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nichtsdesto-TROTZ XX

Tagesmail vom 21.05.2021

nichtsdesto-TROTZ XX,

„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ – Verschwörungstheorie oder Glauben?

„Wer von oben herkommt, der ist über alle …, wer aber dem Sohn nicht gehorcht, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm“ – Verfluchungsanmaßung oder Glauben?

„Wer sein Leben liebt, verliert es, und wer sein Leben in dieser Welt hasst, wird es ins ewige Leben bewahren“ – Hass auf die Welt oder Glauben?

„Wer Sünde tut, der ist vom Teufel“ – Satanismus oder Glauben?

Schon das „oder“ ist falsch. Es handelt sich nicht um Alternativen.

Wenn die Menschheit überleben will, muss sie sich verändern. Je radikaler die Veränderung sein wird, umso mehr werden die Veränderungslasten die Menschen in Furcht und Schrecken versetzen und ihre Schuldzuweisungen in Hass verwandeln.

Die Medien haben den Reigen bereits begonnen – mit inflationärer Verwendung des Begriffs Verschwörung. Was den Rahmen der medial erlaubten Kritik an der Regierung übersteigt, wird an den Pranger der Verschwörungstheorie gestellt.

Die Tagesbeobachter sind die Älteren der Geschwisterhorde, die – wenn Eltern abwesend sind – aufpassen, dass niemand der jüngeren Rabauken das Kinderzimmer auf den Kopf stellt. Sie sind keine neutralen Berichterstatter, sondern Juroren und Aufpasser der Rasselbande.

Sie selbst spielen Kritik – an Söder-Rhetorik, Laschet-Masken und Baerbock-Unschuldslächeln. Eine grundsätzliche Kritik am abschüssigen Zustand der Gesellschaft suchst du vergeblich. Dafür sorgen die Schreiber im Schweiß ihrer eleganten Federn. Der Kern, die Substanz der Moderne, muss mit allen Mitteln bewahrt werden. Was hätten die Medien zu berichten, wenn der Kern ihres Beschreibungsobjekts verfault wäre?

Was ist der Kern der modernen Gesellschaft? Sie befindet sich auf dem unaufhaltsamen Weg des Fortschritts ins immer Bessere – allein durch die Maschine, allein durch die Technik, allein durch das Neue:

Sola machina, sola scientia, sola nova.

Das ist das Glaubensbekenntnis der Moderne. Auf keinen Fall darf das Bessere durch Humanität erzielt werden: durch eine menschlichere Politik, durch eine menschenwürdigere Gesellschaft, durch ein Leben in Eintracht mit Mensch und Natur.

Das heilige Motto der Neuzeit stand über der Pforte der Chicagoer Weltausstellung von 1933:

„Wissenschaft erforscht, Technologie führt aus, der Mensch gehorcht.“

Der Titel der Ausstellung, keineswegs ironisch gemeint, lautete: Das Jahrhundert des Fortschritts. Das mit dem „Jahrhundert“ war falsch, denn Fortschritt begann bereits in den Tiefen des Mittelalters. An die dunkle Geschichte Europas aber wollten die Amerikaner nicht erinnert werden. Auf dem neuen Kontinent, dem zweiten Kanaan der Erwählten, begann die Geschichte von vorne und würde im Triumphzug dem Jüngsten Tag entgegengehen.

Was war das Geheimnis des Fortschritts, das hier noch naiv ausgesprochen wurde, seitdem aber wieder im Untergrund verschwunden ist? Der Mensch gehorcht. Fortschritt ist ein Gesetz, der unaufhaltsame Gang der Geschichte ins Licht. Fortschritt wurde zur Beglückung der Menschheit. Da Beglückung den Gehorsam der Menschheit fordert, wurde sie zur Zwangsbeglückung. Zwangsbeglückung: ein anderer Name – für Faschismus.

Die Amerikaner haben die Zwangsbeglückung nicht erfunden. Sie begann in Europa als Heilsgeschichte, die – seit Eindringen der griechischen Wissenschaft – peu à peu in technischen Fortschritt transsubstantiiert wurde.

