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nichtsdesto-TROTZ XVIII

Tagesmail vom 17.05.2021

nichtsdesto-TROTZ XVIII,

Finger weg von Friedenslösungen. Verzagtheit ist die Utopie der Realisten.

Erleichterung in der Berliner Regierung; ab jetzt darf ihre Unfähigkeit als rationale Verzagtheit verkauft werden:

„Der israelische Historiker Tom Segev sieht eine Kette »von Krieg zu Krieg«, hier bekämpften sich nicht nur Vertreter zweier unterschiedlicher Identitäten, hier gäbe es ein ganzes »Mosaik aus Identitäten«. Folgt man diesem Gedanken, ist schon der Wunsch nach einer »Lösung« des Nahostkonflikts – denn so heißt es ja seit Jahrzehnten, dieser Konflikt müsse »gelöst« werden – naiv. Manchmal sind es ja die zu großen Wünsche, so gut und berechtigt sie sein mögen, die dazu führen, dass ein Konflikt nicht zur Ruhe kommt. Welche kleineren Ziele erst einmal zu erreichen wären – sich diese Frage zu stellen, wirkt angesichts der furchtbaren Szenen vielleicht verzagt. Es könnte im Moment aber den größeren Effekt haben.“ (SPIEGEL.de)

Alles überkomplex, Gut und Böse gibt es nicht. Bescheiden wir uns mit dem, was möglich ist. Was ist möglich? Nichts. Nihil.

Tom Segev klang resigniert, er sah keine Lösung in dem uralten „Mosaik aus Identitäten“. Wenn schon der „Wunsch nach einer Lösung“ naiv sein soll, welche „kleineren Ziele“ bleiben dann noch übrig – wie der SPIEGEL schreibt?

„Der Nihilismus ist für Nietzsche Ergebnis der Überzeugung, dass es keine absoluten Wahrheiten und Werte gibt. Hieraus ergibt sich ein „Glauben an die absolute Wertlosigkeit, das heißt Sinnlosigkeit. Entsprechend gibt es auch keinen Maßstab mehr für die Moral.“

Wenn unbewältigte Probleme unter Wiederholungszwang stehen, stehen wir nicht vor einem energischen Neuanfang zur Bewältigung der Klimakrise, sondern vor einem Einbruch des Nihilismus.

Der Teppich zur Ankunft des Nichts ist ausgerollt, die notwendige Prophylaxe vollendet:

a) Es gibt keine verbindliche Wahrheit mehr.

b) Es gibt keinen Maßstab für die Moral.

c) Das Gefühl der Lähmung und Sinnlosigkeit greift um sich.

Nach dem Ende des hegelianischen Optimismus kam der Nihilismus – von Schopenhauer bis Nietzsche. Von einem Extrem fallen die Deutschen ins andere. Zuerst alles gut, dann alles zum Davonlaufen. Nein, es gibt kein Richtig oder Falsch, kein Hell oder Dunkel in der deutschen Welt, es gibt nur Erwählte und Verdammte.

Wie kann es in einem behüteten Glaubensstaat einen Nihilismus geben? Fühlen sich die Deutschen von Mutter Kanzlerin und ihrem Gott Vater nicht mehr behütet? Die Deutschen trauen ihrem Glauben nicht, denn er ist „nicht ganz gläubig“. Er will auch ein bisschen aufgeklärt sein. Von allem ein wenig, von nichts zu viel, das ist die Tradition radikaler deutscher Denker.

Die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, entspricht exakt dem deutschen Glaubensmaß, das mit der Kirchgängerei nicht übertreiben will. Problemlos kann sie die Nachfolge Merkels antreten.

„Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock umschreibt sich als „nicht ganz gläubig“. Dennoch gehe sie ab und zu in die Kirche, sagte sie am Samstag beim Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt. Baerbock wies in einer Diskussion darauf hin, dass Religion und Kirche seit vielen Jahrhunderten die Verantwortung für die Schöpfung betonen würden. Wörtlich sagte Baerbock: „Auch wenn ich selbst jetzt nicht ganz gläubig bin, aber öfter mal in die Kirche gehe genau aus diesem Grund: Weil man als Gemeinschaft eben mehr zusammen schaffen kann, weil man ein Verständnis hat, auf welchem Wertefundament stehen wir eigentlich – das der Nächstenliebe, aber auch das der Verantwortung.“ (Sueddeutsche.de)

Ohne Religion scheint es für Baerbock keine Menschenliebe zu geben. Von chinesischen und griechischen Philosophen der Philanthropie hat sie in ihrem Studium des Völkerrechts offenbar nichts gehört. Aus touristischer Sicht kennen die Deutschen die Welt aus dem Effeff. Von der Kultur anderer Völker haben sie noch nie gehört. Was schließen wir daraus für die standardisierte Bildung des Aufsteigervolkes?

Hat es etwa schon Vorläufer der Coronakrise gegeben, dass die Deutschen solche desaströsen Bildungsdefizite aufweisen? Oder sollte bereits das normale Pauk-Pensum vor allem aus eklatanten Lücken bestehen?

Hier tun sich Abgründe auf, die uns zur Radikalität zwingen: Schluss mit dem normalen Verbildungssystem, das die Deutschen zur Weltunklugheit verdammt. Freies Lernen für neugierige Kinder. Gibt es Kinder, die nicht neugierig wären?

Verräterische Formulierung der Kandidatin, die von Nächstenliebe spricht, „aber auch von Verantwortung.“ Sollte Verantwortung etwa das Gegenteil von Nächstenliebe sein?

Das klingt nach Max Weber, der keine Gesinnungsethik, sondern eine Verantwortungsethik will. Diese Formel wurde zur Norm der deutschen Weltklugen, mit der sie gegen die lutherische Auslegung des Neuen Testaments rebellierten. Nächstenliebe allein, sagen sie, muss in der Welt wirkungslos, ja sogar lebensgefährlich bleiben.

Lieben kann jeder Spießer und Träumer, es kömmt aber darauf an, dass Verantwortung übernommen werde für die Folgen der Liebe. Kann es unliebsame Folgen der Agape geben?

Dies glaubten die Deutschen, die nach der Reformation für Jahrhunderte in die politische Bedeutungslosigkeit absackten. Was waren die Gründe? Nicht nur ihr Fanatismus für den rechten Glauben, der sie in das schreckliche Glaubensgemetzel des 30-jährigen Krieges führte, sondern die damit verbundene Unfähigkeit zur realen Politik. Sollte Nächstenliebe pazifistische Sanftmut bedeuten, würde sie zur Wehrlosigkeit und politischen Gestaltungsunfähigkeit führen.

Das war eine neue Bedeutung der Nächstenliebe, die unter dem Einfluss des neuen Pietismus und Quietismus entstand. Beide Strömungen wollten die ständig auf Streit gebürstete lutherische Rechthaberei durch Sanftmut und Lindigkeit überwinden. Gerhard Teerstegen gehörte zu ihren bedeutendsten Liederdichtern:

Gott ist gegenwärtig. Lasset uns anbeten
und in Ehrfurcht vor ihn treten.

Mache mich einfältig, innig, abgeschieden,
sanft und still in deinem Frieden;

Mit solchen Pazifisten, Einfältigen und Abgeschiedenen konnte man keine Kriege führen. Bis dahin war Nächstenliebe eine Haltung, mit der man seinen Feinden sowohl Frieden anbieten, als ihnen auch den Schädel spalten konnte. Liebe – und tu, was du willst. Diese antinomische, zu allen Zwecken verwendbare Liebe: das galt nicht mehr in der deutschen Bürgerstube.

Jetzt aber kam das große Problem: wie sollte man mit solch frommen Einfaltspinseln erfolgreiche Kriege führen? Als der 30-jährige Krieg überstanden war, bemerkten die Deutschen mit Erschrecken ihre politische Bedeutungslosigkeit. Dabei war es noch nicht lange her, dass das Heilige Römische Reich Deutscher Nation die beherrschende Macht in Europa gewesen war.

