie, die sich auf die Rationalität fokussiert und dabei die Dimensionen des Wollens und Fühlens vernachlässigt hatte. »In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit.«  Erst wenn man im Philosophieren auf die „ganze, volle, unverstümmelte Erfahrung“ zugreift, gelingt es, „die ganze, volle Wirklichkeit“ zu erfassen. Das wirkliche Leben ist nur von innen heraus und das heißt unter Rücksichtnahme auf die Psyche zu verstehen.“ (Wiki)

Dass die Deutschen gegen die Mechanisierung der Natur, die Herrschaftsgelüste der Wissenschaften, die kapitalistische Ausbeutung von Mensch und Natur, die Reduktion des Lebens auf Messen und Rechnen protestierten, war richtig. Dass sie schmerzlich spürten, wie das volle und saftige Leben sich aus dem Staube machte, war richtig. Dass sie dieses Leben zurückerobern wollten, um dem religiösen Hass gegen die Welt Einhalt zu gebieten, war richtig.

Doch falsch, gefährlich und menschenfeindlich war ihr Hass gegen die humane Vernunft und die Erhebung ihrer bösen Begierden zu treibenden Elementen des Fortschritts. Ihren gärenden Gefühlsabgrund – den Freud später als Unbewusstes bezeichnen sollte – verabsolutierten sie zur unfehlbaren Richtschnur ihres politischen Wahns. Sie wollten die Einheit des Lebens zurückerobern, das Widereinander von Himmel und Erde, Glauben und Denken überwinden. Tatsächlich spalteten sie den Menschen in eine gefährlich brodelnde Gefühlsmaschine und in eine kraftlose, überflüssige Vernunft.

Sie wollten die Einheit des Lebens. Doch was taten sie? Sie spalteten den Menschen in eine rechnende Ratio, in dunkle, unergründliche Gefühle und in einen irrationalen Willen zur Macht.

Des Denkens Faden ist zerrissen
Mir ekelt lange vor allem Wissen.
Laß in den Tiefen der Sinnlichkeit
Uns glühende Leidenschaften stillen!

Da mag denn Schmerz und Genuß,
Gelingen und Verdruß
Miteinander wechseln, wie es kann;
Nur rastlos betätigt sich der Mann.

Faust hat Silicon Valley vorweggenommen, wenn er vom „überirdischen Vergnügen spricht, sich zu einer Gottheit aufschwellen zu lassen, Erd und Himmel wonniglich zu umfassen: verschwunden ist ganz der Erdensohn.“

Solange sich der Mensch, in endlosem Durst nach Leben, zerreißen lässt in kalte Vernunft, ungebändigte Gefühle und einen amoklaufenden Willen, wird er Mensch und Natur in tödliche Bedrängnis bringen:

Weh! weh!
Du hast sie zerstört
Die schöne Welt,
Mit mächtiger Faust;
Sie stürzt, sie zerfällt!
Ein Halbgott hat sie zerschlagen!
Wir tragen
Die Trümmer ins Nichts hinüber.

Eine verleugnete Vergangenheit zwingt uns zur Wiederholung unseres Versagens. Eben deshalb sind wir dabei, das zerstörerische Kapitel der deutschen Bewegung ein zweites Mal aufzuschlagen. Es wird nicht zum Leben führen.

Fortsetzung folgt.