Transsubstantiation ist Verwandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi. Seit Roger Bacon wurde sie zur wunderbaren Verwandlung irdischen Wissens und Forschens in paradiesischen Fortschritt.

Der heiligmäßige Fortschritt würde nicht nur die Hinfälligkeiten der Natur überwinden, sondern auch die verruchte Moral der Heiden, mit der sie eine menschenwürdige Gesellschaft erfunden hatten: die Demokratie.

Der technische Fortschritt des christlichen Abendlandes hatte die autonome Ethik der antiken Heiden besiegt. Alle Mängel der Gesellschaft konnten durch technischen Fortschritt besiegt werden.

Von Galilei bis Marx, von Marx bis zu Silicon Valley gibt es nur noch eine Devise: Moral ist von gestern, Moral ist nicht berechenbar, Moral ist verdammenswert autonom und zwingt niemanden zum Gehorsam.

Zwangsbeglückender Fortschritt wurde zum Movens der modernen Demokratie. Wer damit liebäugelt, sich diesem Fortschritt entgegenzustellen, wird von den Eliten der Moderne abgeräumt.

Betrachtet man die heutigen Gegner der Moderne genauer, erkennt man schnell ein Gemeinsames: sie sind keine Fortschrittsanbeter. Weder das Neue, noch die Zukunft oder die geniale Technik sind für sie Götzen, die sie anbeten müssten. Ihr Blick geht eher zurück. Gab es in der Vergangenheit nichts Besseres, um die Menschheit zu retten, als diese ewigen Versprechungen der Futuristen, die die Natur nur ruinieren können?

Zweifellos gibt es auch Verbesserungen der condition humaine durch gewisse Erfindungen. Dass die Menschheit weltweit miteinander kommunizieren kann, dass sie das Wissen der Gattung bequem zur Verfügung hat: das wären erhebliche Fortschritte, wenn … wenn die Menschheit in der Lage wäre, tatsächlich miteinander ins Gespräch zu kommen, um ihre Probleme zu lösen. Oder das geballte Wissen der Vergangenheit zu nutzen, um die Gegenwart zu verstehen. Just dazu ist  sie bislang nicht in der Lage.

Die Menschen müssten sinnvolle Gespräche führen, um die Hürden der verschiedenen Kulturen zu überwinden und zur Verständigung zu kommen. Sie müssten fähig sein, das Vergangene als Werden der Gegenwart zu begreifen, um herauszukriegen, ob das Alte nicht doch besser war als das Neue, auf das man ständig warten muss. Die Historiker hingegen verbieten den Menschen, aus der Geschichte zu lernen. Sie sind postmoderne Relativierer des Gewesenen mit der Botschaft: jede Zeit hat ihre eigene Wahrheit. Keine Epoche kann mit der anderen verglichen werden. Was lernen wir aus der Geschichte? Nichts.

Erzählungen von den Anfängen der Geschichte, in denen alles besser war, werden unwirsch vom Tisch gefegt. Das seien Phantasien von Paradiesen, die man nicht ernst nehmen könne – sagen vor allem jene, die auf ihren biblischen Glauben an den Garten Eden Wert legen.

In denselben Topf werden die Überlieferungen des Matriarchats geworfen, die in humaner Sicht den patriarchalen Gesellschaften weit überlegen waren.

„Patrilineare Gesellschaften schreiben die Erschaffung der Welt ausschließlich einem männlichen Gott zu. Väter beteiligen sich nicht an der Sozialisation der Kinder, sondern kontrollieren sie aus der Distanz, fordern absoluten Gehorsam und ehrfürchtige Unterwürfigkeit. Die Frauen gelten als absolut minderwertig, die ganze Kultur ist gekennzeichnet von Misstrauen, Konkurrenz und unversöhnlichen Widersprüchen. Matrilinearität hingegen begünstigt Gleichberechtigung, zum mindesten einen Ausgleich zwischen den Geschlechtern. Mütter hatten eine enge Beziehung zu ihren Kindern, sie übernahmen die Verantwortung für sie und die ganze Gruppe. Als die Männer ihren transzendenten Gott erfanden, forderten sie dieselbe Macht über Weib, Kind und Natur wie ihr allmächtiger Schöpfer über seine Geschöpfe.“ (Marilyn French)

Alles nur Ausgeburten der Phantasie, wenn alle Völker vergleichbare Urerzählungen haben? Wenn noch heute die friedlichsten Gesellschaften der Eingeborenen Matriarchate sind?