Was war zu tun, um wieder in Glanz und Gloria zu kommen? Die fromme Gesinnung musste einer Haltung weichen, die Macht wollte und Macht verteidigen konnte. Hier konnte nur der italienische Amoralist Nr. 1 helfen, der alle Mittel der List und Gewalt erlaubte, um im Wettbewerb der Nationen nicht unterzugehen.

Liebe wurde zur privaten Gesinnung, bedenkenlose Gewalt zur Verantwortung in der Politik. Wer sich durchsetzen wollte in der Welt, musste sich ihren Regeln anpassen. Der quietistischen Sanftmut, die sich allen äußeren Mächten ergab, folgte erneut die zwielichtige Liebe, mit der man keine Gewalttätigkeit meiden musste.

Machiavelli wurde zum säkularen Heiligen der Deutschen, mit dessen Bedenkenlosigkeit sich im 19. Jahrhundert der politische und wirtschaftliche Aufstieg zum Bismarckreich vollzog. Bismarck, ein frommer Mann, verheiratet mit einer noch frömmeren Frau, formulierte seine Staatsraison mit den Worten: mit der Bergpredigt kann er keine Politik betreiben.

Verantwortung übernehmen, hieß, mit allen Mitteln dafür sorgen, dass die Deutschen zu einem mächtigen Reich der Mitte würden.

„Mit machiavellistischer Rücksichtslosigkeit und schärfster Berechnung und Ausbeutung der Machtmittel schuf er den deutschen Staat, aber dieselbe Berechnung ließ ihn auch die Grenzen der Macht, zu der Deutschland fähig war, erkennen.“ (Meinecke, Die Idee der Staatsraison)

Militärische Stärke bedeutete durchaus nicht das Gegenteil von Friedensliebe. Ja, sie konnte ein probates Mittel zur Erhaltung des Friedens sein.

„Alles, was locker und schwach ist, reizt die Begierde des stärkeren Nachbarn. Wenn aber überall in der Welt Starke neben Starken wohnten und kein schwacher und fauler Fleck dazwischen übrig bliebe, so wäre das in der Tat eine hohe Bürgschaft für den Weltfrieden.“ (ebenda)

Ein schwieriges Kapitel der Weltpolitik. Reiner Pazifismus wäre eine leichte Beute für jeden lüsternen Nachbarn, kein Beitrag zum Frieden der Völker. Militärisches Säbelrasseln und Wettrüsten hingegen könnte schnell in einer Haudrauf-Orgie enden.

Was tun? Am besten wäre die Herstellung gleichstarker Blöcke, die in Verhandlungen für Abrüstung in gleichem Tempo votierten. Das könnte nur gelingen, wenn die wirtschaftliche und technische Konkurrenz sich auf allen Seiten synchron zügeln ließe. Die Begierde nach einem finalen Sieg über alle Völker ist der Wunsch aller abendländischen Nationen, mittlerweile der ganzen Welt. Der neurotische Wettbewerb um Überlegenheit ist das Gift, das einen endgültigen Sieg fordert.

Dabei sind die Völker auf globale Zusammenarbeit beim Bewältigen der Klimakrise angewiesen. Chinas Endspurt zur mächtigsten Nation der Welt auf der einen Seite und die amerikanische Auserwähltheit, keine Nation mächtiger werden zu lassen als Gods own country auf der anderen, müssten gleichermaßen überwunden werden.

Der gegenwärtige Moment der Weltgeschichte ist deshalb so gefährlich, weil es weder eine globale Friedensdebatte gibt noch eine Absage an den friedlosen Überlegenheitswillen. Der Sieg am Ende der Geschichte ist die säkulare Transformation des Sieges der Auserwählten am Tage der Ankunft des Herrn. Um die Gesamtsituation der Weltpolitik zu entschärfen, wäre eine humane Globalisierung nötig: eine globale Friedensbewegung, die niemanden düpieren und in den Schatten stellen will.

Wer heute von Verantwortung spricht, meint das „Aber“ Baerbocks zur Nächstenliebe. Mit allen Mitteln soll man willens sein, seine Interessen gegen die der Feinde und Wettbewerber durchzusetzen. Der blasierten Attitüde deutscher Moralgegner ist noch immer anzumerken, wie sie Moral mit machiavellistischer Robustheit verächtlich machen müssen.

Merkels Politik ist eine undurchdachte Mischung aus seltenen gesinnungsethischen Großtaten, machiavellistischer Unverfrorenheit und moralischer Kälte. Mit wenigen guten Taten brilliert sie, um den unrühmlichen Hautgout ihrer Gleichgültigkeit gegen Flüchtlinge zu überdecken. Mit vollem Erfolg bei ihren nibelungentreuen Medienkohorten.

Woher kommt die Aversion der Verantwortung gegen die Gesinnung? Von Paulus:

„Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, stimme ich dem Gesetz zu, dass es gut ist. So tue ich das nicht mehr selbst, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. So finde ich nun das Gesetz: Mir, der ich das Gute tun will, hängt das Böse an. Denn ich habe Freude an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Verstand und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes.“

Wenn der Mensch Böses tut, wird er beherrscht von der Sünde; wenn er Gutes tut, von Gottes Gnade. Max Weber wollte diesen ferngelenkten Dualismus überwinden und den Menschen zum alleinigen Subjekt seiner Taten erklären. Bloße Gesinnung, die auf das Vollenden durch Gott angewiesen wäre, war für ihn eine untragbare Entwürdigung des Menschen.

Der gegenwärtige Trend der deutschen Politik regrediert kollektiv in „verantwortungslose“ gute Absichten-Politik. Sie schwatzen und schwatzen, versprechen – nach dem Urteilsspruch aus Karlsruhe – plötzlich das Blaue vom Himmel. Doch sie denken keine Sekunde daran, ihrem Gott in die Quere zu kommen und selbst für adäquate Taten zu sorgen. Sie sind gesinnungssüchtig und tatenaversiv. Eben dies ist die emotionale Grundlage ihrer christlichen Politik.

Wer ganz streng lutherisch denken wollte, müsste auch die Gesinnung Gott anheimgeben:

„Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“

Hier wird der Mensch zur totalen Marionette eines Gottes. Das ist das geheime utopische Ziel lutherischer Politik.

Baerbocks christliche Politik verläuft völlig im Muster der christlichen Partei. Ja, sie teilt den geschichtsfälschenden Glauben, „dass Religion und Kirche seit vielen Jahrhunderten die Verantwortung für die Schöpfung betonen würden.“ Das absolute Gegenteil ist wahr. Der kleinste Blick in eine kritische Geschichte der Ökologie bewiese die unheilvolle Rolle einer naturhassenden Religion.

Das christliche Dominanzgefühl über eine dienstbare, minderwertige Natur war die Grundlage für die schrecklichste Naturausbeutung, die die Welt bislang erlebte.

„Nachdem er die Gewalten und Naturmächte gänzlich entwaffnet hatte, führte er sie öffentlich zur Schau auf und triumphierte in ihm über sie.“

Gottes Sohn triumphiert über die böse Natur, indem er den Tod, das Gesetz der Natur, am Kreuz überwand. Das war die Erfüllung der urbiblischen Verheißung:

„Furcht und Schrecken vor euch sei über allen Tieren auf Erden und über allen Vögeln unter dem Himmel, über allem, was auf dem Erdboden wimmelt, und über allen Fischen im Meer; in eure Hände seien sie gegeben. Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise; wie das grüne Kraut habe ich’s euch alles gegeben.“

Dieser Text wurde zur Agenda der abendländischen Fortschrittsgeschichte, die in das Wort mündet: Siehe, das Alte ist vergangen, es ist alles neu geworden.

Das Alte ist die Vergangenheit, die untergehen und vergessen werden soll. Deshalb: nie nach hinten schauen, denn das wäre ein Blick auf die zerstörte Natur. Nach vorne soll geschaut werden in das Licht der erträumten Vollendung: eine neue Natur wird die alte in allen Dingen übertreffen. Das ist der Traum von Silicon Valley.