Wer sagt, dass die lineare Fortschrittlichkeit der Heilsgeschichte wahr sein muss? Sie beginnt im Nichts und endet in göttlicher Vollendung für die Erwählten, im brennenden Nichts für die Verdammten.

Wenn es aber umgekehrt wäre? Wenn das Vollkommene am Anfang war, das von klugen Völkern bis heute bewahrt wurde, während die weniger Klugen sich eine lineare Heilsgeschichte ausdenken mussten, um ihre Verwüstungen der Natur durch erträumten Fortschritt schön zu reden?

Nicht geschwindelt: während die Menschheit heute von Selbstzerstörung bedroht wird, behauptet ein amerikanischer Psychologe, wir lebten in der besten aller Welten. Doch, es gibt partielle Verbesserungen, aber die Gesamtbilanz ist suizidal. Was nützen Intelligenzmaschinen, wenn die Natur uns einen Strich durch die Rechnung macht?

Die angebliche Überlegenheit des Fortschritts wird zunichte, wenn man bedenkt, wie sie benutzt wird, um technisch überlegenen Nationen Konkurrenzvorteile zu liefern, mit denen sie schwächere Länder ins Abseits manövrieren.

Für Popper war eine offene Gesellschaft – im Gegensatz zu „statischen Völkern“ – vor allem eine Fortschrittsgesellschaft. Dass ausgerechnet der Fortschritt zur faschistischen Hülle der offenen Gesellschaft wurde, konnte er nicht sehen. Eine „primitive Gesellschaft“ war nicht unoffen. Was man an heutigen Eingeborenen-Gesellschaften beobachten kann.

Sie lernen von fortgeschrittenen Gesellschaften, was ihnen sinnvoll erscheint, dann kehren sie erleichtert zurück in den Urwald. Wäre ihr Lebensstil das Vorbild aller Nationen, wäre das Überleben der Gattung gesichert. Da müsste die Natur schon selbst für eine Riesenkatastrophe sorgen, um die Menschheit in Gefahr zu bringen. Selbstgefährdung wäre ausgeschlossen.

Doch was folgt daraus? Können moderne Gesellschaften auf das „Niveau“ der Primitiven zurückfallen? Mit einem Gewaltruck bestimmt nicht. Das wäre ein katastrophales Hauen und Stechen. Aber als geplante Utopie, die die Vorteile der „Primitiven“ mit den naturverträglichen Bestandteilen der Fortgeschrittenen behutsam koordiniert: das wäre denkbar und machbar.

Bei den Befürwortern des Fortschritts kommt regelmäßig das Argument: gewiss gibt es Nachteile des Fortschritts, doch das seien die Kosten, die die Gesellschaft für ihre Überlegenheit zahlen müsse. Sieht man aber, wie sich die Nachteile zur Untergangsgefahr summieren, müsste man sagen: der Fortschritt der technischen Gesellschaft potenziert sich zu ihrem Tod.

Die verschiedenen Gesellschaften der Erde müssen in intensive Gespräche kommen. Es geht nicht, dass der Westen hoch auf dem Ross in den Abgrund reitet. Wie man mit Mutter Natur am besten umgeht, zeigen jene Völker, die von ihr nicht mehr nehmen, als sie ihr zurückgeben können. Dieser Schlüssel zum Überleben ist in den „hochentwickelten“ Gesellschaften kaum als Theorie vorhanden.

Arroganten Männern wird immer öfter Narzissmus bescheinigt. Dabei wird stets die Kleinigkeit übersehen, dass die ganze Fortschrittsgesellschaft vor Narzissmus nicht laufen kann und bald auch sterben muss – wenn sie sich nicht von Grund auf verändert.

Kein Fortschritt darf auf Kosten der humanen Vitalität der Menschen gehen. Denn Lebenskraft in heiterer Gelassenheit ist die unbewusste Utopie jedes Menschen, an der er sein Leben misst. Er kann sich lange damit betrügen, dass der Überfluss der Moderne sein wahres Glück wäre. Jetzt aber schlägt die Stunde der Wahrheit: Tand kann das Leben nicht ersetzen. Naturvernichtender Überfluss und Fortschrittszwang  zerstören die Freude am Hier und Jetzt.

Freuds Lehre vom Unbewussten war trostlos und todessüchtig. Sie war eine unbewusste Übersetzung der Erbsünde in den dunklen Untergrund der Seele. Wer glückliche Kinder beobachtet, wird keine erbsündigen Seelenqualen in ihrem Verhalten entdecken. Erst die Bekanntschaft mit der Welt der Erwachsenen erzeugt die ersten Angstträume ihres Lebens.

Die Zeit der Natur kennt keine Heilsgeschichte, keinen inhärenten Zwang zum Fortschritt. Als Marcel Proust sich auf die Suche nach seinem Lebensglück begab, machte er sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit – seiner Kindheit.

Wir müssen uns verabschieden von diktatorischen Zeitverläufen. Die Gegenwart, die nichts von einer humanen Utopie wissen will, klammert sich angstbesessen an die religiöse Utopie einer phantastischen Zukunft.

Wissenschaft hat viele Vorteile über die Menschheit gebracht. Dabei wird leicht übersehen, dass sie eine fatale Kehrseite besitzt. Sie hat die Fähigkeiten des nicht-rechnenden Geistes heillos zerstört. Sie hat übersehen, dass Vernunft nicht nur eine rechnende und natur-erkennende ist. Sie kann weit mehr als nur konstatieren, was vorhanden ist. Sie kann mit Hilfe sozialer Erfahrungen, scharfen Nachdenkens und fruchtbarer Gespräche herausfinden, wie der Mensch am besten lebt. Das kann keine Rechenformel.

Die Vernunft des Menschen wurde zur Rechenmaschine, ihre Kompetenz in Lebensfragen zu sentimentalem Geschnatter erniedrigt. Der Sieg der Naturwissenschaften kostete die Menschheit das Abwürgen ihrer kategorischen Vernunft:

„Einmal in der westlichen Mentalität verwurzelt, wurde die Gleichsetzung von technischem und moralischem Fortschritt zur allgemeinen Doktrin. Die Auffassung, wonach die Maschine auf Grund ihrer rationellen Konstruktion und der Vollkommenheit ihrer Leistungen nun eine moralische Kraft war, ja, die moralische Kraft schlechthin, diese Auffassung erleichterte es, die neue Technologie, auch in ihren hässlichsten Erscheinungsformen, mit menschlichem Fortschritt gleichzusetzen. Sünde ist seitdem nicht mehr, unter dem Maß menschlicher Möglichkeiten, sondern unter dem Maß der Maschine zu bleiben. In der klassischen Philosophie war der Gedanke der Vervolllkommnung fast ausschließlich auf die Entwicklung der Persönlichkeit und die Reifung seiner Psyche gerichtet. Veränderung ist weder ein Wert an sich, noch bringt sie automatisch Werte hervor: ebensowenig ist das Neue unbedingt das Bessere.“ (Mumford)

Man kann nicht genug staunen, mit welchem Scharfsinn der Amerikaner Mumford seine eigene Kultur, die technisch fortgeschrittenste der Welt, auseinander nimmt. In Deutschland gibt es kaum seinesgleichen.