Die jungen Grünen, naturphilosophisch unbedarft, sprangen sofort auf das Motto listiger Theologen: Schöpfung bewahren. Und wollten nicht wahrhaben, dass der Schöpfer selbst sein Werk vernichten werde, um einen völlig neuen Versuch zu starten. Bis heute gilt für die Grünen: Kenntnis der Bibel und der Geschichte religiöser Naturzerstörung gleich null.

Deutschland ist zum Land der Ignoranten geworden. Je weniger sie informiert sind, je dreister wird ihr Ton.

„Ich sage aber: Solange der Erbe unmündig ist, ist zwischen ihm und einem Knecht kein Unterschied, obwohl er Herr ist über alle Güter; sondern er untersteht Vormündern und Verwaltern bis zu der Zeit, die der Vater bestimmt hat. So auch wir: Als wir unmündig waren, waren wir geknechtet unter die Naturmächte der Welt. Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, auf dass er die, die unter dem Gesetz waren, loskaufte.“

Den Menschen vom Bösen loszukaufen, heißt, ihn von den Mächten der Natur loskaufen, die vom Teufel beherrscht werden. Naturzerstörung gehört zur Erlösung des Menschen.

„Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.«

Naturbewunderung ist Blasphemie und geht auf Kosten der Gottesbewunderung. Eine schärfere Kriegserklärung an die Naturbewunderung der Heiden ist nicht vorstellbar. Wenn mittlerweilen die ersten Versuche unternommen werden, um Schulkindern und Städtern die Natur nahe zu bringen, zeigt das im schmerzlichen Kontrast, wie die Europäer seit mehr als 1000 Jahren das schändliche Gegenteil taten.

„Der Herr weiß die Frommen aus der Versuchung zu erretten, die Ungerechten aber aufzubewahren für den Tag des Gerichts, um sie zu strafen, am meisten aber die, die nach dem Fleisch leben in unreiner Begierde und die Macht des Herrn verachten. Frech und eigensinnig schrecken sie nicht davor zurück, himmlische Mächte zu lästern, wo doch nicht einmal die Engel, die größere Stärke und Macht haben, ein Urteil wegen Lästerung gegen sie vor den Herrn bringen. Aber sie sind wie unvernünftige Tiere, die von Natur dazu geboren sind, dass sie gefangen und getötet werden; sie lästern, wovon sie nichts verstehen, und wie jene werden sie getötet werden.“

Ungläubige werden traktiert wie Tiere, die zu nichts anderem geboren werden, als gefangen und getötet zu werden.

Völlig anders die Mentalität der Griechen.

Während biblische Texte den Menschen zur Krone der Schöpfung erklären, damit die Natur ihm dienen müsse wie ein Sklave seinem Herrn, womit ein Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis zwischen Mensch und Natur etabliert wurde und der Genesisbefehl „Macht euch die Erde untertan“ als Magna Charta der Technik bezeichnet werden konnte …  
… ist eine solche „Vergewaltigung und Technisierung“ dem antiken Denken völlig fremd. Sein Verhältnis zur Natur ist ein kontemplatives, kein instrumentell-technisches. Seine Naturphilosophie dient nicht der Herrschaft über den Kosmos, sondern der Bewunderung der Ordnung, Harmonie und Schönheit der Natur.

Sinn des naturwissenschaftlichen Studierens dient der Vervollkommnung des Menschen und seiner Einswerdung mit dem All. Naturerkennen als Betrachten des Kosmos dient der inneren Ordnung und dem Gleichklang mit der Natur.

In christlicher Herrensicht tritt an die Stelle der Kontemplation die Konstruktion, an die Stelle des Orientierungswissens das Verfügungswissen, an die Stelle der Spekulation die Produktion und Technik. Natur wird instrumentalisiert und degradiert zu einem bloßen Mittel zur Erfüllung menschlicher Zwecke, Wünsche und Interessen.