Die Beschneidung der Vernunft zu einem rechnenden Hilfscomputer hat den Fortschritt zum „totalitären Absolutismus“ dämonisiert. Fast alle technischen Utopien betonen „Gleichmaß, Uniformität, Dirigismus oder Autoritarismus. Nicht zuletzt zeigen sie Feindschaft gegen die Natur, was zur Unterdrückung der natürlichen Umwelt durch geometrische und mechanische Formen und zur Ersetzung natürlicher Produkte durch künstlich erzeugte Ersatzprodukte führt.“ (ebenda)

Die Verarmung der Vernunft setzt sich inzwischen auch in der Lösung politischer Probleme durch. Etwa im palästinensisch-israelischen Konflikt. Um Frieden herzustellen, sollen die Vorstellungen der unterdrückten Seite ignoriert werden. Stattdessen wird ein Neues von genialen Männerautoritäten erhofft.

„Die Zweistaatenlösung ist inzwischen zur Utopie geworden. Das stört allerdings vor allem deutsche Spitzenpolitiker wenig, denn es ist eine ziemlich bequeme Utopie“ Nur bitte ohne eingefrorene Floskeln, ohne Worthülsen, die nur das eigene Nichtstun kaschieren. Eine einfache, alle zufriedenstellende Lösung gibt es nicht, es ergibt daher auch keinen Sinn, jetzt nach der Zweistaatenlösung die Einstaatenlösung als neue Formel auszurufen. Die Lage ist viel komplexer, als dass sie sich auf ein Schlagwort reduzieren ließe; schon weil die Frage neu gedacht werden muss. Es gibt viele schlaue israelische und palästinensische Politiker, Analysten und Intellektuelle, die neue Konzepte haben, die ein Zusammenleben anders denken. Wir sollten ihnen zuhören – und ihnen eine Stimme geben!“ (SPIEGEL.de)

Das ist die Kapitulation der Gleichwertigkeit aller Menschen, der Würde des Mitspracherechts der unterlegenen Seite, der unfassliche Ruf nach Männerautoritäten und blinder Anbetung eines Neuen. Das ist das Urmuster der technischen Überlegenheit über die moralische, die nicht in der Lage sei, das Komplexe zu erfassen.

Technische Einzelheiten mögen kompliziert sein, die politische Bewertung der Lage ist einfach. Verlierer müssen genau so gehört werden wie Gewinner. Wenn der Kern des Problems in der Verletzung universeller Menschen- und Völkerrechte besteht, kann es nur gelöst werden, wenn diese Rechte wieder rehabilitiert werden.

Alles andere wäre eine weitere Demütigung der Unterdrückten und ein Hilferuf nach großen Männern. Das grenzt schon an Zwangsbeglückung durch Autoritäten, die im Ausdenken neuer technischer Varianten besser wissen, was Menschen gut tut als diese selbst. Ein erschreckender Rückfall in totalitäre „Erlösung“.

Immer öfter ist zu lesen: die Probleme der Gegenwart sind zu komplex für Krethi und Plethi. Hier wolle jeder mitreden, obgleich seine intellektuellen Kapazitäten nicht ausreichen würden.

Von Tag zu Tag verstärkt sich der Eindruck: die Deutschen versinken in einem Loch demokratischer Unfähigkeit und moralischer Feigheit.

Ein weiteres Beispiel:

„Wer noch nie im Nahen Osten war, der schreibt am liebsten einen Thread auf Twitter. Eine Kaskade kurzer Textschnipsel, in denen das Geschehen möglichst knackig und mit eindeutiger Schuldzuweisung aufgearbeitet wird. Die komplexe Geschichte Jerusalems mit all ihren Verästelungen im Streit um den Tempelberg, die Verwicklungen von Besatzung und Besiedlung, die ambivalente Situation in Gaza, wo die Bevölkerung seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten unter einer Blockade leidet und von wo das Hamas-Regime gleichzeitig Terror exportiert: bei Mitteilungen von 280 Zeichen Länge eher hinderlich.“ (Sueddeutsche.de)

Wir erleben die Dominanz der Fachidioten. Außerhalb ihres Fachs sind sie unmündig wie andere,  dennoch fühlen sie sich überlegen dank ihrer Spezialerkenntnisse. Keiner der wortführenden Virologen verlor ein einziges Wort zu Kindernöten in Coronazeiten.