Das Bild von der Natur, wie es uns in der Heiligen Schrift entgegentritt, trägt vor allem feindliche Züge. Die Natur begegnet uns vor allem als Wüste, Öde, Wildnis, als unwirtliche feindselige Sphäre. Die ideale Natur war eine winzige Epoche am Beginn der Zeit. Mit Sündenfall und Vertreibung des Menschen aus dem Paradies gibt es keine vollkommene Natur mehr. Was ihm bleibt, ist das unfruchtbare, wilde und unbebaute Land, dem er im Schweiße seines Angesichtes die Mittel seines Überlebens abringen muss. (nach Karen Gloy, Das Verständnis der Natur)

Der Fortschritt der Technik wird seit 100en von Jahren mit der Arbeitserleichterung für den Menschen begründet. Inzwischen muss er körperlich fast nichts mehr leisten – und dennoch verspricht die Technik täglich neue Wunderwerke – die niemand mehr braucht. Fortschritt wurde zur Plage und zum Verhängnis.

Zwar muss der Mensch körperlich kaum noch arbeiten, dafür ist er zum Sklaven der endlos ratternden Kapitalismusmaschine geworden. Für freie Menschen war schwere Arbeit keine Fron, eine Unterordnung unter naturverschlingende Produktion und grenzenlosen Profit wäre hingegen unerträglich für sie gewesen.

Francis Bacon versprach den Christen, durch technische Macht den Sündenfall rückgängig zu machen und in vollendete Harmonie mit der Natur zu gelangen. Fortschritt würde den Menschen paradiesische Fülle durch Reichtum und Überleben bringen, nicht erst in der Endzeit, sondern hier und jetzt mit wissenschaftlichen Methoden. Die Technik sollte der Selbsterlösung der Menschheit dienen.

Doch schon im 11. Jahrhundert riss die Kluft auf zwischen Gott und Schöpfung. Gottes Allmacht könnte sich auch darin erweisen, dass er diese Welt zerstören und eine ganz andere erschaffen könnte. Erste Visionen göttlicher Technik als Superwaffen gegen heidnische Feinde (wie die Tataren) wurden von Roger Bacon halluziniert. Es ging um Strahlenwaffen mit biologischen Giften und Verseuchungsmitteln. Zukünftige Wunderwaffen würden in die Physis der Völker eingreifen und deren Willen nach Belieben lenken. (nach Friedrich Wagner, Die Wissenschaft und die gefährdete Welt)

Die Natur als gebärende und ernährende Mutter der Menschen war am Boden zerstört. Den letzten Akt dieser Vernichtungsorgie – sofern wir uns nicht radikal ändern – erleben wir heute.

„Als er aber am Morgen wieder in die Stadt ging, hungerte ihn. Und er sah einen Feigenbaum an dem Wege, ging hinzu und fand nichts daran als Blätter und sprach zu ihm: Nie mehr wachse Frucht auf dir in Ewigkeit! Und der Feigenbaum verdorrte sogleich. Und als das die Jünger sahen, verwunderten sie sich und sprachen: Wie ist der Feigenbaum so plötzlich verdorrt? Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr Glauben habt und nicht zweifelt, so werdet ihr solches nicht allein mit dem Feigenbaum tun, sondern, wenn ihr zu diesem Berge sagt: Heb dich und wirf dich ins Meer!, so wird’s geschehen.“

Natur, die den Bedürfnissen des Menschen nicht gehorcht, ist dem Tode verfallen. Die Natur wird unerbittlich versenkt, wenn sie nicht liefert, was der Mensch in unendlichen Bedürfnissen benötigt.

Natur ist keine Heimat mehr für den Menschen. Für immer bleibt sie ihm fremd und macht ihn zum Wanderer, der auf Erden keine Ruhe findet. Seinen Lieben wird er entfremdet und darf ihnen nicht geben, was er ihnen gern geben würde: Zeichen und Gesten der Wärme, des Dankes und der Liebe. Der Herr zerreißt alle Liebesbande der Menschen, um sie an seine Seite zu zwingen:

„Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann. Ein anderer aber, einer seiner Jünger, sagte zu ihm: Herr, lass mich zuerst weggehen und meinen Vater begraben. Jesus erwiderte: Folge mir nach; lass die Toten ihre Toten begraben!“

Fortsetzung folgt.