Politik und Wissenschaft korrumpierten sich gegenseitig, Politik wählte jene Wissenschaftler aus, die am besten zu ihren entmündigenden Einschlussmaßnahmen passten. Virologen präferierten die „schärfsten “ Exekutoren, um ihre Wichtigkeit in pädagogischer Härte aufzuwiegen. Eine Ko-Inzidenz der Hardliner und Eigenbrötler. Wenn die führenden Politiker keine Kinder haben, wie sollten sie an deren denken?

Wer ist schuld am Debakel der Gesellschaft in den Augen der Eliten? Jene Randläufer, die sich den triumphierenden Fortschrittsfanfaren nicht anschließen wollen. Geschenkt: da wird nicht selten Wirres dahergeredet. Doch niemand macht sich die Arbeit, die Labyrinthe des wirren Denkens zu entschlüsseln.

Viele Menschen haben das zunehmende Bedürfnis, dem arroganten Geschwätz vom Überkomplexen zu widerstehen. Ihrer Bildung, die sie deutschen Pisaschulen zu verdanken haben, fehlt die Qualifikation, ihre dunklen Gefühle ans Licht zu bringen. Kein Wunder, dass ihre Schlagwörter von Widersprüchen wimmeln.

Sind Artikel der Edelschreiber etwa widerspruchsfreier und einleuchtender? Das Einzige, worin sie überlegen sind, ist: sie können schreiben. Inhaltsloses Schreiben ist an die Stelle antiker Rhetorik getreten, die keine Wahrheit wollte, sondern Macht durch Manipulation.

Fortschritt unserer technischen Kultur? Mumford zeigt, wie die abendländische Geschichte in ihrem totalitären Maschinencharakter von seinen Anfängen vor 1000en von Jahren bis heute gleich geblieben ist.

„Die Deutschen des Dritten Reichs hatten den Sinn der Urmodelle gemäß der Prahlerei des assyrischen Königs Aschurnasirpals erfasst:

„Ich schlug ihnen die Köpfe ab, ich verbrannte sie mit Feuer, errichtete einen Haufe von lebenden Menschen und von Köpfen vor den Toren ihrer Stadt; ich ließ Menschen pfählen, zerstörte die Stadt und verwüstete sie, verwandelte sie in Erdhügel und Ruinenhaufen, die jungen Männer und Jungfrauen verbrannte ich im Feuer.“

Dann kommt ein Satz, den man hier in Deutschland nicht für möglich hält. Ein Satz bedingungsloser amerikanischer Selbstkritik, der hierzulande unbekannt ist. Von dieser Seite Amerikas hört man von unseren hochkompetenten Auslandsjournalisten kein einziges Wort:

„Im Sterben übertrugen die Nazis die Keime ihrer Kritik auf ihre amerikanischen Gegenspieler: nicht bloß die Methode der zwangsweisen Organisation und der physischen Zerstörung, sondern auch die moralische Zersetzung, die es ermöglichte, diese Methoden anzuwenden, ohne Widerstand zu entfachen.“

Diese vorbildliche, historisch aufwendig hergeleitete Selbstkritik Amerikas sollte uns bewegen, unsere fahrlässige Bewunderung des Fortschritts einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen.

Das Neue, Technische und Fortschrittliche sind keine Zaubermittel zur Lösung unserer Gegenwartsprobleme. Die unfehlbare Maschine als Religion hat ebenso ausgedient wie die Religion als Seligkeitsmaschine. Jene Moral, die einzig uns helfen könnte, unsere Überlebensprobleme zu lösen, liegt in exzellenten Formulierungen seit 2000 Jahren vor.

Es waren leibhafte Menschen, die bewiesen, dass universelle Moral keiner göttlichen Gnade bedarf, um vorbildlich gelebt zu werden. Ohne sie wäre Demokratie nicht möglich gewesen. Nicht von einer leeren Zukunft lernen wir, sondern von der Vergangenheit, in der uns das Humane beispielhaft vorgelebt wurde.

Fortsetzung folgt.